16/06/2013

Der Essay von Elisabeth Katschnig-Fasch ist erstmals am 15.06.2009 auf www.gat.st erschienen.

Ao.Univ.-Prof. Dr.phil. Elisabeth Katschnig-Fasch, gestorben 2012, lehrte am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Karl-Franzens-Universität Graz, an den Universitäten Frankfurt/M. und Wien. Forschungsschwerpunkte: Moderne Lebenswelten, Urbananthropologie, Genderforschung.

16/06/2013
©: Redaktion GAT GrazArchitekturTäglich

Wohnen als sozialer Ort

Wohnen ist mehr als privates Dasein, hier zeigen sich soziale und geschlechtsspezifische Machtstrukturen in ihrer innersten Bastion. Nirgendwo sonst verdichten sich sowohl die Möglichkeiten als auch die Gefahren für die soziale und kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft. War Wohnen noch vor kurzem für den Großteil der Bevölkerung Schauplatz des Kampfes um den sozialen Status und Ort seines Triumphes oder seiner Niederlage, Bühne der Darstellung innerhalb eines schicksalhaft vorgegebenen Lebensdramas, so ist Wohnen heute von ganz neuen Bedingungen, einer neuen Zeit- und Raumwahrnehmung, in der sich der ganze Umbruch unserer Gesellschaft zum Ausdruck bringt, diktiert. Traditionelle Wertpositionen sind gesprengt, jedenfalls nicht mehr bindenden Ausdrucksformen unterworfen.

Was die städtische Bewohnerschaft heute verbindet, ist der Verlust von Sicherheiten und Gewissheiten und ein Unbehagen gegenüber der Zukunft. Selbstverständlichkeiten und Eindeutigkeit sind brüchig geworden und haben sich in der gegenwärtigen "Entleerung von Raum und Zeit" (Anthony Giddens) verflüssigt. Die Vorherrschaft der Medientechnologien, neue Verkehrssysteme, neue Arbeitskulturen, Prekarisierung, Globalisierung, Klimaerwärmung, um nur einige Stichworte aus dem Repertoire des gegenwärtigen Zeitlaufes zu nennen, die in unterschiedlicher Dichte auch den privaten Bereich des Daseins erreicht haben und ihn in den sich rasant verändernden Bedingungen unter ganz neue Bedürfnisse stellen. Bedürfnisse, die die hochkapitalistischen Bedingungen der Spätmoderne spiegeln und die in der Verbindung mit der rasanten technologischen Verfügbarkeit, der Zuspitzung der ökologischen Ressourcen und der weltweiten Krisen, Fremdbestimmung und diffusen Ängsten zu einem hochexplosiven Gemisch geworden sind.

In den Großstädten der westlichen Industriegesellschaft stehen sich die Lebensräume immer konfligierender gegenüber. Vereinsamung, Fundamentalismen, Ausgrenzung, Aggression, Rassismus und Gewalt, Feindbilder bei gleichzeitig zunehmender institutioneller Kontrolle – das sind die unübersehbaren Symptome einer massiven Krise der Wohlstandsgesellschaft, deren kultur- und sozialökologisches Gleichgewicht nicht mehr gegeben ist.
Das Entscheidende aber ist, dass gerade in einer Zeit der Auflösung der sozialen und kulturellen Ver-Ortung das Wohnen neue Bedeutung gewinnt, als Ort, um sich in der Überforderung und empfundenen Ohnmacht aus der komplex gewordenen Wirklichkeit zurückzuziehen, abzuschotten vor nicht mehr aufzuhaltenden Veränderungen. "Die Rückkehr zum Ort, ist die Rückkehr dessen, der die Nicht-Orte frequentiert". (Augè)

Aber Wohnen kann auch in einer anderen entscheidenden Dimension Wert gewinnen, nicht als Ort des egozentrischen Rückzuges, sondern als sozialer Ort. Es ist immer der konkrete Lebensort, in und an dem sich die Aneignungsmöglichkeiten der Menschen manifestieren. Er ermöglicht Bewegungsfreiheit und Orientierung oder begrenzt sie, er bestimmt Gestaltungsfähigkeit, Erfahrungen und kreatives Handeln. Gerade in der Verbindung Wohnraum als sozialer Bewegungsraum liegt das kulturelle Potenzial einer Gesellschaft. Sie ist sozusagen der Nullpunkt der Erfahrung und des Orientierungssinnes, der Punkt, der Distanz und Nähe markiert, der Perspektiven eröffnet und zerstört. Kulturelle Identität kann nur dann gelingen, wenn die Lebensräume einen hohen Befriedigungswert für Menschen in ihrer sozialen und symbolischen Lebensumwelt haben, wenn Wohnen als Lebensraum Selbstdarstellung ebenso wie Erinnerungswerte und Verantwortung zum Ausdruck bringt, wenn es jedem Einzelnen Aktivitäten und Interaktionen ermöglicht.

Die Bedeutung des Wohnens ist neu zu schreiben, die kulturellen und sozialen Bedingungen und Bausteine müssen neu gelesen werden. Nachhaltigkeit und Eingebundensein in ein soziales Netz, das sind die Leitmotive, die der längst nicht mehr aufzuhaltenden Individualisierung entsprechen und die gleichzeitig Antworten auf die Ausdürrung des sozialen Hinterlandes bereithalten.
Die Idee, die hinter den Baugruppen steht, zielt auf ein notwendiges und sinnvolles Zukunftsmodell. Menschen entwerfen, planen, bauen und schreiben sich als Experten ihrer Bedürfnisse und Erfahrungen und Vorstellungen ein. Ein Konzept, nicht von oben diktiert, sondern von den Bewohnern mitgestaltet, nicht als ideologische Nischenalternative, sondern als Alternative im besten Sinne eines grundsätzlich offenen Pluralismus. Ein Konzept, das auf ökologische Fragen der Umwelt setzt, auf Fragen der sozialen und kulturellen Bedeutung des Wohn- und Lebensraumes in seiner ganzen gesellschaftspolitischen Relevanz.
Diese Form des Wohnbaus der privaten Baugruppen verspricht der neuen Bedeutung des Wohnens gerecht zu werden, weil sie unübersehbar auf Veränderung der Wirklichkeit ausgerichtet ist, auf Neu- und Umdefinieren, auf gegenwärtige soziale Notwendigkeiten und Erwartungen. Damit werden neue Wahrnehmungen, Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung produziert, verspricht sich geistige Komplexität und kritisches Potential gegenüber sozialen Entwicklungsformen. Dieses Vorhaben setzt auf einen neuen Maßstab für zukünftige Gewohnheiten der Gesellschaft, einen, der die sozialen Werte Verantwortung, Konfliktfähigkeit und Toleranz ins Spiel bringt.
Das Bestreben der Menschen, mit ähnlichen Lebensvorstellungen und Wünschen in räumlicher Nähe zu leben und sich damit Vertrautheit und einen Ausdrucksrahmen zu sichern, ist jedenfalls Ausdruck dafür, dass sie der Enträumlichung und der Enttraditionalisierung mit Selbstbestimmtheit, Kreativität und Verantwortung antworten wollen - um das eigene Leben wahrzunehmen, um es in einen neuen Bezug zum Ort des Wohnens zu stellen. Nicht einer neuen Bauweise allein bedarf es, sondern vor allem einer neue Lebensweise.

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