06/11/2005

Die Reichen Gassen

von Norbert Prettenthaler

06/11/2005

Die Reichen Gassen
von Norbert Prettenthaler

Morgens stand der Nebel in der Auslage, die noch nicht deutlich geworden. Ob es türkische, chinesische oder uigurische Vorfahren gewesen waren, die dem Griesshop eine Saz in die Auslage stellten, bleibt zweifelhaft.
Jenes Klangbild eröffnet den Raum gegen Westen, die Rösselmühlgasse stadtauswärts. Aus der Kebabbude treibt ein HipHop-Verschnitt einen billigen Beat weiter, ein rascher CD-Wechsel, selbst ein neuartiger Nena-Remix bleibt dem Besucher nicht erspart.

Wohin war jene Saz weiter remixed und wieder verschwunden? In Gedanken war ich in jener Bar, im Palais Thienfeld, wo jene Sängerin auftauchte, die ich zunächst bloß als eine Freundin der Kellnerin zuordnete; deren Stimme ich jedoch einige Zeit später über das Megaphon vom Schlossberg über die nächtliche Stadt hinaus hörte. Die eine wie die andere Bar sind zwischenzeitlich geschlossen, oder von Umbauplänen bedroht, was mit dem „Nagelschen–Bollwerk-Gram“ gegen eine dritte Belagerung wohl unbewusst zu tun haben dürfte.

Dem Griesplatz schadet’s nicht, wo sich ein stadtbekannter Fotograf, oder mehrere, in Szene setzten: Blüten an den Fassaden, darunter zwei Agenten im Wagen, vor dem Burek, das bosnische Speiselokal, das über den Griesbäcker hinaus und das Cafe Montreal die kulinarische Achse nach Norden legt, die in ihrer kulturellen Vielfalt noch einiges offen hält, nur soviel – an der Ecke zur Feuerbachgasse hat ein Albaner eröffnet.

Zurück zum Platz, der Call-Center, über sein Preis-Leistungsverhältnis bestechend und bis 24 Uhr geöffnet. Die Kojen sind zumeist von jungen Männern belegt, während ein Lokal weiter die Waschtrommeln ihre meditativen Kreise ziehen, gestört bloß von einem leichtem Zittern, dem 40er, zum Platz hinaus vorüberziehend. Der Treff der wunderbaren kleinen Leute aller Erdteile, die ihre Wäsche ins Trockene bringen. Der 40er hält vor der Trafik, verstellt die Sicht, nimmt dem Einzelbild den Raum hinaus gegen Süden, wohin der Betreiber mit seinen drei Hunden mit schlurfendem Gang unterwegs.

Dort, wo die goldene Maria ihren kleinen Vorgarten unterhält und die Kinder der Flüchtlingsfamilien, an die 20 Nationen sind unweit einquartiert, ihre Gehversuche starten, finden die Hunde ihr günstigstes Wiesenfleckerl. Aus dem Dunst das undeutliche Gebrüll eines der letzten alten Säufer, der allesamt in einen Eintopf hinein verkocht, als „Zigeunergsindl“ beschimpft, aus Richtung Süden stadteinwärts kommend wankend seinen Weg sucht.

Die Saz hatte letzte Woche ihren Live-Auftritt im herbst-05-Abschlussfest, danach Applaus, danach kurze Stille, danach an der Parkseite der Postgarage am Rösselmühlpark ein Raum mit einer weichen Landung, eröffnet über die Decke aus Fallschirmstoff den Tanzboden; einer der Dj´s hat versucht mit Kreide einen Wolf auf den Boden zu zeichnen: zu erkennen war eine Autostrasse, die sich kreiswärts in Richtung Zentrum schraubt, darin ein Sternchen, das vom Himmel gefallen, eine südserbische Stadt steht am Pult angeschrieben.

Nach der Balkanaußengrenze halt ich sodann vor den Außenmauern der Garage Ausschau, dem weitgehend noch ungenutzten Park, ein Vorhof zum anatolischen Hinterland, von Fasanfedern, Gemüsehändlern, Markttreiben keine Spur. Aber gerade hier kannst du dich preisgünstig wie gesund ernähren, höre ich die wiederkehrende Stimme eines Albaners. Jene Saz hatte vom Platz aus eine Achse bis zu jenen slowenischen Buchrücken westwärts eröffnet.

Im Westen wie im Osten steht im Lichtvers geschrieben, wo jedoch alte Grenzen am Brückenkopf über den City-Tower die Aussage meiner Vermieterin bestätigen: dieser Teil gehört noch zur Stadt! Wo die Stadt ihren Anfang nimmt, frage ich mich, während der Herbstwind Laub durch die Gasse stadtauswärts fegt und die Becken der Drums des Musikhauses Hammer in aller Ruhe abwarten. Die Stadt hat ihren Turm, der mir die Aussicht raubt, wenn ich über die Lagergasse hinaus in die Stadt trachte, hat sich die Skyline drei Meter an mein Fenster herangeschoben. Mit einer Verrenkung spür ich dann den Fluss, kann ihn erahnen.

Vom Brückenkopf verläuft es abfallend dem Griesplatz zu, die straßenseitigen Geschäftslokale scheinen aufgegeben, geräumt. Der älteste Maulbeerbaum steht hier. Ich erinnere mich an die Aussage eines Herrn, der Detroit bereiste und den Trend zur Peripherie bestätigte. Wann jene Gassenlokale übernommen werden, bleibt fraglich. Inwieweit sich ein multikulturelles Zentrum ostwärts dem Fluss annähern wird, bleibt fraglich. In wie weit sich da ein Ring um die Stadt auftun könnte . . . lasse ich offen, da vom Verteidigungswillen der Städter wahrlich nicht viel zu bemerken, zumindest hier im Schlagschatten der aufgehenden Sonne hinter dem City-Tower.

Da steht „Schneiderei“ noch angeschrieben, die Tabaktrafik verriegelt, ansonsten viele feinstaubverkrustete mittlerweile fast undurchsichtige Scheiben, daneben einige bunte Schriftzüge, die den Nu betonen. Ein mentaler Häuserkampf scheint noch im Gange, bis und wie weit und bis wohin. Der Händler von sich aus stellt diese eintönigen Fragen nur selten, hat mit unreflektierter Spekulation nicht viel am Hut, angesichts einer zunehmenden „Verwirrung“; zumeist hat sich ein besserer Platz bereits gefunden.

Das Welsche Kirchlein steht geduckt unter dem Posthochhaus, umkreist von Geistern wie Albert Schweizer und Jakob Lorbeer, gegenüber die Reichengasse, dahinter das 5-stöckige Flüchtlingshotel. Warum ist kein Grieche am Platze vor der Stadt, frage ich mich, wo sind die alten Platzhirschen, wo ihr dezenter Hintergrund, wohin sind jene alten Weinhäuser verschwunden – deren es in Wien XVI noch einige gibt.

Eine Stadt baut sich um den lebendigen Geist ihrer Menschen, erinnerte ich mich an einen alten Ottakringer, der den Zeitgeist während der Soho-Kulturwochen kommentierte.

In Tschetschenien war der Alte nicht gewesen. Afghanistan liegt vielen noch ferner. Dass mehrere Familien aus der Mongolei hier am Gries im schwebenden Asyl leben, bleibt im Angesicht der Reichengasse mit Blickrichtung Bürgerspitalgasse und Lagergasse selbst begnadeteren Baumeistern und Denkern zumeist verborgen.

Vom letzten Zimmer des fünften Stockes fällt der Blick eines Kosovo-Albaners vom Balkon, der seinem Zimmer, indem er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt, vorgelagert, hinunter auf den Platz, wo mehr Parkplatz als Spielplatz und eine Reihe an verdurstenden Bäumen dem Tod blätterlos ins Auge sehen. Von Angesicht zu Angesicht sollte sich kein Mensch doch erwarten, direkt von der Hölle – vom Leben bedroht – im Paradies zu landen.

Wieder gehe ich durch jene Reichengasse mit der hoffnungslosen Angst im Auge, wohin auch immer, vielleicht wieder zurück, mit jener Erinnerung an den kleinen Reshad, dem eine Bierflasche hier über seinem Kopf zerschellte. Jenes Gässchen wurde unlängst frisch geteert, mit welchem Aufwand und zu welchem Nutzen, frag ich mich? Sind Lagerzonenmentalitäten haltlos angesichts einer multiethnischen Freigeistigkeit, die bereits entstanden gewesen über die zweite Generation, die sich zum Bleiben entschlossen?

Vor dem Griesbäcker wirbt eine Bäuerin samt Kopftuch für Stainzer Milch, während jener Platz schon längst weitergewachsen im Fluss, der seinen Namen ändert über die Wasser, die tröpfchenweise einsickern. Mevlana ist nur einer jener Namen, der dem Dichter und Mystiker Rumi entlehnt, zu einem Familienbetrieb umfunktioniert; unweit des noch im Mietverhältnis stehenden Parteibüros der FPÖ, die mit widersprüchlichen Plakataktionen ihren Abwehrkampf bereits verloren haben.

Wer könnte dem Nil, auch wenn es sich den Ethnien zufolge um Nigerianer handelt, seine Veranstaltungsfreiheit streitig machen, und wie öffentlich wird sich der Raum um den Rösselmühlpark entfalten? Entscheidungen, die bereits getroffen, lassen sich nicht wie Daumenschrauben an Häuserzeilen und Orte anlegen. Auch wenn der Dreck, wie mir ein aus meiner Schulzeit bekannter Kripobeamter versicherte, zum Himmel stinkt – und von einem Brunnen keine Spur. Zugegeben bin ich so tief noch nicht eingedrungen in den Unterbau jener Neubauten, aber es lebt sich ganz gut zueinander.Näheres zum Autor auf seiner Homepage unter "Lesen Sie auch"

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