08/01/2014

Im Fokus:
ENEGIE BAU KULTUR

Zum Thema "Theoriegeleitete Projekte" wurden im Studienjahr 2012/13 ein Forschungspraktikum (Kulturanthropologie, Universität Graz)  und im Anschluss ein Entwurfspraktikum1 (TU Graz) abgehanlten, bei denen es um die Analyse dreier Gemeinden, nämlich den von der Eisenindustrie geprägten Ort Thörl, den ehemaligen Tourismusort Aflenz Kurort und den von der Landwirtschaft geprägten Ort Turnau ging.

Manfred Omahna, Mag.phil. DI. Dr. Geb. 1970. Studium der Kulturanthropologie, Geschichte und Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz und Studium der Architektur an der Technischen Universität Graz. Lehrbeauftragter an der KF-Uni Graz und an der TU Graz.

08/01/2014

Sujet zum aktuellen GAT-Themenschwerpunkt

©: Redaktion GAT GrazArchitekturTäglich

Forschungsskizze Aflenztal

©: Manfred Omahna

Ortseinfahrt Aflenz Kurort

©: Manfred Omahna

Tourismusarchitektur Aflenz Kurort

©: Manfred Omahna

Villa Auheim und Schloss Schachenstein, Thörl

©: Manfred Omahna

Geschoßwohnbau, Thörl

©: Manfred Omahna

Gemeindeplatz Turnau

©: Manfred Omahna

Landwirtschaftliches Gebäude, Turnau

©: Manfred Omahna
Plädoyer für eine ressourcenorientierte, an Mensch und Umwelt gerichtete, nachhaltige Raumplanung
Die Zukunft der Planung – so meine These – liegt in einer Stärkung der Berücksichtigung einer empirisch-kulturwissenschaftlichen Analyse materieller und immaterieller Ressourcen, die zwar von globalen Strukturen beeinflusst, jedoch an einem konkreten Platz im Raum verortet sind. Nur so können Handlungspotenziale und die physische Welt für zukünftige Planungsaufgaben und Energiefragen nachhaltig nutzbar gemacht werden. Diese Art der Projektentwicklung nenne ich „Theoriegeleitete Projekte“. Die Planungsergebnisse können einerseits auf wissenschaftliche Methoden und Theorien gestützt werden und greifen andererseits auf schon vorhandene lokale Gegebenheiten zurück.Schon in der Renaissance wurde beispielsweise der Entwurf neuer Städte nicht von der Gesellschaftsordnung getrennt betrachtet, sondern als eine „Wissenschaft“ begriffen, die Gesellschaft und Entwurf als untrennbar miteinander verbunden verstand. Entsprechend ist die Geistesgeschichte der (Stadt-)Planung zugleich eine Geschichte des utopischen und des frühen soziologischen Denkens. (1)  Global anwendbare Planungskonzepte setzten sich als Folge der Industrialisierung und der damit verbundenen Bevölkerungsexplosion sowie mit dem Beginn der modernen Architektur als bestimmende Praxis durch. Man könnte sagen, die Räume unserer spätmodernen Zeit zeichnen sich wegen ihres Anspruchs auf Universalität durch eine Art Gedankenlosigkeit aus, die aus einem Übermaß an Ereignissen, Raumdiskursen und Individualisierung resultiert. Durch fortschreitende Individualisierung und gesellschaftliche Differenzierung entstehen zum Teil hybride Lebenskonzepte, die zwar lokal verortet sind, aber deren Probleme durch zunehmende Ausdifferenzierung nicht mehr durch globale Konzepte lösbar sind.

Die Menschen verlangen quasi selbst nach einem „differenzierten Blick“ in der Planung, durch den lokale Befindlichkeiten, soziale und räumliche Ungleichheit, neue Armut, Tendenzen der Verschwendung und Ähnliches erst erkennbar und beschreibbar werden. Die heutige Welt erfordert aufgrund ihres beschleunigten Wandels ein genaueres „Hinschauen“, einen fokussierten und fragenden Blick. Die Menschen verlangen nach einem neuartigen, methodischen Nachdenken über ihre jeweils eigene Art der Andersheit. (2) Um eine nachhaltige und energieeffiziente Raumplanung gewährleisten zu können, müssen Methoden und Theorien des Entwerfens mit Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften insbesondere mit dem sogenannten „ethnologischen Blick“ verknüpft werden. Wie im philosophischen Diskurs der Phänomenologie geht es in der heutigen Planung vermehrt darum, „wieder das zu sehen, was Sache ist“, denn das Gemeinte zeigt sich so wie es gemeint ist und ist so gemeint, wie es sich selbst zeigt. (3)

Zukünftige Aufgaben an Planer und Planerinnen
Zentrale Fragen einer nachhaltigen Raumplanung sind: 1. Was sind prägende Handlungsstrategien im Planungsgebiet? 2. Wie stehen sie in Beziehung zum physischen Raum? und 3. Wie können diese unterschiedlichen Handlungspraktiken als Ressource berücksichtigt werden? Um differente Handlungsstrategien begreifen und sie als nachhaltige Grundlagen der Planung erkennen zu können, müssen zukünftig auch Planer und Planerinnen dem Fremden oder dem Anderen begegnen und sie müssen sich darauf einlassen, Unbekanntes zu verstehen. Entwürfe müssen auf Basis „Theoriegeleiteter Projekte“ entwickelt werden, das heißt auf Basis von Theorien und Methoden – die Praxis des Forschens, der Epistemologie und der Reflexion muss in die Grundlagen der Planung miteinbezogen werden, um den Umfang lokaler Ressourcen als Potenzial nachhaltiger Möglichkeiten erschließen zu können. Das meint: Sich auf materielle Ressourcen wie Gebäude, lokal vorhandene Materialien oder immaterielle Ressourcen, wie räumliche Charakteristika, (historische) Eigenheiten oder lokal tradierte Handlungspraktiken zu beziehen.

Nicht nur an planungsorientierten Universitäten werden Möglichkeiten einer „demokratischen“ Stadtentwicklung diskutiert, vor allem europäische Stadtentwicklungskonzepte sind damit konfrontiert, benachteiligte Stadtgebiete aufzuwerten, sich mit Hierarchien und den Problemen sozialer Inklusion und Exklusion auseinanderzusetzen. Unter dem Label „nachhaltige Entwicklung“ wird bereits auf wissenschaftlicher und international politischer Ebene diskutiert, wie besonders die Lokale Agenda 21 deutlich macht. Vor allem europäische Stadt- und Regionalentwicklungskonzepte sind damit konfrontiert, benachteiligte Stadtgebiete sowie Regionen aufzuwerten und sich mit dem Veränderungspotenzial sozialer Inklusion und Exklusion auseinanderzusetzen. Allen voran ist hier das Aktionsprogramm von Lille zu nennen, das eine europaweite Stadtentwicklung auch in Fragen der Forschung, Ausgewogenheit und Förderung benachteiligter Stadtgebiete postuliert. Im Nachfolgeprogramm Rotterdam Urban Acquis von 2005 geht es schließlich vor allem um strategische Schlüsselprinzipien einer gemeinsamen städtischen Entwicklung, wie zum Beispiel soziale Kohäsion und Umweltschutz, konstruktive Zusammenarbeit von BürgerInnen, ExpertInnen, Wirtschaft und KommunalvertreterInnen usw. In der Leipzig Charta (2007) wird schließlich eine umfassende Einbindung der Öffentlichkeit gefordert. Die Einbindung der Qualitativen Methode ist allerdings noch Neuland. Die neue LEADER Periode 2014–2020 eröffnet möglicherweise reale Chancen, die Ergebnisse endogener Raumentwicklung tatsächlich den Menschen zugutekommen zu lassen. In Zukunft wird es vermehrt darum gehen, dass sich die Planung in einem interdisziplinären Diskurs überlegt, wie wir in unsere Umgebung eingreifen und welche Anforderungen wir durch den Bau oder Umbau materieller Strukturen verantworten wollen.

Das Ergebnis Theoriegeleiteter Projektentwicklung bildet: 1. Ein nachhaltiges und benutzerorientiertes Instrument der endogenen Raumentwicklung. 2. Eine wissensorientierte Formulierung von Hypothesen bezüglich lokaler Räume (urbane oder rurale) als Felder kontingenter, aber politisch, ökonomisch und ökologisch widerstreitendender „place-making strategies“. (4) Die Akteure (Individuen, Institutionen, Betriebe) sind aufgefordert, ihre Handlungspraxen prozessual zu erneuern: Diese prozessuale Erneuerung von Handlungspraxen wird anhand qualitativer Gespräche mit BewohnerInnen sowie mit VertreterInnen von Institutionen und Betrieben erhoben und in Anlehnung an die „Grounded Theorie“ ausgewertet und interpretiert. Ergebnis sind Handlungspraktiken von lokalen Organisationen oder Individuen, die als Ressourcen des Lokalen definiert werden und als Entwurfsgrundlage dienen. Nachhaltigkeit ist in dem Sinn gegeben, als die entwickelten Konzepte lokale Bedingungen besonders hinsichtlich der Dauerhaftigkeit und der Ausgewogenheit sozialer, ökonomischer und ökologischer Beziehungen begreifen.

Theoriegeleitete Projektentwicklung am Beispiel Aflenzer Becken
Theoriegeleitete Projektentwicklung verfolgt das Ziel, die Logik von lebensweltlichen Verarbeitungsstrategien als Folge struktureller Veränderung für die Planung nutzbar zu machen. Konkret ging es in einem Forschungspraktikum des Studienjahres 2012/13 und einem anschließenden Entwurfspraktikum (5) um die Analyse dreier Gemeinden, nämlich den von der Eisenindustrie geprägten Ort Thörl, den ehemaligen Tourismusort Aflenz Kurort und den von der Landwirtschaft geprägten Ort Turnau. In diesem Projekt wurde danach gefragt, wie unterschiedlich diese Gemeinden und ihre EinwohnerInnen jeweils strukturelle Veränderungen verarbeiten und welche kollektiven und individuellen Handlungspraktiken daraus resultieren. Es sollten jene strukturellen und lebensweltlichen Ressourcen definiert werden, die dafür verantwortlich sind, dass eine Gemeinde den Strukturwandel schafft, eine andere Gemeinde aber dabei scheitert. Diese benachbarten, jedoch lebensweltlich, ökonomisch und historisch sehr differenten Gemeinden im rund 6800 EinwohnerInnen umfassenden, südlichen Bereich des Hochschwabmassivs (im nördlichen Teil des österreichischen Bundeslandes Steiermark) wurden auf der Grundlage qualitativer Methoden analysiert, um Einblicke in die subjektiv gelebten Bedeutungsgefüge lokaler Ressourcen zu bekommen.

Die hohe praktische Relevanz, sich erkenntnistheoretisch mit dem Thema Gemeinde auseinanderzusetzen, bezieht sich auf die z.T. prekäre Situation ländlicher Regionen. Die Intention unseres Projektes stützte sich auf die Frage, welche lokalen Übersetzungspraktiken durch global motivierte Strukturveränderungen ausgelöst werden. Gefragt wurde nach den Übersetzungspraktiken, mit denen auf lokalen Ebenen auf global motivierte Strukturveränderungen reagiert wird, und nach den sozialhistorischen und lokalen Gründen, die zu unterschiedlichen Anpassungsleistungen und zu derem subjektiven und objektiven Gelingen oder Nicht-Gelingen führen (6) (beziehungsweise wie dieses „Gelingen“ oder „Nicht-Gelingen“ von den BewohnerInnen definiert wird).

Lokale Eigenheiten als Ressource
Die Analyse der lokal unterschiedlichen Auswirkungen globaler Einflüsse gehört „zu den entscheidenden Fragen der Gemeindeforschung“. (7) Außerdem besteht eine Eigenart bzw. ein Charakter, der Gemeinden oder auch Städte auszeichnet und sie unverwechselbar macht. Der Charakter eines konkreten Ortes lässt Rückschlüsse auf das „lokale Wissen“ als Qualität und Ressource zu. Die unterschiedlichen sozialhistorischen und lebensweltlichen Hintergründe der drei Gemeinden Thörl, Aflenz Kurort und Turnau wurden aus kulturanthropologischer Sicht als wesentliche Bedingungen angesehen, um strukturelle Veränderungen überhaupt erfolgreich verarbeiten zu können. Im Projektvorhaben ging es also darum, herauszufinden, inwiefern (neue) Ökonomien integrale Identifizierungen zulassen, die Perspektivencharakter haben.

Es wurde von der Hypothese ausgegangen, dass alltägliche Handlungspraktiken, die auf dieses lokale Wissen zurückgreifen und die den Umgang mit aktuellen Szenarien wirtschaftlichen Niedergangs bedingen, in historisch fundierten Sinnkonstruktionen angelegt sind, die sich für die drei Untersuchungsgemeinden wesentlich unterscheiden: Während Thörl (1677 Einwohner) gegenwärtige Strukturveränderungen sozialhistorisch wie kulturell vor dem Hintergrund eines Arbeitnehmermilieus verarbeitet, bewältigt die Gemeinde Aflenz Kurort (1033 Einwohner) ihre z.T. globalen Anforderungen aus der Perspektive einer Tourismus- und Kurgemeinde. Turnau (1588 Einwohner) schließlich agiert hauptsächlich aus der Perspektive der Landwirtschaft und des Kleingewerbes.
Während Thörl in den letzten Jahrzehnten mit dem Einbruch der arbeitgebenden Industrie (Firma Pengg, Kabelhersteller, und Böhlau, Edelstahlindustrie im 15 km entfernten Kapfenberg) konfrontiert war, erlebt die Marktgemeinde Aflenz seit den 1970er Jahren den Niedergang seiner touristischen Infrastruktur. Von den Einheimischen als „sterbender“ Ort bezeichnet, brechen die Infrastruktur und das gesamte Gefüge ein. Turnau hingegen scheint als bäuerlich geprägte Gemeinde zu prosperieren und verdankt den Erfolg nicht zuletzt der Landwirtschaft und einer funktionierenden Mischung aus Klein,- Industrie-, Handels- und Tourismusbetrieben. (8)
Diese ortseigenen Charaktereigenschaften bilden insofern die Grundlage für Gelingensoptionen der aktuell nötigen Anpassungen, als die jeweils unterschiedlichen Handlungsstrategien auf früher erfolgreiche Praktiken zurückgreifen können. (9)

Folglich lautete der Ausgangsbefund, dass sich die drei genannten Orte, die nahe beieinander liegen, ganz wesentlich voneinander unterscheiden und somit je eigene Praxisformen als Antwort auf strukturelle Veränderungen entwickeln. Die Etablierung eines unverwechselbaren Charakters fungiert, wie es Bernhard Tschofen formuliert, zudem als notwendiges Erkennungszeichen, das auch als Potenzial, als eine „Macht des Lokalen“ innerhalb globaler Systeme interpretiert werden kann. (10) Dieses lokal verortete Potenzial von Individuen, Betrieben und Institutionen als regionale Ressource sichtbar zu machen, war Ziel des Projektes.

(1) Vgl. Gerd de Bruyn: Die Diktatur der Philanthropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken. Braunschweig, Wiesbaden: 1996.
(2) Vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main: 1994, S. 46.
(3) Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie, München: 1992, S. 19.
(4) Vgl. Gisela Welz: Epistemische Orte: Gemeinde und Region als Forschungsformate, in Gisela Welz, Antonia Davidovic-Walther und Anke S. Weber (Hg.): Epistemische Orte: Gemeinde und Region als Forschungsformate, Frankfurt am Main: 2011, S. 9–19, hier S. 15.
(5) Das Forschungspraktikum wurde mit Studierenden der Kulturanthropologie (Universität Graz) durchgeführt, das Entwurfspraktikum mit Studierenden der Architektur (TU Graz).
(6) Die Fragestellungen wurden gemeinsam mit Elisabeth Katschnig-Fasch im Herbst 2011 entwickelt.
(7) Vgl. Johannes Moser: Gemeindeforschung in der Spätmoderne, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 98, 2002, S. 295–315, hier S. 298.
(8) vgl. dazu die Ortsmonographien von Thörl, Aflenz Kurort und Turnau von Josef Riegler.
(9) Elisabeth Katschnig-Fasch: Möblierter Sinn. Städtische Wohn und Lebensstile. Wien 1995, S. 85.
(10)  Vgl. Bernhard Tschofen: Vom Geschmack der Region. Kulinarische Praxis, europäische Politik und räumliche Kultur – eine Forschungsskizze, in: ZV, Jg. 103, 2007/II, S. 169–196, hier S. 174.

Lokale Dynamik als Deutungsschema von Gelingensoptionen
Handlungspraxen werden prozessual erneuert und den äußeren Bedingungen angepasst. Besonders infolge biographischer Brüche sind Organisationen aufgefordert, ihre Handlungsstrategien neu zu definieren. (11) Veränderungsmöglichkeiten von Handlungspraxen in Bezug auf örtliche Eigenheiten oder Charakterzuschreibungen verweisen auf den von Eric Hobsbawm geprägten Begriff der „invented tradition“, der das Ergebnis dynamischer Aushandlungsprozesse als kulturelle Konstruktion sichtbar macht. Dieser Aushandlungsprozess zwischen gesellschaftlichen Feldern materialisiert sich in Strukturen hierarchischer Organisationen. (12) Besonders in der Gedächtnis- und Kulturerbeforschung wird darauf hingewiesen, dass privilegierte Akteure unterschiedlicher Motivation Werte aus dem „kulturellen Gedächtnis“ herauslösen und sie mit Status versehen. (13) Ziel unseres Projektes war es, herauszufinden, wie die Menschen, die in den verschiedenen Organisationen beschäftigt sind, diese strukturellen Anforderungen innerhalb subjektiv erlebter Brüche bewältigen und was dabei wie verändert wurde, um sich erfolgreich einpassen zu können. Wie strukturelle Veränderungen im Kontext von Zugehörigkeiten zu lokalen Organisationen lebensweltlich verarbeitet werden, gibt Auskunft über regional verortete Gelingensoptionen.

Handlungspraxen als Ressource
Die Stahlkrise forderte Handlungspraxen, die seit 1990 einen Abbau von 60 % der MitarbeiterInnen im Thörler Werk nach sich zogen. Das Ende der „Sommerfrische“ in Aflenz Kurort führte seit den 1970er Jahren zum Rückgang der Betten von über 1000 auf 350 und der Einbruch in der Landwirtschaft beeinflusste seit 1985 die Sortenvielfalt und führte bäuerliche Tätigkeiten fast ad absurdum. Diese global motivierten Strukturveränderungen beeinflussen lokale Eigenheiten und fordern von den Betroffenen, sich mit dem eigenen Verhalten in Bezug auf die eigenen Werte zu befassen, diese unter Umständen auch in Frage zu stellen. Wenn sich also die strukturellen Hintergründe so grundlegend verändern, dass sie die Existenz bedrohen, dann müssen die Menschen auf alternative Strategien der Problemlösung zurückgreifen und erlernte Handlungspraxen als Ressource in die gesellschaftliche Umgebung (materielle, soziale und symbolische) neu einpassen. (14) Diese lokal angelegten Handlungsstrategien bilden einen örtlichen Reichtum und ein Kreativpotenzial, das erschlossen werden muss, um es den Menschen als Ressource oder als Anerkennung ihrer Fähigkeiten wieder zurückgeben zu können.

Der differente Umgang mit dem Gebauten
Die Gemeinde Thörl antwortet beispielsweise auf die strukturellen Veränderungen mit dem Bau innovativer Projekte wie einer neuen Polizeistation und einem kleinen Einkaufszentrum. Für die Gemeinde ist es wichtig, sich als Dienstleistungszentrum zu präsentieren und Veränderungsbereitschaft zu demonstrieren. Obwohl eine Umwertung von einer „Arbeiter- zu einer Dienstleistungsgemeinde“ stattfindet und obwohl viele Männer, aber noch mehr Frauen die Möglichkeit einer sicheren Beschäftigung verloren haben, bleibt ein Charakterzug von Thörl bestehen, nämlich jener des Produzierens und Entwickelns. (15)
Ähnlich wie jedoch in Thörl der „Herr Gewerke“, der Inhaber der Kabelfabrik, immer noch als „Retter der Region“ gilt, (16) so leben manche Hotelbesitzer in Aflenz Kurort immer noch nach dem Zeitempfinden der Vor-, Nach- oder Hauptsaison, obwohl seit gut dreißig Jahren kaum mehr Gäste kommen. Weil die Touristen aus Graz und Wien, wohlhabende pensionierte Männer und Frauen, in einer Art verbindlicher Tradition der „Sommerfrische“ jedes Jahr nach Aflenz gekommen sind, wurden die Hotels nie neuen Standards angepasst. Der Ort hat so die Umbrüche im Tourismus seit 1980 regelrecht verschlafen. Die Hotels stehen leer, der Ort stagniert und ist von einer Abstiegsgeschichte geprägt. (17) Die Infrastruktur von Aflenz Kurort, die Handwerksbetriebe, der Handel sowie Dienstleistung und Versorgung sind in einer Situation, wie sie sonst nur in einer „Shrinking City“ anzutreffen sind. Sogar der ortseigene Schilift „Bürgeralm“ konnte wegen Geldmangels seit 1986 nicht mehr nachgerüstet werden. Das historische Charakteristikum „Gesundheit“ äußert sich zwar im ortsansässigen Rehabilitationszentrum, die BewohnerInnen, Betriebe oder Institutionen nähern sich aber nur zögerlich dieser historisch geprägten, örtlichen Eigenheit. (18) Mit einer Analyse von gegenwärtigen oder historischen Charaktereigenschaften werden auch Ressourcen für zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet. Mit einer Analyse der Veränderung von Handlungspraxen infolge biographischer Brüche könnten die Gründe für eine erfolgreiche Verarbeitung struktureller Veränderungen sichtbar werden. Es wird von der Hypothese ausgegangen, dass Handlungspraxen, die früher schon einmal erfolgreich waren, auch aktuell mehr Chancen auf Erfolg haben.
Im Unterschied zu Thörl und Aflenz Kurort bewältigt Turnau die Krise seit der zweiten Agrarevolution (19) durch den Einsatz vorhandener Ressourcen in der Landwirtschaft und durch neue Betriebs- und Wohnansiedlungen. Mit der Förderung der Bewirtschaftung der Landschaft ist vor allem auch eine (ästhetische) Pflege der „Kulturlandschaft“ verbunden, durch die es der Gemeinde sogar möglich ist, an der eigentlich Aflenz-Kurort-spezifischen Eigenheit „Gesundheit“ durch den Bau einer Pflege- und Altersresidenz zu partizipieren. Hier haben Gasthäuser im Gegensatz zu Aflenz Kurort täglich geöffnet und das Café am Gemeindeplatz wird rege besucht.

Verarbeitungsstrategien
Als Verarbeitungsstrategien sind spezifische Handlungspraxen, Umgangsformen, Einstellungen oder Haltungen zu verstehen, die für die Menschen Antworten auf strukturelle Veränderungen und Umbrüche bereitstellen. In der Analyse von Verarbeitungsstrategien als lokale Ressource stützten wir uns auf das Raumorientierungsmodell von Ina-Maria Greverus, auf Theorien kulturanthropologischer Forschung in Industriebetrieben und bürokratischen Organisationen sowie auf Theorien der qualitativen Netzwerkanalyse.(20) Die organisationsspezifischen Verarbeitungsstrategien wurden auf ihre gegenseitige Beeinflussung bezüglich Formen regionaler und überregionaler Dynamik befragt. (21) Die Frage, die in diesem Zusammenhang zu beantworten war, lautete: Wie gelingt es den Menschen, an der Schnittstelle zwischen persönlichen Entwürfen und sozialen Zuschreibungen ihre Identität im gesellschaftlichen Raum zu positionieren? Es wird dabei davon ausgegangen, dass Organisationen ihrer Umwelt gegenüber als offene Systeme anzusehen sind, „die zeitlich überdauernd existieren, spezifische Ziele verfolgen und aus Individuen bzw. Gruppen zusammengesetzt sind und eine bestimmte Struktur zur Koordination der einzelnen Tätigkeiten aufweisen, die in der Regel durch Arbeitsteilung und eine Hierarchie von Verantwortungen gekennzeichnet sind“. (22) Besonders Identitätskrisen im Zuge von Umstrukturierungsmaßnahmen, Firmen- oder Berufswechsel zeigen, wie sehr die Identität des Einzelnen durch die Zugehörigkeit zu einem Unternehmen geprägt ist.
Es wurde davon ausgegangen, dass Organisationskulturen industrielle bzw. institutionelle „Subkulturen“ innerhalb größerer kultureller Systeme sind. Sie unterscheiden sich signifikant durch ihre gesellschaftliche Funktion und sind durch Branche, Lage, Organisationsstruktur, spezifische Geschichte sowie Mobilitätspraxen eindeutig definierbar. Die MitarbeiterInnen der verschiedenen Organisationen in der Region müssen auf Basis habituell erlernter und körperlich eingeprägter Praktiken in der Lage sein, ihre Situation durch Interaktion, Kooperation und Kommunikation zu interpretieren. (23) Spezifische Verarbeitungsstrategien von betrieblichen oder institutionellen Erfahrungszusammenhängen, so die These, werden in Umbruchssituationen ganz besonders auf die Probe gestellt. Axel Honneth verweist darauf, dass der individuelle, institutionelle oder betriebliche Bruch als zentrales Element des gesellschaftlichen Zusammenlebens fungiert und als eine Triebkraft sozialen Wandelns angesehen werden kann, der durch Bedeutungsgewinn bzw. -verlust bestimmter gesellschaftlicher Gruppen bestimmt ist. (24)

Schluss
Zusammengefasst lauteten unsere forschungsleitenden Fragen und Hypothesen: 1. Dass sich Gemeinden oder auch Städte ganz wesentlich voneinander unterscheiden und somit je eigene Praxisformen als Antwort auf strukturelle Veränderungen entwickeln. 2. Dass Handlungspraxen, die schon einmal erfolgreich waren, mehr Chancen auf Erfolg haben, als solche, die neu gefunden werden müssen. Und 3., dass in Krisen- oder Umbruchsituationen auf Verarbeitungsstrategien zurückgegriffen wird, die für die Überlebensfähigkeit lokaler Räume maßgebend sind. Vor diesem Hintergrund wurden die Folgen fortschreitender Individualisierung und gesellschaftlicher Differenzierung anhand persönlicher und institutioneller Umbrüche analysiert. Dadurch wird es möglich, lokale oder einzigartige Probleme durch, an den Ort angepasste Projekte neu zu organisieren. Dem Ausspruch Marc Augés kann insofern Rechnung getragen werden, als mit „Theoriegeleiteten Projekten“ ein genaueres Hinschauen und ein stärker fokussierter Blick dem Verlangen nach einem neuartigen methodischen Nachdenken über die je eigene Art der Andersheit auch in der Planung gewährleistet werden kann. Besonders hinsichtlich der Energieeffizienz wird es in Zukunft notwendig sein, sich in Planungsfragen mit den Bedingungen lokaler Orte sowie mit bereits vor Ort angelegten nachhaltigen Handlungspraktiken stärker auseinanderzusetzen. PlanerInnen sind demnach privilegierte Akteure, die in Umbruchssituationen – wie es die Energiewende auch sein muss – nachhaltige und energieeffiziente Werte erkennen und definieren müssen, sie aus dem „kulturellen Gedächtnis“ lokalspezifisch herauslösen und mit Status versehen.

(11) Vgl. Irene Götz: Unternehmensethnographie. Bemerkungen zur Debatte um Kultur(alisierung) und zur kulturwissenschaftlichen Betrachtungsperspektive, in: Irene Götz, Andreas Wittel (Hg.): Arbeitskulturen im Umbruch. Zur Ethnographie von Arbeit und Organisation, New York u.a., Waxmann: 2000, S. 55–74, hier S. 61.
(12) Vgl. Konrad Köstlin: Tradition, Erbe und gesellschaftliches Wissen, in: Karl C. Berger, Margot Schindler, Ingo Schneider (Hg.): Erb.gut? Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft, Referate der 25. Österreichischen Volkskundetagung vom 14.–17.11.2007 in Innsbruck, Wien, Selbstverlag des Vereins für Volkskunde: 2009, S. 49–60, hier S. 53.
(13) Vgl. Regina Bendix: Kulturelles Erbe zwischen Wirtschaft und Politik: Ein Ausblick, in: Dorothee Hemme, Markus Tauschek, Regina Bendix (Hg.): Prädikat „Heritage“. Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen, Berlin, LIT Verlag: 2007, S. 337–356, hier S. 340.
(14) Vgl. Hauschild, Thomas: Ritual und Gewalt. Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften, Frankfurt am Main, Suhrkamp: 2008, S. 216–218.
(15) So ist es kein Zufall, dass der Bürgermeister des Ortes auch Obmann der, im Jahr 2009 gegründeten, Region „Hochschwab Süd“ ist.
(16) Die Firma Pengg beschäftigt im Jahr 2011 200 ArbeitnehmerInnen, vgl. http://www.wire-pengg.com/index.html (24.7.2011). In der Ortseinfahrt der Marktgemeinde Thörl befindet sich das Schloss Thörl, es ist das Tor ins ehemalige Aflenztal. Der daran anschließende historische Ortskern am „Günther Kajer Platz“ wird von den ehemaligen Herrenhäusern der Hammerherrn gebildet, dem sogenannten „alten Haus“ und der „Villa Auheim“ sowie dem Gasthaus und der Ruine Schachenstein.
(17) In seiner Hochblüte verfügte der Ort über 1000 Gästebetten, heute sind es nur noch rund 350.
(18) Bis auf den sog. „Kneippweg“, Massageangebote von Ein-Personen-Betrieben oder das Angebot alternativer Heilmethoden ist das Thema „Gesundheit“ in Aflenz vergleichsweise unterrepräsentiert.
(19) Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union führte zu einem drastischen Sinken der landwirtschaftlichen Erzeugerpreise, was im Zuge der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU anhand von Ausgleichszahlungen zur Senkung der hohen Produktionskosten und zur Reglementierung der Produkte führen sollte, vgl. Stefan Karner: Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Graz: 2005, S. 524.
(20) Ina-Maria Greverus: Menschen und Räume. Vom interpretativen Umgang mit einem kulturökologischen Raumorientierungsmodell, in: Ina-Maria Greverus, Johannes Moser, Beatrice Bloch u.a. (Hg.): Kulturtexte. 20 Jahre Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Frankfurt am Main, Notizen: 1994, S. 87–112 hier S. 89; Irene Götz: Empirische Erhebung in Industriebetrieben und bürokratischen Organisationen, in: Silke Götsch, Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, Berlin, Reimer: 2007, S. 249– 269; Michael Schnegg: Die ethnologische Netzwerkanalyse, in: Bettina Beer (Hg.): Methoden ethnologischer Feldforschung, Berlin, Reimer: 2008, S.209–253.
(21) Vgl. Angela Pilch-Ortega (Hg.): Transnational spaces and regional localization. Social networks, border regions and local-global relations, Münster u.a., Waxmann: 2012; Schein, Edgar H.: Organizational Culture and Leadership, Third Edition. New York, Wiley Publishers: 2004.
(22) Lutz von Rosenstiel: Organisationsanalyse, in: Uwe Flick, Ernst von Kardorff, Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung, Hamburg, Rowohlt: 2010, 224–238, hier S. 225.
(23)  Vgl. Heiner Keupp: Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft. Gemeindepsychologische Perspektiven, München: 1994.
(24) Schon Durkheim hat angemerkt, dass innerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaft Gerechtigkeit und Fairness keine normativen Ideale darstellen, die von außen an die Arbeitsorganisation herangetragen werden, sie bilden vielmehr eine immanente Notwendigkeit, ohne die ein Bewusstsein sozialer Zusammengehörigkeit nicht entstehen könnte. Vgl. Axel Honneth: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt am Main, Suhrkamp: 2010, S. 96.

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