09/04/2018
09/04/2018

An Herrn Bürgermeister Mag. Siegfried Nagl
Hauptplatz 1, 8010 Graz

An Herrn Bürgermeister Dr. Michael Häupl
Lichtenfelsgasse 2, Stiege 5, 1.Stock, 1010 Wien

05. April 2018

OFFENER BRIEF,  7.Teil: Urbanisierung und Demokratie

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Nagl,
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Häupl!

In den bisher verfassten „Offenen Briefen“ habe ich Sie als Bürgermeister von Graz persönlich zu akuten Herausforderungen bei Projekten der Urbanisierung von Graz angesprochen. (Widmungsgewinne - Feinstaub und Verkehr - Bodenverbrauch - Soziale Segregation - Entwicklungskonzepte - Bürgerrechte) Von Stadtgestalt und Umweltfragen ausgehend betreffen aktuelle Projekte zur Nutzung des öffentlichen Raums, der ressourcenschonenden technischen Maßnahmen und der sozialen Integration nicht nur Graz, sondern jede andere europäische Großstadt und deshalb ist dieser „Offene Brief“ auch an den Bürgermeister der Stadt Wien adressiert.
Dieser Diskurs hat immer mehr zu den grundsätzlichen Fragen einer demokratischen Stadtentwicklung geführt, die die politischen Entscheidungsträger durch den ökonomischen Druck zunehmend herausfordert.

Der Stadtnutzer oder die Partizipation an der Stadt
Der Nutzer einer Stadt kann geschäftig seinen Erledigungen nachgehen oder als „Flaneur“ den öffentlichen Raum in Anspruch nehmen. „Die Straße wird zur Wohnung, er ist zwischen den Hausfronten so wie der Bürger in seinen vier Wänden zuhause“. Er möchte in der Erwartung seiner ziellosen Freiheit ohne Einschränkung umherwandern. Ein gesperrter Straßenzug, privat vereinnahmte Plätze oder die Kontrolle der Obrigkeit trüben sein Vergnügen. Er schätzt die Zerstreuungen der Stadt und die Möglichkeit, als anonymer Beobachter an der urbanen Vielfalt teilzunehmen. Indem er zu Fuß geht, ist er als Person aber zugleich Akteur des öffentlichen Lebens.
Heute bestimmt die überwältigende Macht der internationalen Finanzwirtschaft wesentlich die Transformation unserer Städte. Es gelingt den hoheitlichen Verwaltungen nicht mehr, den demokratischen Anspruch auf den öffentlichen Raum zu verteidigen. Besonders die in ihrer Ausdehnung vorherrschenden Vorstädte (Suburbia) sind zu einem beliebigen Spielfeld privater Interessen verkommen. Die Sehnsucht der Stadtnutzer nach öffentlicher Gemeinsamkeit bleibt aber bestehen.
Die Methoden einer formalistischen, antiquierten „Stadtplanung“ sind zu oft gescheitert und deshalb in Verruf geraten. Erst das Recht der BürgerInnen zur Einbeziehung bei Entscheidungen, die die gesamte Stadt betreffen, hat eine neue Chance eröffnet und wird von ihren Nutzern auch vermehrt eingefordert. Die hoheitlichen Verwaltungen und die Vertreter der Immobilienwirtschaft müssen durch transparente, ernsthaft betriebene Information diese Partizipation akzeptieren, weil Vorgaben ohne die Akzeptanz der BürgerInnen für die Immobilienwirtschaft eine unangenehme Unsicherheit und ein nicht mehr beherrschbares Risiko darstellen. Nur verbindliche Leitlinien, die gleichermaßen für Alle gelten, werden auch von den Akteuren der Immobilienwirtschaft akzeptiert.

Der öffentliche Raum als Ort der Demokratie
Die europäische Stadt ist eng mit der Entwicklung der Demokratie („Agora“) verbunden. Oft auch gegen die Macht diktatorischer Regimes hat die Stadt ihren Bewohnern Widerstand ermöglicht und nicht zuletzt deshalb war die physische Zerstörung von Städten ein drastisches Mittel der Obrigkeit, diesen zu beseitigen. Die Demolierung des mittelalterlichen Paris durch Baron Haussmann (für geradlinige Straßenzüge, um Demonstrationen der Bürger zu kontrollieren) und der Abriss der Altstadt von Marseille als Rückzugsort der Resistance seien hier angeführt.
In unserem demokratischen Selbstverständnis ist der öffentliche Raum für alle offen, der Stadtnutzer kann ihn jederzeit für sich in Anspruch nehmen. Vergehen gegen diese Rechte berühren oft demokratische Grundrechte, trotzdem sind diese urbanen Rechtsnormen bis heute vorwiegend im „Baurecht“ und „Raumordnungsrecht“ geregelt und Rechtsbrüche werden „nur“ zivilrechtlich sanktioniert. Immer öfter führen urbanistische Rechtsvergehen zu Konflikten mit den ökonomischen Interessen der Wirtschaft und müssen von den Stadtnutzern über die in den Verfassungen verankerten demokratischen Grundrechte eingefordert werden.

Private Investoren und die Verfügungsgewalt über den öffentlichen Raum
Die Wirtschaft Europas ist heute durch die ökonomische Potenz der höchst intransparenten Finanzsysteme geprägt. Über Anleihekäufe der europäischen Zentralbank sind von 2015 bis 2017 Monat für Monat 60 Milliarden € an die nationalen Banken geflossen, um die Inflation zu regeln. Diese Finanzmittel sind mit einem erheblichen Anteil in die Immobilienwirtschaft Europas geflossen, rein ökonomisch betrachtet sollten daher die besten Voraussetzungen für eine innovative Urbanisierung vorliegen. Für die globale Finanz- und Investorenwirtschaft ist jedes urbane Investment gleichwertig, was zu einer kaum wahrgenommenen Vereinnahmung ganzer Stadtquartiere geführt hat.
„Improvement districts“ der privaten Immobilieninvestoren für „Business“ oder „Housing“ sind Geschäftsmodelle geworden, die unter der Prämisse der Rendite Stadtentwicklung betreiben. Dazu kommt, dass die hoheitlichen Verwaltungen in der Kooperation mit Investoren (PPP-Modelle) gute Chancen sehen, ihre Budgets über die Auslagerung von hoheitlichen Leistungen zu entlasten. Es wäre einfältig, den privaten Investmentmarkt nicht für die urbane Entwicklung zu nutzen – es ist aber verantwortungslos, den privaten Interessen über eine deregulierte Urbanisierung freie Hand zu lassen.

Die europäische Herausforderung
Die Tourismuswirtschaft lebt heute von urbanen Qualitäten vergangener Zeiten. Die baukünstlerische Substanz europäischer Städte war ein „Investment“, das mit seiner kulturellen Akzeptanz das effizienteste Modell für „Nachhaltigkeit“ darstellt, in der aktuellen Urbanisierung werden kulturelle Investitionen aber der ökonomischen Prämisse des alltäglichen Wirtschaftlebens untergeordnet. Ein höherer kultureller Einsatz bei der Urbanisierung wäre eine Aufgabe der Politik, sonst bleiben wir billige Profiteure vergangener Leistungen.
Der Standort eines Investments wird in der europäischen Stadt meistens unterschätzt, weil entsprechende Vorgaben unverbindlich sind und bei jedem konkreten urbanen Investment neu verhandelt werden. Es ist dringend notwendig, die Aktivitäten des Immobilienmarktes mit der Wahl des Standorts eines Investments in Übereinstimmung zu bringen. Die beauftragten, operativ tätigen „Developer“ ignorieren die Besonderheiten der europäischen Städte, obwohl diese wegen ihrer demokratischen Prägung anders zu betrachten sind als Agglomerationen anderer Weltgegenden. Entscheidungen, die das Erscheinungsbild der gesamten Stadt betreffen, sind besonders in der vorindustriellen urbanen Substanz unter Partizipation der BürgerInnen zu treffen, weil hier kollektive urbane Identität fest in der Befindlichkeit der Stadtbewohner verankert ist. Zusätzlich ist ein urbanes Investment nach seiner Verträglichkeit mit dem motorisierten individuellen Massenverkehr (MIV) zu betrachten. Die Teilbereiche der Stadt, die vor der Industrialisierung und MIV entstanden sind, sind defensiver zu behandeln als die bereits durch die Massenmotorisierung geprägten Stadtgebiete.
Die Folgen einer undifferenzierten Betrachtung sind als demokratiepolitische Katastrophen in Wien und Graz aktuell zu beobachten. Bei der Hochhausdiskussion in Wien („Heumarkt“ und Welterbestatus) und Verkehrsbauten in Graz (Tiefgaragenprojekte am „Karmeliterplatz - Pfauengarten“ und am „Eisernen Tor“) sind die Stadtnutzer missachtet worden, die fortdauernde öffentliche Diskussion und der zunehmende Einfluss der Populisten ist der Beweis für dieses Unbehagen.

Das politische Programm für eine Urbanisierung
Die politischen Entscheidungsträger können die Urbanisierung nur nach demokratischen Regeln und der Achtung des Gemeinwohls fortsetzen, ansonsten sind unsere Städte von Umweltkatastrophen, sozialer Segregation, unabsehbaren ökonomische Belastungen für die öffentlichen Infrastrukturen und dystopischen Folgen für den Bestand unserer Demokratie bedroht.
Die „innerstädtischen Gebiete“ sind im Wiener STEK (Stadtentwicklungskonzept) auch als „konsolidierte Stadt“ definiert und umfassen die historische Altstadt und die Gründerzeitviertel. Mit dem „Respekt und der Zurückhaltung gegenüber der Qualität des Bisherigen“ sind hier Adaptionen an den individuellen Massenverkehr allein schon wegen des Flächenbedarfs sinnlos. Regulative Vorgaben einer Urbanisierung sollten vor allem die Funktionsmischung mit einem Verzicht auf Dichteerhöhung und die Erhaltung der geschlossenen Straßenräume mit der Erneuerung der Erdgeschoßzonen umfassen.
Die großflächigen Gebiete der „Suburbanisierung“ umfassen mit enormen Ausdehnungen an Infrastruktur und Bauflächen die im Zuge der Massenmotorisierung entstandenen Stadtgebiete. In einer großmaßstäblichen Transformation auf menschliche Bedürfnisse sind regulative Leitbilder an den öffentlichen Raum im Kontext mit der Reduktion des MIV mit zeitgemäßen Ansprüchen an den Individualverkehr zu verbinden. Vorgaben der Urbanisierung sollten eine Funktionsmischung mit der Erhöhung der Bebauungsdichte, die Erhöhung des Fußgeher- und Fahrradanteils und des ÖPNV und die Förderung von geschlossenen Straßenräumen und Erdgeschoßzonen sein.
Die urbane Entwicklung unserer Städte wird in der politischen Diskussion nur am Rand wahrgenommen, birgt aber das höchste Potenzial an Veränderung unser Umwelt und Demokratie. Es ist in Wien und auch in Graz höchst an der Zeit, einen fachlichen und zugleich politischen Diskurs zu den genannten Fragen der Stadtentwicklung zu eröffnen und diesen nicht den Populisten zu überlassen.

Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Steinegger

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