02/08/2019

Vom Gewicht der Frisur

Emil Gruber zur Personale Thomas Schütte im Kunsthaus Bregenz. Bis 6. Oktober 2019, täglich von 10:00 – 18:00 Uhr

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02/08/2019

Thomas Schütte, Frisur der Aluminiumfrau Nr. 17, 2009

©: Emil Gruber

Thomas Schütte, Aluminiumfrau Nr. 1, 2009

©: Emil Gruber

Thomas Schütte, Ferienhäuser für Terroristen, 2002

©: Emil Gruber

Thomas Schütte, Haus für den schüchternen Verleger, 2006

©: Emil Gruber

Thomas Schütte, Bunker-Modell, 1984

©: Emil Gruber

Thomas Schütte, Woodcut. 2011, Chimney Detail

©: Emil Gruber

Thomas Schütte, Bibliothek innen

©: Emil Gruber

Thomas Schütte, Mann ohne Gesicht, 2018

©: Emil Gruber

Thomas Schütte während eines Publikumsgesprächs im Juli 2019

©: Emil Gruber

"Manchmal ist es Patience, manchmal ist es Boxkampf"
(Thomas Schütte zu seiner Arbeitsweise)
 
Thomas Schütte sieht müde aus. „Zuviel geredet in den letzten Tagen“, meint er. Er freut sich, endlich von hier wegzukommen. „Der Regen!“ Schütte muss das wechselhafte Wetter in Vorarlberg schon bei der Vorbereitung für seine erste große österreichische Personale im Kunsthaus Bregenz geahnt haben. Drittes Tier, ein riesiges Fabelmonster versprüht aus den Nüstern seines pferdekopfähnlichen Schädels Wasserdampf. Zwei gigantische auf dem ersten Blick klassische Kriegerdenkmäler stehen am Kornmarkt. Bei näherer Betrachtung entledigen die bis zu den Knöcheln in ihre Halterung eingesunkenen Skulpturen rasch sich ihrer heroischen Konturen. Fragil und gescheitert verlieren sie sich im öffentlichen Raum. „Füße habe ich noch keine gut gemacht, deswegen stecken die Männer im Matsch“, erklärt lakonisch der Künstler.

Thomas Schütte ist begehrt. Der Schüler von Gerhard Richter und Fritz Schwegler war mehrfacher Documenta-Teilnehmer und gilt heute selbst als Doyen der bildenden Kunst. Nach Paris ist das KUB seine zweite große Schau heuer. Eine große Retrospektive wird 2021 im New Yorker Museum of Modern Art zu sehen sein. „Was da gezeigt wird, ist ja von vorgestern. Wie geht es jetzt weiter?“ (Existentielle Frage von Schütte nach jeder Ausstellungseröffnung, auch hier in Bregenz)

Schütte kokettiert bewusst mit der anderen Seite jedes Künstlerlebens. Viele der aktuell zu sehenden Arbeiten habe er früher als nicht herzeigbare Werke in der Versenkung verschwinden lassen. „Fehler sind später die Lösungen. Es ist ein Glück, wenn man ein Lager hat und zehn Jahre warten kann. ... Sammler werden älter und manche Arbeiten werden ihnen zu groß. Jetzt bekomme ich alte Dinge wieder zurück. Sonst wäre es schon transporttechnisch unfinanzierbar, Arbeiten aus allen Windrichtungen zusammenzutragen.“ Schüttes Erklärungen, wie er seine aktuellen Ausstellungen zusammenstellt, zeugen von humorvollem Pragmatismus.

Schütte lebt in Düsseldorf. Rund eine halbe Stunde entfernt hat er sich ein „Verteilerzentrum“ für seine oft Tonnen schwere Arbeit errichten lassen. Nach eigener Planung ist auf einem ehemaligen Raketentestgelände seine Skulpturenhalle entstanden. Sie zeigt neben Ausstellungen von eigenen Arbeiten auch die von geschätzter Kollegen. „Manchmal sind am Abend nur 5 Euro in der Kassa. Die Besucher sind zur Hälfte Architekten. Die andere Hälfte sind Belgier“, schmunzelt Schütte. Aber wesentlicher ist ohnehin das Unsichtbare: Das gegenüber der Ausstellungsfläche deutlich größere Lager im Unterbau der Halle.

Apropos Architektur. Schütte hätte auch in dieser Disziplin reüssiert. Nicht nur das Modell seiner Skulpturenhalle, die mit ihrem nach innen durchhängenden, geschwungenen Dach und der ovalen Form dem Berliner Haus der Kulturen der Welt eine entfernte Reverenz erweist, ist im KUB zu sehen. Ein ganzes Stockwerk widmet sich den architektonischen Fantasien Schüttes. Im Bauhausstil sind drei Varianten von fröhlich leuchtenden Ferienhäusern für Terroristen entworfen. Bunte, einladende Bunkerentwürfe könnten als Zweiwohnsitz Tolkienfreunden gefallen. Deutlich verschlossener – als wortwörtlich abgehobene Festung – zeigt sich das Haus für den schüchternen Verleger. Transparent, offen und lichteinfallsfreudig bietet das Modell Sarg dem Leben und Sterben ein harmonisches Mit- und Nacheinander.

Vanitas ist ohnehin Thema bei Schütte. Sein bereits 1981 selbst gestalteter Grabstein hat in der Ausstellung seine vorübergehend letzte Ruhe gefunden. Da Schüttes ideale Postmortem-Lösung – das Einfamilienhaus im Waldfriedhof – eher unrealisierbar bleiben wird, „ist es zumindest beruhigend, den Grabstein schon einmal im Keller zu wissen“.

Ein ganzes Stockwerk ist Schüttes weiblichen Skulpturen gewidmet. „Ich habe meine eigenen Frauen noch nie so brachial gesehen“, ist er erstaunt. Die acht aus unterschiedlichen Metallen gefertigten wuchtigen Figuren und Torsi erzeugen einen Sog, der Betrachter viele Runden um die zerlegten, deformierten und verzerrten Körper gehen lässt. Jede Perspektive setzt die Werke neu zusammen, macht aus einem Körper einen neuen, manchmal sogar zwei. „Eine Skulptur zu gestalten, ist relativ einfach“, relativiert Schütte, „die Frisur ist die Herausforderung! Ohne überzeugende Frisur funktioniere kein Gesicht“, ist der Künstler sich sicher. „Und so ein Knie ist auch unwahrscheinlich schwer“, folgt noch ein tiefer liegender Nachsatz.

Die Männerwelt hat Schütte im letzten Obergeschoß gestaltet. Weitere bis zu den Knöcheln versunkene Skulpturen waten hier, bis es dunkel wird. Zwanzig Porträts amerikanischer Blues-Musiker umrahmen die fünf im Raum verteilten Matsch-Stick-Men. „Ich brauchte was für die Wände.“ Die Konterfeis von Muddy Waters, Mississippi John Hurt, Howling Wolf, Lead Belly und anderen wurden von Schütte aus Wikipedia runtergeladen. Nach drei Tagen Arbeit wurden die Musiker in Aquarellen zu Unikaten. Der Großteil der Bilder ist kurz nach dem Entstehen in Privatbesitz übergegangen. Die nunmehrigen Leihgaben sind in Sammlungen in Madrid, Toronto, London oder New York zu finden. Schüttes Urteil über seine eigene Arbeit: „Das mache ich aber nicht mehr, das war zu einfach.“

Eine 2017 ursprünglich für die französische Galerie Pietro Sparta geplante und umgesetzte Bibliothekspagode wurde in der Eingangshalle des KUBs wieder aufgebaut. Wissbegierige können innen in Publikationen zum Werk Schüttes schmökern. Die installative Konstruktion umkreisen großformatige Holzschnitte an den Wänden des Kunsthauses. Bauelemente sind darin zu erkennen. Die fast naive Formensprache verbindet sich mit der Strahlkraft der Farben zu einem mystischen Katalog der Transzendenz. *

* Transzendenz ist ein Wort, mit dem Thomas Schütte nichts anfangen kann. Er hat aber versprochen, demnächst in einschlägigen Erklärungswerken nachzuschlagen.

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