19/04/2023

In der Zusammenfassung des Buches Brutalismus in Österreich 1960 – 1980. Eine Architekturtopografie der Spätmoderne in 9 Perspektiven beschreibt Wenzel Mraček, was ihm aufgefallen ist und was ihm fehlt.

19/04/2023
©: Böhlau Verlag Wien

Im eingangs wiedergegebenen Gespräch mit den Architekturtheoretikern Oliver Elser und Nott Caviezel wird der britische Architekturhistoriker Reyner Banham genannt, der angesichts der Hunstanton School (Norfolk GB) von Alison und Peter Smithson 1955 den Begriff „New Brutalismus“ einführte und dafür drei Kriterien nannte, nämlich die Einprägsamkeit des Bildes, die zur Schau gestellte Struktur und die Verwendung (Wertschätzung) „vorgefundener“, möglichst unbearbeiteter Materialien. Dass sich damit dennoch ein weites Feld der Zuordnung eines brutalistischen Bauwerks eröffnet, zeigt die Auswahl an Beispielen, die in Brutalismus in Österreich 1960 – 1980 – Eine Architekturtopografie der Spätmoderne in 9 Perspektiven behandelt werden.

Abgesehen von Strukturansichtigkeit und dem dominierenden Sichtbeton stehen durchwegs Entwurfsqualitäten und diverse Konstellationen, die zur Umsetzung der Bauten führten, im Fokus der neun Essays, die von markanten Objekten in den Bundesländern und ihren Architekten (keine Architektinnen) handeln. Insofern eine internationale Tendenz, die in ihren österreichischen Ausformungen durchaus mit politischen – und kirchenpolitischen – Umständen verbunden ist, wie vor allem die Beispiele Tirols, der Steiermark und des Burgenlandes zeigen. Im Prolog des von Johann Gallis und Albert Kirchengast herausgegebenen Bandes greift Oliver Elser hinsichtlich der Begriffsgenese freilich weiter zurück auf Le Corbusier, der den „herben Sichtbeton“ der Unité d’Habitation (1947 – 1952) „béton brut“ nannte. In seinem Essay dagegen erweitert Anselm Wagner die Spezifika um eine „steirische Besonderheit“, indem er das Forschungs- und Rechnungszentrum der VOEST-Alpine AG in Leoben (Domenig, Huth 1969 – 1973) als „Stahl-Brutalismus“ bezeichnet.

Elmar Kossel und Klaus Tragbar legen den Fokus in ihrem Beitrag über Tirol auf den Kirchenbau im „heiligen Land“ (Architekten Josef Lackner, Norbert Heltschl) und zitieren Maria Welzig (2002) in Bezug auf Sakralbauten, dass nämlich „der wichtigste Bauherr für diese junge Architektengeneration […] die katholische Kirche – in den 60er-Jahren in Österreich einsamer Vorreiter hinsichtlich Architektur- und Bauherrenkultur“ gewesen sei. Quasi bestätigt wird diese Ansicht in den Aufsätzen von Sonja Pisarik (über Wien, darin „der Kirchenbauboom“), Gallis‘ und Kirchengasts Darstellung der Situation im Burgenland mit der Osterkirche in Oberwart (Domenig, Huth 1966 – 1969), wenn nicht mit Anselm Wagners Sicht auf die Steiermark und den Bau des Mehrzwecksaals der Schulschwestern in Graz-Eggenberg. Die „klassische Phase“ des Brutalismus, hält Wagner hier fest, „kommt aus der Schweiz“. Auf der Suche nach einem „neuen plastischen Ausdruck in der Architektur“ entdeckten nämlich Eilfried Huth und Günther Domenig den Bildhauer-Architekten Walter Förderer.

Indem eine zwar umfassende Auswahl brutalistischer Bauten in Österreich über jeweilige Artikel zu den Bundesländern beschrieben ist, fällt es doch schwer, eine zeitliche Entwicklung der einzelnen Objekte zu erfassen. Eine dem Band beigegebene Zeittafel hätte Vergleiche erleichtert. Im Abschnitt über Kärnten (von Lukas Vejnik), fällt zum Beispiel auf, dass Adolf Buchers Freibad Paternion schon 1959 errichtet wurde. Im Land der Bäder arbeitete Bucher außerdem für Wolfsberg und Bad Kleinkirchheim in Sichtbeton. Die Schweizer Inspiration für Domenig und Huth, das erschließt sich aus dem Vergleich der Essays zu Kärnten und der Steiermark, folgte also mit der Auslobung des Ideenwettbewerbs um die Pädagogische Akademie der Diözese Graz 1963, während die Realisierung zwischen 1965 und 1969 erfolgte. Dem Kulturzentrum in Mattersburg (Burgenland) von Herwig Udo Graf dagegen liegt ein „kulturpolitisches Experiment“ zugrunde, da man sich 1971 am Typus des angloamerikanischen Community-Centers orientierte. Gebaut wurde schließlich zwischen 1973 und 1976. In Eigeninitiative entwickelte die Werkgruppe Graz für die Terassenhaussiedlung 1965/66 ein Vorprojekt am Ort einer ehemaligen Lehmgrube in St. Peter. Finanziert wurde aus dem Wiederaufbaufonds und als Bauträger wurde die Wiener Gemeinnützige Wohnbauvereinigung gewonnen, bis zwischen 1972 und 1974 gebaut wurde.
Ausführlich widmet sich Sabine Weigl dem Kongresszentrum in Bad Gastein, der „brutalistischen Ikone“ von Gerhard Garstenauer. Infolge eines mit Bürgermeister Anton Kerschbaumer formulierten Tourismuskonzepts kam es zur Errichtung eines elfgeschossigen Parkhauses (ab 1966), des Felsenbades (1967 – 1968) und schließlich der Fertigstellung des Kongresszentrums 1974.

Johann Gallis und Albert Kirchengast: Brutalismus in Österreich 1960 – 1980. Eine Architekturtopografie der Spätmoderne in 9 Perspektiven. Wien, Böhlau Verlag, 2022. 277 Seiten, ISBN 978-3-205-21334-5. EURO 47,--
Maße (BxHxT): 17 x 24 x 2,4 cm

Gewicht: 0,723 kg

Stadtwanderer

.... und noch etwas zum Artikel: Was hat der Link über Mitbestimmung im Wohnbau am Beispiel der Eschensiedlung mit der Buchrezension Brutalismus in Österreich zu tun? Verflacht Gat jetzt auch? Bei euch steigen ja nicht die Papier- und Stromkosten wie bei den Printmedien ...

Do. 20/04/2023 10:57 Permalink
Stadtwanderer

Die freie Interpretation wird sowohl in diesem Buch wie im Artikel ausgebreitet, man könnte meinen, wissenschaftsfrei losgelassen wie einzelnen Autoren der Schnabel gewachsen ist. Die bekannte Kunsthistorikerin Maria Welzig wird zu Weltzig, Garstenauer zu Gerstenbauer und der Schweizer Walter Förderer, der seine Bauten (v.a. Kirchen) in Sichtbeton sehrwohl als Architekt in seinem Architekturbüro entwickelte, wird zum Bildhauer-Architekten. Das ist zumindest unpräzise, denn es evoziert eine Verwandtschaft mit Fritz Wotruba und seiner Kirche am Georgenberg in Wien-Mauer und der hat seinen Entwurf im Sinn höchster geistiger Freitheit (seiner) konzipiert und sicher nicht als Anhänger des gebauten Beton brut.
Wissenschaftlich fahrlässig freie Interpretation auch durchwegs vom Kunsthistoriker Anselm Wagner, der Architekten und Architekturen in der Steiermark dem Brutalismus zuordnet, die nun wirklich nichts damit zu tun haben. Der lebenslang dem Sozialen und dem einfachen Gemeinwohl verpflichtete Ferdinand Schuster ist der Höhepunkt dieser Fehlinterpretation. Nur weil er auch in Sichtbeton gebaut hat? Absurd wie anderes, das in der Steiermark dem Brutalismus zugeordnet wird. Will hier jemand Geschichte neu schreiben? Scheint so, auch wenn man die aktuelle Ausstellung im Grazer Haus der Architektur besucht, in der die "Grazer Schule" peinlich unwissenschaftlich am Beispiel von neun Objekten abgebildet werden soll. Auch wenn hier Studentenarbeiten der TU Graz präsentiert werden, fragt man sich, wie diese zustande kamen. Völlig frei ohne wissenschaftlichliche Recherchepflicht? Der "Pferdefuß" steht in dieser Ausstellung nicht nur, in Beton nachgebildet als Ausstellungsobjekt da (als Säulenbasis an der Biochemie von Szyskowitz u. Kowalski) er ist in dieser Ausstellung und überhaupt Synonym für alle unehrenhaften Versuche, die steirische Architekturgeschichte neu zu interpretieren. Was soll das?

Do. 20/04/2023 10:46 Permalink
Anselm Wagner

Antwort auf von Stadtwanderer

Sehr geehrte(r) Herr oder Frau Stadtwanderer,
Walter Förderer wurde von mir deshalb als "Bildhauer-Architekt" bezeichnet, weil er sowohl studierter (und praktizierender) Bildhauer als auch praktizierender Architekt war. Was daran "unpräzise" sein oder gar eine Assoziation mit Fritz Wotruba herstellen soll, der ja bekanntlich "nur" Bildhauer und kein Architekt war, verstehe ich nicht. Außerdem werfen Sie mir vor, ich würde in meinem Beitrag über den Brutalismus in der Steiermark diesem Bauten und Architekten zuordnen, "die nun wirklich mit diesem nichts zu tun haben" und nennen als Beispiel Ferdinand Schuster, der "lebenslang dem Sozialen und dem einfachen Gemeinwohl verpflichtet" gewesen sei. Wieso das ein Widerspruch sein soll, erklären Sie nicht. Wie in meinen Beitrag, in anderen Beiträgen im Buch und der übrigen aktuellen Forschung zum Brutalismus klar hervorgeht, sind Soziales und Gemeinwohl wichtige (wenn nicht sogar die wichtigsten) Inhalte, die von brutalistischen Architekten adressiert worden sind. Die übrigen Gründe, warum es sinnvoll ist, Schuster in die lokale Geschichte des Brutalismus einzubeziehen, habe ich in meinem Beitrag dargelegt und werden von Ihnen auch nicht widerlegt. Sie machen sich auch nicht die Mühe, die angebliche Absurdität anderer Zuordnungen zum Brutalismus zu benennen, geschweige denn zu argumentieren. Unsachliche Polemik, wie von Ihnen unter dem Deckmantel der Anonymität vorgebracht, sollte Argumente nicht ersetzen.
Mit freundlichen Grüßen,
Anselm Wagner

Di. 25/04/2023 20:22 Permalink
Stadtwanderer

Antwort auf von Anselm Wagner

Sehr geehrter Herr Professor,
ist meine Argumentation so schwer zu verstehen? Walter Förderer war Architekt und Bildhauer, ja. Aber seine Bauten, um die es in ihrem Buchbeitrag geht, hat er als Architekt geplant. Walter Pichler war auch gelernter Architekt, bevor er sich ganz der Bildhauerei und dem Zeichnen verschrieb (und hat sogar entworfen, z.B. einen Fauteuil). Würden Sie Walter Pichler auch als Bildhauer-Architekt bezeichnen, wenn Sie über seine bildhauerische Arbeit schreiben? Wohl nicht. Und ja, Bildhauer-Architekt wird bei uns, in Wien zumindest, unmittelbar mit dem Bildhauer Wotruba assoziiert, der als Bildhauer eine Kirche geplant hat.
Pardon, wenn ich mit detaillierter argumentiert habe in meiner Behauptung, dass ihre Einordnung von ferdinand Schuster in den Brutalismus ein wissenschaftlicher Fehltritt ist. In meiner Begriffsbestimmung des Brutalismus, ist er bestimmt durch Bauten, oft in beton brut, die durch eine auffallende Form und Konstruktion aus der Masse des Gebauten herausstechen wollten, was in Aserbeidschan genauso galt wie in Mazedonien, Südamerika oder Indien. Glauben Sie, dass der Ausstellungstitel SOS Brutalism - rettet die ...... des DAM die Bezeichnung "Betonmonster" willkürlich und zufällig gewählt hat? Würden Sie Ferdinand Schusters Bauten damit bezeichen wollen? Können Sie als Wissenschaftler Schusters Kirche in Kapfenberg-Schirmitzbühel oder gar die in der Grazer Eisteichsiedlung, industrieller Stahlbau, wirklich guten Gewissens in einen Topf werfen mit z.B. Domenigs Kirche in Oberwart oder der sog. Autobahnkirche von Michelucci in Italien. Sie sehen, ich habe mir meinen Begriff von Brutalismus nicht selbst aus den eigenen Fingern gesogen. Sie stimmt aber weitgehend mit allen Definitionen oder Annäherungen an eine Definition des Brutalismus, die ich aus Büchern und Ausstellungen kenne, überein. Unsachliche Polemik lasse ich mir von Ihnen nicht unterstellen, ich kann auch weiter ausholen und argumentieren gegen Ihre These, ungern zwar, weil anzunehmen ist, dass selbst stichhaltiges Argumentieren nichts ändern würde. Ich wollte zum selbstkritischen Nachdenken anregen, aber es ist mir klar, dass kritische Anmerkungen nicht einmal oder gerade nicht unter Kollegen erwünscht sind. Was das DAM unter Brutalismus subsumiert, kann man ja auf https://www.sosbrutalism.org/ nachblättern. Schuster ist dort, zurecht, nicht dabei.

Fr. 28/04/2023 18:15 Permalink
Anselm Wagner

Antwort auf von Stadtwanderer

Sehr geehrte(r) Herr oder Frau Stadtwanderer,
dass man bei Ihnen in Wien (?) den Begriff „Bildhauer-Architekt“ sofort mit Wotruba assoziiert, mag sein, im Rest der Welt ist das jedenfalls nicht so und das Argument, ich habe Wotruba mit Förderer gleichgesetzt, steht damit nur auf Ihren persönlichen Assoziationsbeinen.
Was Ferdinand Schuster betrifft, haben Sie offenbar meinen Text nicht gelesen, sondern nur die Bilder durchgeblättert, sonst wären Sie nämlich nicht auf die Idee gekommen, ich würde Schuster mit Michelucci in einen Topf werfen. Ich wiederhole deshalb die wesentlichen Passagen zu Schuster, in denen ich sein Verhältnis zum Brutalismus dargelegt habe: „Die Schlüsselfigur für den steirischen Proto-Brutalismus, der vor allem den Kirchenbau betrifft, ist Ferdinand Schuster (1920–1972), der für die steirische Architektur eine ähnliche Rolle spielt wie Alison und Peter Smithson für Großbritannien. Ausgehend von der reduzierten Formensprache Mies van der Rohes, die er ohne den in den 1950er-Jahren verbreiteten Hang zum Dekorativen weiterentwickelt, verbindet Schuster einen hohen ethischen und sozialen Anspruch mit einer lakonischen, elementaren Behandlung von Raum, Material und Struktur. […] Sein Werk bietet sowohl Anknüpfungspunkte zum ‚New Brutalism‘ der Smithsons als auch – wenngleich in geringerem Maße – zum ‚béton brut‘ Le Corbusiers. Für Letzteres liefert der kleine Glockenturm aus Sichtbeton am Mahnmal des Friedhofs Kapfenberg-St. Martin (1954–1955) das früheste Beispiel, dessen Schalungsstruktur als Ausdrucksträger dient. Beim kreuzförmigen Zentralbau der Pfarrkirche Kapfenberg-Walfersham (1957–1962) […] realisiert Schuster erstmals einen Sichtbeton-Skelettbau, dessen nördliche und südliche Außenwände zwar komplett mit Betonschalsteinen und farbigen Glasfenstern ausgefacht sind, die aber mehr als Struktur denn als Muster wirken und die lapidare Schlichtheit der Gesamterscheinung unterstreichen. Freilich, mit dem späteren Brutalismus als einem ‚style of mass, weight, roughness, and solidity‘ hat dieses noch in der Tradition der Klassischen Moderne stehende Gebäude mit seinen als dünne Haut interpretierten Wänden noch nichts zu tun.“ (S. 158)
Mit freundlichen Grüßen
Anselm Wagner

Mo. 08/05/2023 14:44 Permalink
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