21/09/2018

Von Zeit zu Zeit

Im Kunsthaus Bregenz ist erstmals in Österreich eine Werkschau mit Arbeiten von David Claerbout aus den letzten Jahren zu sehen.
Das Berliner Olympiastadion ist einer der Hauptdarsteller der Ausstellung im obersten Stockwerk des KUB.

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Kunsthaus Bregenz
David Claerbout 
14. Juli – 7. Oktober 2018

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21/09/2018

Olympia (The Real-Time Disintegration into ruins of the Berlin Olympic Stadium over a course of a thousand years)

©: Emil Gruber

Olympia

©: Emil Gruber

Filmstill zu Olympia

©: Emil Gruber

Radio Piece

©: Emil Gruber

Radio Piece

©: Emil Gruber

The Quiet Shore Slideshow im Eingangsbereich

©: Emil Gruber

The Quiet Shore Slideshow

©: Emil Gruber

The Pure Necessity an der Fassade

©: Emil Gruber

The Pure Necessity an der Fassade

©: Emil Gruber

The Pure Necessity an der Fassade

©: Emil Gruber

Look for the bare necessities

The simple bare necessities

Forget about your worries and your strife
(The Bare Necessity – Song aus dem Walt Disney Klassiker Das Dschungelbuch, 1967)

Von Zeit zu Zeit

Unter der Leitung von Hitlers Chefarchitekten Speer sollte Berlin monströs zur „Welthauptstadt Germania“ umgestaltet werden. Nur wenig wurde umgesetzt, der Großteil der hochtrabenden und wahnwitzigen Ideen, wie die „Große Halle“ im Umfeld von Reichskanzlei und Reichstagsgebäude, für Veranstaltungen mit Platz bis zu 150.000 Menschen gedacht, blieb ein Gipsmodell.
Eines der vollendeten Propaganda-Bauwerke war das Berliner Olympiastadion. 1933, kurz nach der Machtübernahme Hitlers, begann nach einem Entwurf des Architekten Werner March der Bau. 1936, zur Sommerolympiade in Berlin, erfolgte die Einweihung.
1969 schrieb Albert Speer in seinen Erinnerungen: "Die Verwendung besonderer Materialien sowie die Berücksichtigung besonderer statischer Überlegungen sollte Bauten ermöglichen, die im Verfallszustand, nach Hunderten oder (so rechneten wir) Tausenden von Jahren, etwa den römischen Vorbildern gleichen würden."
1943, mit dem Beginn der Bombardements der Alliierten, wurden in die Unterkonstruktion der Olympia-Anlage verstärkte Zwischendecken eingezogen. In den nun bunkerartigen Kellerräumen produzierten Unternehmen wie Henschel und Blaupunkt bis zum Kriegsende Flugzeug- und Radioteile. Trotz diverser Treffer überstand die Substanz des Stadions im Gegensatz zu anderen NS-Bauten die Zerstörung Berlins relativ unbeschadet.  Bald nach Kriegsende wurde das Gelände für die Öffentlichkeit gesperrt und zum „Operational Headquarter“, zur innerdeutschen Spionagezentrale der Briten. 1950 versuchten die Briten die Bunker zu sprengen, stoppten aber, nachdem die Statik des Säulengangs und des Tribünenkomplexes dabei gefährdet wurde.
Ab Mitte der 1950er Jahre ließ die deutsche Bundesregierung das Stadion sanieren. 1965 wurde es wieder als Sportstätte in Betrieb genommen. Für die Fußball-WM 1970 in Deutschland erhielt das Stadion eine Überdachung. 2000 bis 2004 erfolgte ein weiterer größerer Umbau, diesmal für die Fußball-WM 2006. 
Nachdem das „Tausendjährige Reich“ am Ende netto nur zwölf Jahre alt wurde, viele Umbauten am Objekt erfolgten, kann der Praxistest für Speers Ruinenwerttheorie am Berliner Olympiastadion im haptischen Leben nicht angetreten werden.

David Claerbout verarbeitet in seinen Projekten als Hauptbestandteil Zeit. Immer wieder dreht der belgische Videokünstler in seinen Arbeiten unberechenbar und unerwartet an der Uhr. Er beschleunigt, er verlangsamt, er lässt Zeit ein, er lässt Zeit aus. Manchmal wird seine Zeit etwas Statisches, kaum Bemerkbares, wenn er Filmen wieder die bewegten Bilder entnimmt. Stillstand wird  dagegen gedehnt, wenn er fotografische Elemente ins Filmische transferiert. Für den Betrachter entsteht die Forderung, eigene Zeit ins Universum von Claerbout mitzunehmen, eigene Zeit mit der des Künstlers zu konfrontieren.
Im Kunsthaus Bregenz ist nun erstmals in Österreich eine Werkschau mit Arbeiten aus den letzten Jahren zu sehen.
Das Berliner Olympiastadion ist einer der Hauptdarsteller der Ausstellung. In Olympia (The Real-Time Disintegration into ruins of the Berlin Olympic Stadium over a course of a thousand years) wurde die ursprüngliche Anlage von 1936 exakt digital nachgebaut. Claerbout nimmt Albert Sperrs „Ruinenwerttheorie“ auf. Spieleentwickler und Wissenschaftler wie Pflanzenkundler, Geologen, Wetterexperten brachten ihr Wissen ein, wie das Stadion – frei von menschlichen Einflüssen – für die nächsten 1000 Jahre altern würde. Seit 2016 läuft ununterbrochen diese Simulation, unabhängig ob sie in einer Ausstellung zu sehen ist oder nicht. Ständig werden neue Erkenntnisse in das Projekt eingespeist. 3016 werden die letzten Kamerafahrten durch das, was vom Stadion geblieben ist, stattfinden, die Antworten auf Speers Thesen gefunden werden. Für uns, die wir alle nur sehr geringe Chancen haben, das Ende des wohl am längsten dauernden Films der Welt zu sehen, hat Claerbout zumindest einen Trostpreis parat. Eine Bilderschau aus Screenshots aus den ersten beiden Jahren zeigen schon erste zarte Pflänzchen aus den Fugen der Betonplatten wachsen, hier und dort sind – noch sehr feine – Sprünge im Mauerwerk zu sehen. Die Pflanzen im Grünraum in den Außenbereichen haben dagegen schon ein deutliches Wachstum erfahren.

In The Quiet Shore (2011) fotografiert Claerbout einen Strand in der Bretagne in der Ebbephase. Das Meer weist eine unheimliche Ruhe auf. Nur wenige Menschen sind zu sehen. Im Flachwasser an den Klippen spiegeln sich viktorianische Villen. Es ist Sommer. Trotzdem wirken die silbrigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen kalt und frostig. Für Claerbout „ein Beispiel für die Suche nach Materialität im digitalen Medium, eine Suche, die an Bedeutsamkeit zunimmt, je mehr wir die materielle Welt gegen eine digitale Umgebung eintauschen.“

Ein Zen-Garten eröffnet Radio Piece (2015). Langsam beginnt eine Kamerafahrt zurück. Aus dem vermeintlich echten Garten wird eine Fototapete auf der Wand eines heruntergekommenen Zimmers, in der zwei Männer sich befinden. Einer der beiden hantiert an einem Tonbandgerät. Die Kamera verlässt durch ein Fenster diesen Raum. Am Ende verliert sich das Zimmer in einer Fassade eines der Hochhäuser des ehemaligen "Walled City Ghettos" in Hongkong.  2004 abgerissen, befindet sich heute ein weitläufiger Park auf dem ehemaligen Wohnblock-Gelände. Während der Reise der Kamera ins Freie bleibt jeder – mit Kopfhörern bestückte – Betrachter des Videos für sich akustisch weiter mitten im Zimmer sitzen. Die Mikrofone für die Tonspur wurden anhand einer Testpuppe so platziert, dass der Zuschauer das Gefühl hat, ständig sich mitten im Geschehen zu befinden. „Weil reale Orte und Ressourcen immer weniger verfügbar sind, kann der Raum zwischen den Ohren und den Augen als Refugium betrachtet werden“ (David Claerbout). 

Im echten Draußen, an der – realen – Fassade des Kunsthauses Bregenz läuft derweil, wenn es dunkel wird, ein weiterer Film. Auf dem ersten Blick sind stumme Sequenzen aus Walt Disneys Animationsfilm Das Dschungelbuch von 1967 zu sehen. Erst beim zweiten Hinschauen fällt auf, die uns alle bekannten Tiere hier verhalten sich – wie Tiere. Sie suchen nach Fressen, lauern auf Beute, trinken an Wasserstellen, schlafen. In The Pure Necessity (2016) wurden akribisch alle Protagonisten des originalen Dschungelbuchs neu gezeichnet, aber jeder Vermenschlichung bereinigt. Claerbout möchte nach eigenen Worten das Miteinandergefühl eines Kinobesuches aufbrechen. Er isoliert uns zu einzelnen Betrachtern im Halbdunkel vor der Fassade des KUBs. Auch hier eine Zeitreise: Vom Mantra des Miteinanders in der Nachkriegszeit hin zum heute ständig besungenen Hohelied auf die Einzigartigkeit der Individualität.

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