05/02/2021

Times of Dilemma

Zur Ausstellung
NORMAL – direkter Urbanismus x 4

28.01. – 24.02.2021
HDA – Haus der Architektur

Um aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen der Stadtplanung zu begegnen, entwickelte transparadiso die Methode des direkten Urbanismus für eine sozial engagierte Stadtplanung, in der direkte Aktion und Planung ineinandergreifen. Diese erproben sie aktuell auch im Rahmen des Kulturjahrs Graz 2020.

Gemeinsam mit den eingeladenen urban practitioners orizzontale (I), public works (GB), Georg Winter / TanzPflanzPlan AG (D) arbeitet transparadiso in den Grazer Bezirken Andritz (Nord), Waltendorf (Ost), Liebenau (Süd) und Wetzelsdorf (West).

Rezension von Bettina Landl

05/02/2021

Die Ausstellung "NORMAL – direkter Urbanismus x 4" von transparadiso & PartnerInnen zeigt die Normalität des Unspektakulären an den Rändern der Stadt Graz

©: Bettina Landl

"public works" erprobt eine kritische Entwurfspraxis zwischen Kunst, Architektur und Perfromance

©: Bettina Landl

Als Freiluftschule wird der Hauptplatz in Andritz zum Ort für Spekulationen. Installation (Detail)

©: Bettina Landl

orizzontale erweitert die Grenzen architektonischer Schaffensprozesse.

©: Bettina Landl

Via www.missingthings.org sammelt transparadiso Beiträge zu "NORMAL".

©: Bettina Landl

„FlussFluss“ schafft eine Mur-Insel und damit ein Stadt-Forum für eine neue Flussgemeinschaft.

©: Bettina Landl

Gerade jetzt bekommt das Wort „normal“ eine völlig neue Bedeutung. Alles, was bisher unter diesem Begriff verstanden wurde, gilt nicht mehr. „Welcher Zeitpunkt könnte [also] herausfordernder, aber auch inspirierender sein, um Stadtquartiere neu und ‚unnormal‘ zu denken?“ fragt Beate Engelhorn, Direktorin des Hauses der Architektur (HDA). „Dabei fing das Jahr 2020 in Graz ‚ganz normal‘ an.“ Das Kulturjahr 2020 wurde gestartet und innerhalb dieses Rahmens das Projekt NORMAL von transparadiso – 1999 gegründet von der Künstlerin Barbara Holub und dem Architekten Paul Rajakovics. Gemeinsam mit den Künstlerteams public works (London), orizzontale (Rom) und Georg Winter (Saarbrücken) untersucht transparadiso (Wien/Graz) die vorhandenen Entwicklungspotenziale in vier unterschiedlichen Grazer Randbezirken (Andritz, Waltendorf, Liebenau und Wetzelsdorf) mit dem Ziel, Strategien zu erarbeiten und neue Impulse für die Stadtteile zu setzen, die die lokale Identität stärken und zu einer Verbesserung der sozialen und stadträumlichen Gestalt der einzelnen Orte beitragen können. Um die Möglichkeiten abseits des „Alltäglichen“ auszuloten, findet ein Austausch mit den AnwohnerInnen der Quartiere statt. Gesucht wird nach „Ungewöhnlichem“, womit ein längerfristiger Prozess intitiiert, über das Zusammenwirken von Handlung und Planung eine sozial engagierte Stadtplanung propagiert und tatsächlich neue Stadtplanungsprozesse ermöglicht werden sollen.

Am 27. Jänner 2021 wurde die unter den aktuellen Umständen völlig neu konzipierte Ausstellung im HDA eröffnet. Diese gewährt nun rund um die Uhr Einblick(e) von außen. Ein „erster Katalog“ widmet sich u.a. der Frage, wie nachhaltige und zukunftsorientierte Stadtentwicklung aussieht, und liefert anschaulich und klar strukturiert einen umfassenden Eindruck der Hinter- und Beweggründe. Ein im Zuge der Online-Eröffnung aufgezeichneter Videomitschnitt des KünstlerInnengesprächs macht neugierig, regt zur Beteiligung an und ruft zur Teilnahme auf.

Der Kontext
Die Peripherie ist ein wichtiger Teil der Stadt – ist Wohnort, Sitz unterschiedlich großer und kleiner Unternehmen, aber auch Naherholungsraum. „Die hier entstehenden Bebauungen bilden schon heute die Grundlagen und schaffen die ‚Norm‘ für die Qualität der Stadt von morgen“ erklärt Engelhorn einleitend in die Lektüre. Es wird angenommen, dass im Jahr 2050 ungefähr 70 Prozent der Menschen in Städten leben werden. „Die Herausforderung besteht also darin, gerade am Stadtrand die richtigen Weichen zu legen, um sie als Lebensraum für die zunehmende Stadtgesellschaft zu qualifizieren.“ Wachsende Städte wie Graz sind mit steigenden Mieten, Verdrängung, Verkehrs- und Infrastrukturproblemen und vor allem mit hohen Immobilieninvestitionen und -spekulationen konfrontiert. „Das ist die aktuelle Normalität unserer urbanen Gesellschaft. Darüber hinaus ist unsere Gesellschaft von einer zunehmenden Normierung geprägt, die kaum mehr Handlungsspielräume für das Individuelle, für nicht normiertes Verhalten, für Abweichungen von dem, was als normal betrachtet wird, zulässt. 'NORMAL' propagiert eine Koexistenz der vielen verschiedenen Vorstellungen von Normalität und eröffnet einen Handlungsraum, um diese zu diskutieren und sich aktiv und direkt mit divergierenden Interessen zu konfrontieren“ betonen Holub und Rajakovics und schaffen damit einen Dialog zwischen der Peripherie und dem Zentrum – zwischen den urbanen Interventionen in Andritz, Waltendorf, Liebenau und Wetzelsdorf und den Kunst-/Architekturinstitutionen HDA und Forum Stadtpark, wobei zum Abschluss eine Stadtwanderung in vier Etappen die Bezirke verknüpft, aus der eine Wanderkarte entlang der Stadtgrenze entstehen wird.

Weil peri-urbane Gebiete durch eine ungehemmte Bautätigkeit überformt werden und gemeinschaftlich zu nutzende und zu gestaltende Räume fehlen, wird an Henri Lefebvres Recht auf Stadt (1968) erinnert, in dem es heißt: „Zu den herausbildenden Rechten gehört das Recht auf Stadt (nicht auf die alte Stadt, sondern auf das städtische Leben, die erneuerte Zentralität, auf Orte der Begegnung und des (Aus)tauschs, auf Lebensrhythmen und Tagesabläufe, die den vollen und vollständigen Gebrauch dieser Augenblicke und Orte erlauben.“
Bereits seit vielen Jahren arbeitet transparadiso an einer prozessorientierten und sozial engagierten Methode für Stadtplanung, und prägt damit den Begriff des direkten Urbanismus. Dieser bedeutet, künstlerische Strategien und urbane Interventionen gleichwertig zu herkömmlichen Planungsmethoden zu etablieren und diese längerfristig in Stadtentwicklungsprozesse einzubinden, um auf aktuelle und unplanbare gesellschaftliche Herausforderungen reagieren zu können. Im Sinne von „Forschung als Praxis“ werden ortsspezifisch künstlerisch-urbane Strategien und Tools konzipiert, in Forschungsprojekten analysiert und weiterentwickelt. Damit verortet sich direkter Urbanismus als dritte Ebene zwischen Urban Design und Urban Planning und widersetzt sich entschlossen der Dichotomie einer Top-down- und Bottom-up-Stadtplanung. „Anstatt eines allgemeinen Rufs nach Partizipation, der oft in eine Alibi-Beteiligung in Planungsprozessen mündet, ist es wesentlich, die AkteurInnen entsprechend ihren verschiedenen Expertisen und Rollen sowie den Anforderungen vor Ort einzubinden“ betonen die KünstlerInnen. „Ebenso muss dem Ansinnen entgegnet werden, KünstlerInnen für die Lösung sozialer Probleme zu instrumentalisieren.“

Methoden der unterschiedlichen erarbeiteten urbanistischen Strategien werden konkret und gleichzeitig als Beispiele für andere ähnliche Kontexte eingesetzt, um damit eine über die Projektphase hinausgehende Involvierung in die Stadtentwicklung in Graz vorzubereiten. Public works wird die School for Civic Action in Andritz realisieren, die sie bereits 2018 in Roskilde (DK) durchgeführt hat, und damit die Methode der temporary commons und des instant city-making im städtischen Kontext des Andritzer Hauptplatzes einsetzen. transparadiso selbst wird in Waltendorf den Third World Congress of the Missing Things organisieren und über die Methode der Wunschproduktion Fragen konkreter Stadtentwicklungsprozesse und des Zusammenlebens gemeinsam mit den BürgerInnen bearbeiten. orizzontale plant den Archipel der Commons in Liebenau, als ersten Commons auf dem Wasser (im Bereich des neuen Landschaftsraums, der aufgrund des Murkraftwerks entstand), der Visionen für eine zukünftige Gesellschaft erforscht und die Frage stellt, ob ein schwimmender Archipel einen neuen realen Raum für Gemeinschaft schaffen kann. In jener Übergangszone zwischen Landwirtschaft, Landschaft und Wohnen realisiert Georg Winter mit der AG AST (Arbeitsgemeinschaft Anastrophale Stadt oder AG Agrikultur-Stadt-Transfer) in Wetzelsdorf den TanzPflanzPlatz, in Kooperation mit der Landwirtschaftlichen Fachschule Grottenhof, von wo aus gemeinsam die zukünftige Ernährung des Wohnviertels mithilfe von Nutzpflanzen erprobt wird.

Das Spezifikum
NORMAL ist geprägt von einem kontinuierlichen Austausch der Ränder mit dem Zentrum. So werden die Projekte, die in Kooperation mit Organisationen vor Ort realisiert werden, in Kunstinstitutionen im Zentrum transportiert und umgekehrt. Unter anderem soll damit kritisches urbanes Handeln mit Methoden wie der Wunschproduktion oder Makro-Utopie als emanzipatorischer, urbanistischer Prozess etabliert werden, um fortan auf unerwartete Wendungen reagieren zu können. „(…) nicht ganz normal / normales Leben / normal werden / sich normal verhalten / sich normal entwickeln / etwas normal finden / du bist wohl nicht normal! / bist du noch normal? / menschlich normal / der ganz normale Wahnsinn“

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