21/01/2014

Privatissimum vom Grilj
Jeden 3. Dienstag im Monat

Zur Person:
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

21/01/2014
©: Mathias Grilj

Andrä Kunst: Gottes Tiergarten ist groß und noch lange nicht fertig

Die Kunst ist kein Spiegel,
den man der Welt vorhält,
sondern der Hammer,
mit dem man sie gestaltet.
(Karl Marx)

In meines Vaters Haus
sind viele Wohnungen.
(Joh, 14, 2)

In (...) Piemont ließ man
"Martermessen" lesen in
 der Absicht, damit einem
Lebenden zu schaden.
(Guido Ceronetti)

Jetzt ist sie da, die Dokumentation: 26 auf 21 cm groß, 1, 60 kg schwer, 344 Seiten dick, von Hermann Glettler herausgegeben: „Andrä Kunst“, erschienen im Verlag der Provinz. Das war ein feines Weihnachtsgeschenk für mich.

Versetzt mich in Kunstkritiken etwas in heiligen Zorn, dann die Floskel: etwas „regt zum Denken“ an. Doch jetzt muss ich beim Blättern und Schnüffeln und Lesen in diesem sorgsam gestalteten und gut gemachten Wälzer gestehen: Glettler tut – zumal mit mir – ausgerechnet dies. Er löst regelrechte Lawinen von Fragen und Assoziationen aus. Und Lust auf Debatten.

Die Vorgeschichte ist bekannt: 1999 begann sich Hermann Glettler, katholischer Pfarrer und selbst Künstler, in der Kirche aus dem 17. Jahrhundert, gelegen am rechten Murufer, im Bezirk von Armut und Elendigkeit, auf Kunst einzulassen. Auf solche von heute. In ihrer ganzen selbstauferlegten oder erlittenen Fragwürdigkeit, Haltlosigkeit und Frechheit. Das ergab und ergibt dann Performances, Installationen, Objekte, Eingriffe, bleibende Umgestaltungen, innen wie außen, das ergab Zeichen und Bedeutungen und Andeutungen, die man halt einordnen kann, wie man es gelernt hat. Oder wie man hofft, es doch gelernt zu haben.

Die einzelnen Werke und Aktionen und Termine sind bekannt und wurden längst detailliert besprochen, nun sind sie chronologisch fein geordnet in diesem dicken Band versammelt und müssen von mir nicht im Einzelnen kritisiert werden. Dieses Tun Glettlers und der vielen Künstler, denen er seither mit Beharrlichkeit und Mut die Treue hält, provozierte – auch als einer, der in der Nachbarschaft wohnt, bekam ich das en passant mit – mindestens Dreierlei:

Gleich als erstes eine Episode, deren zufälliger Zeuge ich bei einer Performance wurde, beim „steirischen herbst“. Ich stand vor einem der Apostelkreuze neben einem bekennenden Atheisten und Architekten, der da grimmig knurrte: „Seit Jahrzehnten mache ich mich lustig über die Pfaffen und ihr Getue. Und jetzt sehe ich, dass die sich selber noch viel lächerlicher machen können.“ Er fühlte sich um einen Sieg betrogen.

Als Zweites: Die bewährten Kirchgänger, darunter treue Seelen der Gemeinde, die sich still und beharrlich auch der Jugendarbeit, fern der Sternsingerei, sowie der liebevollen Kümmerei um die Alten angenommen hatten, waren vor den Kopf gestoßen und vom erneuerten Ambiente befremdet, mehr noch: behelligt und vertrieben. Sie fühlten sich in ihrem Gotteshaus nicht mehr zuhause und zogen dann unauffällig nach Mariahilf hinüber. Dort gibt es Pietro de Pomis anstatt Otto Zitko, Ersteren haben sie irgendwie lieber. Im Ungewohnten ja nicht leicht heimisch werden. Da könnte man ja gleich ins Dschungel-Camp von RTL. Wer ihnen das zum Vorwurf machen mag, der werfe den ersten Stein. In Mariahilf sind außerdem rumänische Franziskaner, die haben was Archaisches und Vorkonzilianisches. Ich glaube, sie glauben an Dracula. Aber sie fürchten ihn nicht.

Drittens wurde die Andräkirche nach und nach in dieser Stadt zu einer Kunstadresse. Dies ist nicht nur Glettlers Beharrlichkeit geschuldet, sondern seiner ganzen Persönlichkeit: Er ist ein Pfarrer, dem man glaubt. Dem auch die angesprochenen Künstler vertrauen, die alles andere als – verzeihen Sie bitte den Ausdruck – Kerzenschlecker sind. Es sind gute Namen dabei, und die Adressen, wo die schon ausgestellt haben, können sich überall sehen lassen.

Dass Glettlers Dienst an der Kunst zugleich seine Art von – ja, genau das! – Gottesdienst wird, irritiert sie offenbar nicht, ist für sie schlüssig und offensichtlich kein Problem. Irgendwo sind die deftigsten Grobiane unter ihnen auch Mystiker, auch wenn sie an nichts anderes glauben als ans Ich. Das Ich ist ja ein Pseudonym der Fragilität. Zudem sehen sie, wenn sie ihn besuchen, was der Glettler im Bezirk noch so treibt. Wie er in der sogenannten Sozialarbeit werkt, auch in der Andrä-Schule neben der Pfarre, wo im September unter den Erstklasslern ein einziges Kind mit deutscher Muttersprache angemeldet wurde, wie er Kranke besucht, wie er seine „schwarzen Messen“ zelebriert – wörtlich Gottesdienste für all die Afrikaner aus Gries und Lend, die bei ihm Heimat finden, wie er auf Leute zugeht, wie er das hinkriegt zwischen Alteingesessenen und Neuen, nämlich beim „miteinander reden“ –  heute heißt so etwas Mediation.
Klingt das alles ziemlich übertrieben gutmenschig? Dann kommt es wohl hin.

Und jetzt beim Tippen auf einmal die jazzige Lust, im Appendix – also im Blinddarm – mit etwas Fragerei dahinzusaxophonieren:

- Religion und Kunst sind seit jeher eine symbiotische Einheit, in jeder Kultur, das weiß jeder. Wie sehr unterscheidet sich nun der gespiegelte Altar Gustav Trogers von den Altären der Azteken? Und jenem, wo Abraham den Sohn abmurksen wollte? Alles Anthropologie?
- die Scheu, sich ein Bildnis zu machen, steckt voller Demut und Wissen um das eigene Nichts. Nein, das Eigene hat Verantwortung, es ist das Wissen um das wenige Eigene. Einige Stämme in Sibirien wollen Bergen keine Namen geben. Das hieße, sie in Besitz zu nehmen. Die Berge gehören den Göttern. Wie sehr ist so ein Gedanke daneben – und wie sehr mittendrin?
- Es ist nicht bekannt, dass die Zeitgenossen barocker Kirchenbauten an ihren Bauten etwas  auszusetzen gehabt hätten. Dass die „zu modern“ gewesen wären. Fragen Sie einmal nach, was die frommen Sklavennachkommen in Brasilia von Oscar Niemeyers Kathedrale halten?
- Von welchen Attributen welcher Heiligen wissen Sie noch? Wie lesen wir die Bilder der Heiligen aus unserer Tradition? Welches hat Katharina von Alexandrien, die Schutzheilige der Denker, die bei einem Symposion drei Dutzend Philosophen in Verlegenheit gebracht hat?
- In der Kirche wird besonders deutlich, wie sehr die Kunst abhängig ist vom Ort, wo sie ist . Und von seiner Geschichte und Lesart, von Funktion und all dem, was man nur ahnen kann oder sich einbildet zu spüren – dem genius loci. Der genius loci eines Bordells in der Grazer Kärntnerstraße ist anders als jener des Hieronymusklosters in Belem. Und deren Ähnlichkeit, bedingt durch das menschliche Tun, ist zugleich so ähnlich.
- Was macht einen Raum zu einem sakralen Raum? Wann ist er heilig? Was muss dort sein oder vielmehr: gewesen sein?
- Warum sind im Wort „sacer“ so viele Widersprüche?
- Museen sind, den Kirchen nicht unähnlich, sakrale Institutionen. Jajaja, Vergelt´s Gott! Derart tote Hunde der Definition hätte sich nicht einmal Duchamp aufs Jausenbrot gelegt...
- Jene frommen Gewohnheitstiere, die heute sakrale Stätten meiden, weil sie ihnen keine Heimat sind, gehen schüchtern beiseite, sie sind ja keine Savonarolas mit Schaum vor dem Mund und Blut im Blick. Sie werden vor Fernsehapparaten landen und irgendwann gefunden werden, tot, weil die Fernsehgebühren seit einem Jahr nicht bezahlt worden sind.
- Gedanke, ob man „zum Ansprechen neuer Publikumsschichten“ klerikalerseits eventuell Events inszenieren sollte: Dass Femen-Frauen in Andrä vorbeischauten? Oder Conchita Wurst. Ach, das alles hat die Kirchengeschichte auch schon erledigt: Der Hl. Franz machte 1207auf dem Domplatz von Assisi  eine Performance, als er sich nackert auszog. Und einmal sorgte Gott in seiner undurchschaubaren Weisheit für Wirbel in Sachen Gender: Er ließ der Hl. Wilgefortis flugs einen Vollbart wachsen.
- Jajaja, stimmt. Jedes Bordell in der Kärntnerstraße, dessen saftige Miete einem Rechtsanwalt zufließt, hat mehr Relevanz als all mein Fragen und Deuten. Oder?

P.S.: Während jetzt auf „Senden“ gedrückt wird, fällt mir Etliches ein, das hier nicht abgehandelt wurde, nicht einmal annähernd. Ihnen auch? Das ist wohl jene interplanetare Balance zwischen Schwarm-Intelligenz und Schwarm-Ratlosigkeit und Schwarm-Neugier und Schwarm-Ahnung und Schwarm-Versäumnis und ...

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