31/12/2014
31/12/2014

Traditioneller Glöcklerlauf in vielen Ortschaften des Salzkammerguts (OÖ). Glöckler sind Figuren aus den Rauhnachtsbräuchen. Es handelt sich um Schönperchten, gute Lichtgeister, die die bösen Rauhnachtsgeister endgültig vertreiben sollen. Der Glöcklerlauf findet alljährlich in der letzten Rauhnacht, also am 5. Januar statt.

©: Michaela Wambacher

Neujahrsrückblicke sind letzte Anstrengungen des Journalismus, den Lesern ein Bild des vergangenen Jahres zu liefern. Das Zufallsmuster der Ereignisse wird zur kollektiven Erinnerung (der Medien) und der individuellen (des Lesers), die einander wechselseitig Gültigkeit und Kohärenz sichern.

Der Kunstgriff besteht darin, über Sensationen, seien sie „gut“ oder „schlecht“, „die unsichtbare Tragödie“ vergessen zu machen. Ob es sich nun um Verzicht des alten und die Neuwahl des nächsten Papstes handelt, um Edward Snowdens Enthüllungen, den hellsten Vollmond in Griechenland, wo jeder Dritte unter der Armutsgrenze lebt, die NSA-Affäre oder Michael Hanekes Oskar, um die Geburt eines britischen Thronfolgers, den Tod von Hugo Chavez oder Margaret Thatcher, von Lou Reed oder Marcel Reich-Ranicki, den vermeidbaren Einsturz einer Fabrik in Dakar mit über 1000 Toten oder einen unvermeidbaren Taifun wie „Hayan“ auf den Philippinen und schließlich zu Jahresende, gewissermaßen als unverdienten Höhepunkt, die großen Koalitionen in Deutschland oder Österreich ... all das dient der Apotheose des Unvermeidlichen. Und im GAT spielt darüber hinaus auch die Architektur eine Rolle ...

Der geniale Karl Valentin hat sich einmal gewünscht, eine Eintagsfliege zu sein – dann hätte er nämlich sein Leben lang Geburtstag. Der Jahresrückblick einer solchen Fliege ist in seiner Begrenztheit allemal spannender als die alljährliche Feier des Besonderen; das Resümee einer Eintagsfliege besteht vermutlich aus atemberaubenderen Banalitäten und Zufällen ... eine hohe Latte für jeden Chronisten.

Und was bildet nun „die unsichtbare Tragödie“ dieser Eintagsfliege mit sehr begrenztem Verstand? Beispielsweise die Verhandlungen zu TAFTA (Transatlantic Free Trade Area), bei denen seit Februar 2013 in aller Heimlichkeit die MAI (Multilaterale Investitionsabkommen) erweitert werden. Im Kern geht es es darum, dass multinationale Unternehmen, sogenannte Global Player, Nationalstaaten wegen wettbewerbsschädigender, „nicht handelsbezogener“ Vorschriften auf Schadenersatz klagen dürfen. Dabei reden wir von Forderungen in Milliardenhöhe. Solche Klagen können gegen Beschränkungen der Biotechnologie (Monsanto), der Förderung alternativer Energien, der Regulierungen bei der Nahrungs- und Arzneimittelproduktion oder jener der Finanzindustrie erhoben werden. Dagegen zu protestieren, wäre kein schlechter Vorsatz für 2014.

Aber was, um Himmels Willen, hat das mit Architektur zu tun? Mit unserer politischen Architektur ohne Zweifel. Denn mit der Gleichstellung von Unternehmen und Staaten wird nicht nur staatliche Souveränität ausgehöhlt. Durch die derzeit praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verhandlungen wird der mögliche Unwille des Souveräns (des Volkes) umgangen. Und die geplanten Verfahren darf man sich als demokratiegeschädigtes Unternehmen auf der Zunge zergehen lassen: Entschieden wird in Schiedsgerichten (Tribunalen), die auch in Steueroasen tagen können und aus drei Juristen des privatwirtschaftlichen Sektors bestehen. (Es gibt keinen besseren Gärtner als den Bock). Gegen die Entscheidungen des geheim geführten Verfahrens besteht kein Rechtsmittel ... Umgekehrt ist es in schöner Symmetrie unmöglich, auf globaler Ebene bei einem Gericht gegen transnationale Konzerne zu klagen, die Menschenrechte und Arbeitsnormen verletzen, die die Umwelt zerstören, die unsere Gesundheit gefährden, Steuern vermeiden oder Regierungen bestechen.

Bezeichnend, dass auch der einzige Film zur laufenden Tragödie  praktisch unsichtbar blieb. „The Counselor", ein sogenannter Drogenfilm,  war ein Flop trotz des Meisterregisseurs Ridley Scott, trotz des Drehbuches von Cormac McCarthy („No Country for Old Man“), trotz seines Staraufgebotes mit Javier Bardem, Penelope Cruz, Brad Pitt, Cameron Diaz und Michael Fassbender. Der Film war praktisch nirgends zu sehen, ich musste mit der Linie 5 nach Liebenau, wo sie ihn noch um 22 Uhr 40 vor einer Handvoll Eintagsfliegen zeigten ... und jetzt nicht einmal mehr das.

„The Counselor“ lässt sich sehr gut als Metapher für die oben erwähnten Verhandlungen lesen. Da wie dort geht es um ungeheure Gewinne, die mit undurchschaubaren Deals erzielt werden („Geht`s der Wirtschaft gut, geht`s uns allen gut“) und da wie dort geht dieses Stillen der Gier mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schief. Über die Strafe – die Schuld steht sowieso fest – entscheiden unsichtbare Bosse in geheimen Gerichten, und natürlich gibt es gegen diese Urteile kein Rechtsmittel. Und die Schrecken dieser Strafen, vor denen die Mitttäter als Experten von Anfang an warnen, treten mit der Unaufhaltsamkeit einer Self-fulfilling Prophecy ein. 

Der Flop von „The Counselor“ lässt sich nicht nur durch die hoch literarischen Passagen erklären, die Cormac McCarthy ein bisschen dick serviert. Auch nicht durch ein Publikum, das sich um die befreiende Gewalt lustvoller Aktionen betrogen sieht. Der Film ist unheimlich wegen seiner Aktualität, die sich nicht zur Besänftigung (etwa wie ein Jahresrückblick) instrumentalisieren lässt. Scotts Film zeigt die tragödienresistente Gegenwart als eine von allen Göttern und guten Geistern gesäuberte, große Tragödie. Sich dieser Tragödie wenigstens im Kino zu stellen, kann der Filmkritiker als guten Vorsatz für 2014 absolut empfehlen.

Der fabelhafte Hedonismus von „The Counselor“ hat zwar beinah metaphysische Qualität, aber der Blick auf die Leinwand öffnet sich nicht wie jener durch das große Rund vor dem Grazer Hauptbahnhof.
Womöglich geht das alles am Thema vorbei, der Europaplatz wurde bereits im November 2012 eröffnet, wenn auch die Bauarbeiten noch bis 2015 andauern. Vielleicht ist die Bauausführung schundig, z.B. findet sich auf dem Platz zwischen der Bahnhofshalle und dem Bahnhofsgürtel kein Elektro-, kein Wasseranschluss, nichts. Vielleicht hat dieser gigantische Ring von „Zechner und Zechner“ nur deshalb diese erhebende – ja, erhebende! – Wirkung, weil zuvor das Hotel Europa mit seinem quasi kommunistischen Billigprunk und das Hotel Ibis mit seiner verspiegelten, pseudomodernen  Schrägfassade so besonders öd waren. Man muss auch die Supermärkte und Fitnessclub architektonisch nicht verteidigen. Aber dieser frei schwebende, irgendwie sinnlose  Ring, unter dem Pendler und Reisende gleich Eintagsfliegen ihre unsichtbaren Spuren ziehen, evoziert gleichzeitig Freiheit und Urbanität. Vielleicht ist es die Wahlmöglichkeit zwischen dem Ausgesetztsein unter einem nach oben endlosen Himmel oder der Geborgenheit durch den Ring, die so besonders beeindruckt. Gleich daneben stehen die sorgfältig verpflanzten „Uhrzeiger“, das Mahnmal an den Februar 1934 von Gerhard Moswitzer – noch ein bedeutender Künstler, der 2013 verstorben ist. Es spricht also einiges dafür, gleichsam als Neujahrsvorsatz, sich den Europaplatz anzusehen. Über die ÖBB und ihre Wahnsinnsrenovierungen wird dann das nächste Mal geschimpft.

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