21/11/2017

GAT veröffentlicht in der Kolumne Privatissimum vom Grilj jeden dritten Dienstag im Monat Texte zum Nachdenken.

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

21/11/2017
©: Mathias Grilj

Raumhöhe, Scham und Bitte

Wie pünktlich die Verzweiflung ist!
(Christine Lavant)

Oj, wie nemmt men z´rick die Johrn,
jene schejne Zajt?
Oj, das schejne junge Lejbn
is fon uns so wajt...
(Jiddisch)

Jetzt, da wieder der Große Weihnachtsputz ansteht, damit jedes tote Winkelchen der Wohnung strahle, überkommt mich keine adventliche Heiterkeit, sondern das Schämen. Früher – ach, früher! – habe natürlich ich auf Knien die Parkettböden mit „Bison“ eingerieben, Tonnen von Zeitschriften zu den Altpapiertonnen geschleppt, den drei Klavierbeinen bis in jedes geschnitzte Fältchen mit „Opti“ geschmeichelt und alle zwölf Doppelfenster geputzt. Bei einer Raumhöhe von 4,50m ziemlich viel Fläche. Aber für mich kein Problem. Früher – ach, früher, man hatte kein Geld und fühlte sich reich – war ich ja nicht nur Pflastermaler, Speditionsarbeiter, Hendlbrater, Prospektverteiler, sondern auch Fensterputzer gewesen. Als damals, im vorigen Jahrtausend, bei Simmering-Graz-Pauker die Scheiben der Fabrikshallen so phänomenal geglitzert haben... nur wenn Sie fragen sollten: ja, das war ich.

Dann aber, bei einem Großen Osterputz, habe ich meinen Tod erlebt. Ich bin samt Leiter abgerutscht und habe dabei einen Blumentopf umgeworfen, der auf meinem Schädel gelandet und zerborsten ist. Als ich aus der sekundenkurzen Bewusstlosigkeit erwachte, war der erste Gedanke: Aha, so geht das, wenn man tot ist. Man riecht nasse Erde.
Seither habe ich Akrophobie, Höhenangst. Manchmal ist das lästig, meist aber beschämend: Sind die verstaubten Oberlichten fällig, traue ich mich nicht auf die Leiter. Das muss dann wer anderer machen. Dabei wäre es meine Pflicht.

Auf einer Spitalsterrasse kam ich einmal mit einem Dachdecker ins Rauchen und Reden. Er weiß, was Absturz ist. „Ich zähl dir lieber auf, was ich mir nicht gebrochen hab, das geht schneller.“ Was er sich nicht gebrochen und zerrissen hat, war im Wesentlichen: das Leben. Sonst so ziemlich alles.
„Und hast jetzt Höhenangst?“
Er blickt mich erstaunt an und sagt: „Warum?“

Es wird noch schlimmer: Seit die Kinder außer Haus sind, will meine Frau all diese Großputzerei partout selbst übernehmen. Sie weigert sich strikt, eine Reinigungsfirma zu engagieren. Sie duldet nicht, dass „irgendwelche Leute in meiner Wohnung herumfummeln und in mein Schlafzimmer kommen.“ Das hatte zur Folge, dass es sie beim jüngsten Großen Osterputz auch erwischt hat, im April. Komplizierter Fersenbeinbruch, an dem sie noch immer laboriert. Und mich führt das in den nächsten Kreis der Scham und könnte folgendermaßen skizziert werden:

Das Alter kommt schneller, als man glaubt. Eigentlich kommt es über Nacht; wahrscheinlich, weil man all die Anzeichen, wie sie so nach und nach ins Schicksal tröpfeln, ignoriert hat. Aber dann ist es da und lässt sich weder ignorieren noch verscheuchen. Gestern noch jung, heute ein Greis. Der Unterschied zu früher ist: Früher haben sich körperliche Miseren nach ein paar Tagen von selber wieder verzogen, jetzt bleiben sie, werden schlimmer und ziehen weitere nach sich.

Das fällt mir halt auf, nachdem jene Frau, die in meinem Herzen auf Dauermiete wohnt, sich ein Bein zerborsten hat und ich ihr ganztags nützlich sein will. Früher – ach, früher! – habe ich sie wie ein Gaudibursch herumgewirbelt und beim Wandern auf die Schultern gehoben. Auf meine Kraft war Verlass. Jetzt würde ich bei so einem Liebesbeweis zusammenbrechen wie ein alter Esel, der mit drei Beinen in der Tierkörperverwertung steht. Selten habe ich mich so erbärmlich gefühlt. Wie soll man leben mit dem Eingeständnis, dass man kein kraftstrotzender Gaudibursch mehr ist?

Immerhin erlebe ich als alter Esel, dass man marode Menschen auch mit guten Worten durch den Alltag tragen kann, wie auf Händen. Die Worte und das Gespür dafür muss man freilich schon beizeiten, in den Jahren voller Saft und Kraft, gelernt und geübt haben. Deswegen habe ich das alles hier aufgeschrieben.

Und wenn ich mir zu Adventbeginn ein Weihnachtswunder wünschen dürfte: Bitte so etwas wie Selbstreinigung der Fensterscheiben in den Oberlichten.

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