07/05/2012
07/05/2012

Univ.-Prof. Hans Schnitzer: Die Stadtviertel der Zukunft sollen wieder eigenständige Zentren haben sowie lokal und emissionsfrei die Bedürfnisse der Bürger abdecken.

©: Josef Schiffer

„Smart City Project Graz-Mitte“: Das Modell zeigt die geplante Anordnung von gemischten Wohn- und Gewerbeobjekten (re.) sowie Sozial- und Bildungseinrichtungen (li.) rund um die Helmut-List-Halle. Im linken oberen Bereich ist der markante Turm des geplanten Auftriebswerkes zu erkennen. Planung: Architekt DI Markus Pernthaler. Foto: Josef Schiffer

Als Leiter des Projektes Stadtlabor hatte Univ.-Prof. Hans Schnitzer auch die wissenschaftliche Leitung der Tagung "Smart City Days 2012" auf der TU Graz inne. Foto: Anita Schnitzer

Univ.-Prof. Schnitzer wirbt mit einem Elektro-Roller (Leihgabe der Energie Steiermark) für die urbane E-Mobility der Zukunft. Foto: Anita Schnitzer

Als Mitte April 2012 in Graz die „Smart Cities Days“ an der Technischen Universität Graz stattfanden (GAT berichtete), konnten die Veranstalter zeitgleich den Startschuss zu einem österreichweit einzigartigen Leitprojekt auf städtebaulichem Gebiet verkünden. Im zukunftsweisenden „Smart City Project Graz-Mitte“ hat sich unter Federführung der Stadt Graz ein Konsortium von 14 Partnern zusammengetan, um bis 2016 auf dem Areal rund um die Helmut-List-Halle inmitten ehemaliger Industriereviere einen energieautarken, modernen Stadtteil en miniature zu schaffen. Mit bis zu 4,2 Mio Euro Förderung vonseiten des Bundes aus dem Klima- und Energiefonds soll hier ein integriertes Wohn- und Gewerbeviertel mit Nullemissionen in die Realität umgesetzt werden. GAT sprach mit Univ.-Prof. Hans Schnitzer vom Institut für Prozess- und Partikeltechnik der TU Graz über das ambitionierte Projekt, stellvertretend für die zahlreichen ExpertInnen, die an der Entwicklung innovativer Technologien mitarbeiten.

GAT: Vor welchem Hintergrund hat sich die Vision Graz-Mitte entwickelt?

H. Schnitzer: In dem schon mehrere Jahre laufenden Vorprojekt – österreichweit gab es davon rund 20 – „I live Graz“ haben wir Vision, Leitlinien und Roadmaps für die „Smart City Graz“ erarbeitet. Das langfristige Ziel dieser Roadmap, die nach einer Zwischenstation 2020 die weitere Entwicklung bis zum Jahr 2050 abstecken soll, lautet: Graz soll in allen Belangen lebenswerter und außerdem möglichst bald klimaneutral werden.
Die gewaltige Herausforderung der Zukunft besteht darin, dass wir trotz verstärktem Bevölkerungszuzugs, vor allem aus den strukturschwächeren Regionen, etwa der Obersteiermark, die CO2-Emissionen massiv senken wollen bzw. müssen. Zum Verwirklichen dieser Vision wurden in einem ersten Schritt in verschiedenen Städten Österreichs Demonstrationsprojekte von internationalem Charakter entwickelt: im Fall von Graz ist dies das Areal rund um die Helmut-List-Halle, das nun zu einem ersten Nukleus für den Stadtteil Graz-Mitte werden soll, in dem in weiterer Folge bis zu 20.000 Wohneinheiten nebst Gewerbe- und Dienstleistungsunternehmen mit zahlreichen Arbeitsplätzen entstehen sollen.

GAT: Welche Rolle hat die Mitarbeit der TU Graz für das Gesamtprojekt?

Insgesamt sind fünf Institute der TU Graz beteiligt. Mittels sieben Arbeitsgruppen haben wir in der Vorbereitungsphase alle für die Projektierung relevanten Bereiche abgedeckt, u.a. die Themen Mobilität, Energie, öffentlicher Verkehr, Entsorgung, Architektur sowie in übergreifender Hinsicht Stadtteilplanung mit allen ihren ökonomischen und ökologischen Aspekten.
Was meinen eigenen Bereich betrifft: bahnbrechende neue Energietechnologien entstehen aus der laufenden Zusammenarbeit von WissenschaftlerInnen unserer TU-Institute mit Forschungs- und Entwicklungsprojekten der weststeirischen Firma FIBAG (Forschungszentrum für integrales Bauwesen AG), die u.a. für die Solarfassaden der künftigen Wohn- und Gewerbeobjekte für das Demo-Projekt rund um die Helmut-List-Halle verantwortlich zeichnet.

GAT: Worin besteht das Revolutionäre dieser neuen Technologien?

Die FIBAG kooperiert dabei seit einigen Jahren mit dem Schweizer Michael Grätzel, dem Erfinder der revolutionär preiswerten Farbstoff-Photovoltaik-Zelle. Die von dem führenden Experten der Solarenergie entwickelte Alternative zur herkömmlichen Solarzellentechnologie auf Siliziumbasis ermöglicht die Umwandlung von Licht in elektrischen Strom und das völlig ohne den Einsatz von Silizium. Die sogenannte Grätzel-Zelle (Dye Solar Cell) basiert vereinfacht gesprochen auf dem Prozess einer künstlichen Fotosynthese. Da wir hier erst am Anfang einer neuen Technologie stehen, sind Schätzungen von rund 50 % Einsparung gegenüber konventionellen Silizium-Technologien mehr als realistisch. Noch dazu sind diese Fassaden flexibel gestaltbar, weil das Licht von beiden Seiten kommend genutzt werden kann. In Niederspannung kann der Strom unmittelbar für einzelne Nutzungskategorien (Licht, Computer- und IT-Infrastruktur) verlustfrei ohne Transformation zugeführt werden. Die Grätzel-Zelle wird daher für die nähere Zukunft ohne Zweifel eine der zentralen Energielösungen im Gebäudebereich insgesamt darstellen.

Das Demo-Projekt rund um die List-Halle dient dabei vor allem der längerfristigen Erprobung von laborgetesteten Fassadenelementen in der Praxis am konkreten Objekt, wo über einen größeren Zeitraum hinweg wertvolle Daten zu Haltbarkeit und Effizienz sowie auch zu den Einflüssen auf Wohn- bzw. Arbeitsraumqualität unter „echten“ Nutzerbedingungen gewonnen werden können.

GAT: Welche Größenordnungen wird das Demonstrations-Projekt Graz-Mitte umfassen?

Die gesamte Investitionssumme für das Demo-Projekt beträgt rund 25 Mio Euro. Mit den nun zugesagten Fördergeldern von bis zu 4,2 Mio Euro wird ausschließlich die Forschung und Entwicklung neuer Technologien unterstützt und nicht das Errichten bzw. die Dämmung der in Passivhausbauweise auszuführenden Gebäude. Die Helmut-List-Halle wird ebenfalls energetisch auf diesen neuesten Standard modernisiert und soll auch künftig als Veranstaltungszentrum und Herzstück des Demo-Stadtteils dienen. Südlich davon sollen Schulen sowie Kinder- und Altenbetreuungseinrichtungen entstehen. Für den Bereich nördlich der Helmut-List-Halle wird eine Reihe von 4- bis 5-stöckigen Gebäuden für gemischte Nutzung (im Endausbau sind bis zu 200 Wohneinheiten vorgesehen) errichtet.

Die Erdgeschoßflächen sind ausnahmslos der gewerblichen Nutzung vorbehalten, was ein großes Angebot von Arbeitsplätzen in lokalen Unternehmen, z.B. auch Forschungseinrichtungen, ermöglicht. Ein breites Spektrum von Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten soll ebenfalls vor Ort entstehen; das trägt dazu bei, unnötige Wege mit Kraftfahrzeugen zu vermeiden. Das grundlegende Konzept der gemischten Anlage besteht darin, dass alle alltäglichen Bedürfnisse fußläufig bewältigt werden können. Der Trend besteht auch in der Rückbesinnung auf eigenständige, hoch integrierte Stadtteile mit richtigen Zentren statt gesichtsloser, planlos wuchernder Vorstädte, die leider auch in Graz traurige Realität sind. Zum lebenswerten Ambiente gehört die Integration von Geschäften in die Parterreflächen der Wohnobjekte statt wie noch immer üblich, Platz verschwendende Supermärkte auf die letzten Grünflächen zu platzieren und sie mit Asphaltwüsten riesiger Parkplätze zu flankieren.

GAT: Wie sollen Verkehrslösungen und Energienutzung für das neue Viertel aussehen?

Die Anbindung an den öffentlichen Verkehr hat für nachhaltige Projekte wie diesem erste Priorität: eine Verlängerung der Straßenbahnlinien 3 und 6 ist ohne großen Aufwand zu bewerkstelligen. In weiterer Folge können entlang der S-Bahn (Graz–Köflach-Strecke) weitere Haltestellen (auch für die späteren Erweiterungen von Graz Mitte auf die Reininghausgründe) eingerichtet werden. Die individuelle Fortbewegung, so sie nicht per pedes oder mit dem Fahrrad erfolgt, soll im Demoprojekt von Anfang an ganz unter dem Zeichen der E-Mobility stehen. Ein Pool an elektrischen Fahrzeugen erlaubt den AnwohnerInnen den Zugriff auf Carsharing in einem gesonderten Bereich, der mit E-Anschlüssen ausgestattet ist.
Von der energetischen Versorgung her ist es unser Anliegen, den Niedrigtemperatur-Rücklauf der Fernwärme als Hauptquelle zu nutzen, da für Wohnanlagen im Passivhausstandard keine hohen Anschlusswerte benötigt werden. Des Weiteren ist ergänzend dazu die Einbindung von lokaler Prozesswärme in Kombination mit Solarenergie in den Energiekreislauf geplant (z.B. Marienhütte, Linde Gas).

Das markante optische Wahrzeichen des neuen Stadtteils „in progress“ wird das hoch aufragende Auftriebswerk (Windvulkan) sein, das tagsüber Sonnenenergie als Wärme speichert, die in der Nacht in einen steten Luftstrom umgewandelt wird, der eine Turbine antreibt. Die Idee hinter dieser Kombination verschiedener nachhaltiger Energieformen ist es natürlich, dass die Demo-Anlage als Ganzes CO2-neutral funktionieren soll, – es ist jedoch durchaus möglich, dass in der Anfangsphase eine Beteiligung an einer Biogasanlage oder dergleichen erforderlich ist, um einen vollständigen Ausgleich der Energiebilanz zu erzielen.

GAT: Wir danken für das Gespräch!

Peter Laukhardt

Mich würde interessieren, wie sich die Grazer Verkehrsplanung konkret zu der von Prof. Schnitzer angesprochenen Verlängerung der Tramlinien 3 bzw. 6 stellt. Dieselbe Verländerung ist nämlich auch für Reininghaus im Gespräch (StR Rüsch in der "Krone", 16. Mai, S. 16).
Aber ich bin wohl noch immer zu naiv: Verkehrsplanung in Graz - ein Widerspruch in sich! Sonst hätte man ja vor wenigen Jahren die Endstation der Linien 3 und 6 nicht mitten in ein Heimgarten-Gelände (Laudongasse) gesetzt, sondern die Tram - wie auch damals vorgeschlagen - mit gleichem Aufwand weiter in den Norden geführt - in das Bauerwartungsland, z.B. bis zur List-Halle. Aber ja, es fällt mir wieder ein: die Stadt hatte im ersten Entwurf zum 4.0 STEK dort ja noch Gewerbegebiet ausgewiesen, der * (Stadtteil-Zentrum) ist ja erst in der 2. Fassung des Entwicklungsplanes aufgetaucht. So ist leider bei uns die Planung immer erst dann am Zug, wenn die Entwickler bereits ans Werk gehen.

Do. 17/05/2012 12:43 Permalink

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