24/01/2020

Kollektive Räume

Mit dem Projekt Graz Kulturjahr 2020 startet die steirische Landeshauptstadt eine einzigartige Initiative: 2020 steht ganz Graz im Zeichen der Urbanen Zukunft – unter dem Motto Wie wir leben wollen – und wird zum Zentrum einer umfassenden Beschäftigung mit den virulenten Fragestellungen unserer Zeit und zur Zukunft unserer Städte.
Realisiert werden 94 Projekte aus Kunst und Wissenschaft zu den Themen Umwelt und Klima, Digitale Lebenswelten, Urbanismus und Stadtplanung, Soziales Miteinander und Arbeit von Morgen.

Essay von Bettina Landl

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24/01/2020

The Graz Vigil', eine Kooperation von La Strada mit der belgisch-australischen Choreografin Joanne Leigthon, am Schloßberg. Architektur: Tovo&Jamil mit Alexander Krischner. Alle Grafiken von Bettina Landl.

©: Bettina Landl

Meeting mit dem Projektteam des Grazer Kunstvereins anlässlich des Projekts 'Der Grazer Kunstverein zieht um!'

©: Bettina Landl

Graz Kulturjahr 2020 fordert zur Mitarbeit auf.

©: Bettina Landl

Elektroakustische Montage von Adina Camhy, Peter Venus und Bettina Landl anlässlich des 'Cyborg Radiation Day' am 17. Jänner 2020 im esc medien kunst labor, Foto: Reni Hofmüller

©: Bettina Landl

Club Hybrid' plant einen offenen Demonstrativbau in der Stadt und ist aktuell auf Standortsuche.

©: Bettina Landl

Der Raum, in dem wir leben und der uns anzieht, so dass wir aus uns selbst heraustreten; der Raum, in dem die eigentliche Erosion unseres Lebens, unserer Zeit und unserer Geschichte stattfindet, ist heterogen. Wir leben nicht in einer Leere, die wir mit Menschen und Dingen füllen könnten; vielmehr innerhalb einer Menge von Relationen, die Orte definieren. Michel Foucault teilte diesen Raum in zwei Kategorien (Utopie vs. Heterotopie) und benannte den Spiegel als deren Metapher:
„Im Spiegel sehe ich mich dort, wo ich nicht bin, in einem irrealen Raum, der virtuell hinter der Oberfläche des Spiegels liegt. Ich bin, wo ich nicht bin, gleichsam ein Schatten, der mich erst sichtbar für mich selbst macht und der es mir erlaubt, mich dort zu betrachten, wo ich gar nicht bin: die Utopie des Spiegels. Aber zugleich handelt es sich um eine Heterotopie insofern der Spiegel wirklich existiert und gewissermaßen eine Rückwirkung auf den Ort ausübt, an dem ich mich befinde. Durch den Spiegel entdecke ich, dass ich nicht an dem Ort bin, an dem ich bin, da ich mich dort drüben sehe. Durch diesen Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und sehe mich nun wieder dort, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann.“ (1)

Statt die Kunst vom Leben zu isolieren und die Utopie von der Politik, gilt es seit geraumer Zeit beide in den Raum des hier und jetzt Möglichen, nämlich in eine kommunikative Praxis zu überführen, die sich als unmittelbar intersubjektiv der Standardisierung und Kommodifizierung sozialer Beziehungen entgegenstellt. (2) Statt die direkte Erfahrung sozialer Verbundenheit dadurch zu verhindern, dass sie Repräsentationen des Sozialen an dessen Stelle treten lässt, soll die Kunstwelt vielmehr selbst einen Raum für „soziale Experimente“ bereitstellen, die die „Uniformität“ der üblichen „Verhaltensmuster“ sprengt. Kunst soll keine ganz andere Welt mehr vorstellen, sondern praktisch dazu beitragen, die gegebene Welt „auf bessere Weise zu bewohnen“. (3)

Mittlerweile leisten sich Städte jeder Größe immer wieder umfangreiche Projekte, die nicht nur als wichtige Aspekte urbaner Kultur und Stadtentwicklung angepriesen werden. Denn im Wettbewerb der Städte sind solche Veranstaltungen auch zu einem Mittel der Imagewerbung geworden und somit zu einem entscheidenden Faktor der Standortförderung. Dabei legt sich der Verdacht nahe, dass wir es mit einer grundsätzlich neuen Konstellation von Kultur und Arbeit zu tun haben, in deren Licht der Partizipationsimperativ in der Kunst ebenso wie die Flüchtigkeit und Unbestimmtheit des von ihm produzierten Sozialen zugleich als Effekt wie Modell jenes neuen Anforderungsprofils erscheint. Für die heutigen, aktiven KonsumentInnen, die Zwangsvernetzten, die dauernd aktiv präsent sind, beurteilen, einstufen, antworten und als networkende Soft-Skills-VirtuosInnen in der heutigen Freizeit-, Service- und Kulturarbeitswelt einem Terror der surrogat-demokratischen Partizipation ausgesetzt sind, scheint Partizipation als das neue Spektakel zu gelten. (3)

WIE WIR LEBEN WOLLEN
Zum Mitleben und Miterleben lädt auch „eine einzigartige Initiative in Graz, die der großen Bedeutung von Kunst, Kultur und Wissenschaft für eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung Rechnung tragen möchte“ und am Ende mittels kulturpolitischem Diskurs das Denken und Handeln der BürgerInnen erreicht haben und in welcher Form auch immer in den Köpfen und Herzen verhaftet wissen will. Am 23. Jänner startete die Stadt in ihr Kulturjahr 2020. Dieses steht im Zeichen der Urbanen Zukunft und soll damit zum Zentrum einer umfassenden Beschäftigung mit den virulenten Fragestellungen unserer Zeit und zur Zukunft unserer Städte werden. Zur Realisierung von 94 Projekten aus Kunst und Wissenschaft, die allesamt das Motto 'Wie wir leben wollen' verhandeln (sollen), werden von der Stadt 5 Millionen Euro Fördergeld investiert. Zu den Themen Umwelt und Klima, Digitale Lebenswelten, Urbanismus und Stadtplanung, Soziales Miteinander und Arbeit von Morgen finden im Laufe eines Jahres in allen 17 Stadtbezirken Veranstaltungen, Installationen, künstlerische Interventionen, Ausstellungen, Performances und Symposien statt.
Den Anfang machte bereits am 1. Jänner das Projekt The Graz Vigil, eine Kooperation von La Strada mit der belgisch-australischen Choreografin Joanne Leigthon. Prominent am Schloßberg installiert (Architektur von Tovo&Jamil mit Alexander Krischner), sind Interessierte für je eine Stunde zu Sonnenauf- und Sonnenuntergang eingeladen, einen konzentrierten Blick auf die Stadt zu werfen.
Am Eröffnungswochenende werden auch Projekte wie Urban Cyborgs, das Spezialprogramm des esc medien kunst labor eingeleitet, das sich ausführlich mit digitalen Technologien und deren Einfluss auf unser tägliches Leben beschäftigt und einen reflektierenden Umgang mit Maschinen und Systemen fördern und neue Ideen für deren Entwicklung und Einsatz schaffen möchte. Dabei stehen mögliche Zukunftszenarien und Auswirkungen der digitalen Technologien auf die Formen und Räume unseres (Zusammen-)Lebens im Fokus.
Die Stadt & Das Gute Leben thematisiert (auch) das Forschungsprojekt der Camera Austria, das gleichzeitig Ausstellung, Intervention und Kommunikationsforum ist, Vernetzungen und Repräsentationsoberflächen bildet, sich für Architektur, Kunst und Bildung interessiert, Ausstellungsräume in Stadträume verwandelt und umgekehrt. Als Versammlungsort und temporäres Archiv möchte das Projekt unter anderem Impulse für eine verstärkte Debatte über bestehende Antagonismen im Stadtraum liefern.
Der Grazer Kunstverein erkundet hingegen in Kooperation mit dem schottisch-dänischen Künstler Edward Clydesdale Thomson in einer Machbarkeitsstudie neue Orte für einen spekulativen Umzug der Kulturinstitution. Die temporären Veranstaltungen und Kunstprojekte von über 20 KünstlerInnen finden im Laufe des Jahres an verschiedenen „Test-Orten“ in ganz Graz statt. Ein „Depot“ im Grazer Kunstverein dient als Treffpunkt, Informations- und Dokumentationszentrum, Arbeitsraum und als Basis für das Kaleidoskop an Entdeckungsreisen durch die Stadt. Mitmachen ausdrücklich erwünscht!

Ein besonders spannender Werkprozess ist von Club Hybrid zu erwarten, möchte dieser doch einen offenen Demonstrativbau errichten, der im Sommer ein Ort des Experimentierens, des Aus- und Darstellens und des Diskurses sein soll. Die Vorbereitungen dazu sind in vollem Gange. Während einer 100-tägigen Spielzeit hinterfragt der Club als eine aktive Intervention die bestehenden Verhältnisse der gegenwärtigen Planungspolitik und erforscht bzw. diskutiert Möglichkeiten, wie die derzeitigen Beschränkungen des Raumes gedehnt und uminterpretiert werden können – eine urbane und angewandte Praxis des (schönen) Lebens und Produzierens. Auch hier heißt es: Aktiv werden!

KULTUR! ENTWICKLUNG! STADT!
Die Initiatoren Bürgermeister Siegfried Nagl und Kulturstadtrat Günter Riegler benennen KULTUR! ENTWICKLUNG! STADT! als ihren dreifachen Schlüssel zum Jahr 2020 in Graz: „Wir gestalten unseren Lebensraum, machen ihn fruchtbar für neue, auch ungewöhnlich erscheinende Ideen. Graz hat sich seit der Jahrtausendwende zu einem dynamischen Wissens- und Wirtschaftszentrum entwickelt. Die Impulse aus dem Kulturhauptstadtjahr 2003 haben wesentlich dazu beigetragen. Nun gilt es, die der Kultur inhärenten Stadtentwicklungspotenziale neu zu kalibrieren. Was hier gedacht, getan und sichtbar wird, strahlt weit über die Stadtgrenzen hinaus. „Wie wir leben wollen“ ist das Motto des Kulturjahres. Kunst und Kultur durchdringen alle Bereiche der Gesellschaft. Sie sind Indikatoren für die Lebensqualität einer Stadt, wichtiger Faktor in der Identitätsfindung von BürgerInnen und sie helfen uns, unbequeme, aber ebenso wichtige Fragen der Zukunft zu beantworten.

Dass derlei Überlegungen und (An-)Forderungen nicht nur an Kunst- und KulturarbeiterInnen alle vor mitunter große Herausforderungen stellt, ist garantiert. Denn dabei geht es oft um eine soziale und vorwiegend kollektive Involvierung einzelner BetrachterInnen. Laut Hubertus Butin überschneidet sich eine solche künstlerische Praxis mit ihren Partizipationsangeboten deutlich mit dem ökonomischen Bereich von Dienstleistungen. Die KünstlerInnen suggerieren eine konkrete Relevanz durch vordergründig greifbare Nutzungsmöglichkeiten, die jedoch (ausschließlich) innerhalb vorgegebener Grenzen erlebt werden. Dabei gelangen die Arbeiten über die bloße Simulation sozialer Realitäten kaum hinaus. Zu bedenken ist, dass diese Art von spektakelhafter Funktionalität nicht von den Bedürfnissen derjenigen ausgeht, die diese ‚Dienstleistungen‘ in Anspruch nehmen könnten, sondern letztendlich nur von den Interessen der Kunst- und Kulturschaffenden, die sich mit ihren Arbeiten um einen direkten gesellschaftlichen Bezug bemühen. Wirkungsvoller ist daher jene Kunstpraxis, die sich als so genanntes community-orientiertes Angebot aktiver Partizipation und als Anstoß zu kommunikativen Prozessen versteht. Der Ort künstlerischer Intervention wird hier vorrangig in seiner „sozialen Bedeutung“ wahrgenommen. KünstlerInnen erarbeiten und präsentieren modellhafte oder konkrete Lösungsansätze in einer kollektiven oder zumindest interaktiven Form.
Aber Vorsicht: Wenn ein Element eines Kunstwerks im Zusammenhang anderer Elemente strukturiert wird, droht die Struktur in jedem Moment verloren zu gehen. Fehlt ein gewisses Moment bleibender Struktur, dann blitzen nur einzelne sinnliche Eindrücke auf. Dabei kommt letztlich kein Verstehen zustande. Ästhetische Erfahrungen bedürfen einer Struktur, die auch außerhalb von Kunstwerken Bestand hat. Erst eine solche Struktur bringt die Konstanz mit sich, die die Basis für ästhetische Strukturierungen darstellt. Diese Struktur ist unsere Sprache. Auch wenn eine Vielzahl von ästhetischen Erfahrungen ganz und gar sprachlos bleiben, hängen sie doch alle mit Sprache zusammen. Die Sprache stellt ein Medium der Artikulation ästhetischer Strukturen bereit. Sie sorgt dafür, dass im Rahmen der ästhetischen Erfahrungen die Elemente nicht sogleich wieder aus dem Blick geraten. Es besteht also eine Unerlässlichkeit der Interpretation und der Diskussion und dieser möchten auch wir uns im Laufe des Kulturjahres eingehend widmen, um uns in Analogie zu Foucaults Spiegelmetapher darin zu erkennen. (5)

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(1) Vgl. Michel Foucault, Von anderen Räumen, 1967
(2) Vgl. Diedrich Diederichsen, Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, 2008
(3) Vgl. Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, 2002
(4) Vgl. Christian Meyer u. Mathias Poledna (Hg.), Sharawadgi, 1999
(5) Vgl. Georg W. Bertram, Kunst – Eine philosophische Einführung, 2005

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