15/06/2020

Wohnen mit Recht

Ernst Hubeli:
Die neue Krise der Städte
Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert

Weil das Recht auf Wohnen ein Menschenrecht ist, für das es zu kämpfen gilt.
In zehn Thesen beleuchtet Architekt und Stadtplaner Ernst Hubeli den Zusammenhang zwischen Wohnen und Gesellschaft, privatem und öffentlichem Raum, Urbanität und Demokratie.

Rotpunktverlag 2020
1. Auflage, Broschur
192 Seiten, 16,8 × 10,7cm
ISBN 978-3-85869-865-0

Rezension
von Bettina Landl

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15/06/2020

Ernst Hubeli: Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert

©: Bettina Landl
©: Bettina Landl
©: Bettina Landl
©: Bettina Landl
©: Bettina Landl
©: Bettina Landl

Wenn Wahlfreiheit auf dem Wohnungsmarkt ein Luxus ist und monetären Wohlstand voraussetzt, ist die Folge eine weitreichende soziale Ausgrenzung und Spaltung. Diese hat sich in den letzten dreißig Jahren verschärft und auch den Mittelstand erfasst. So Ernst Hubeli in seinem aktuellen Buch Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert, erschienen im Rotpunktverlag, Zürich. Darin markiert er den herrschenden Wohnungsmarkt als einen repressiven Disziplinierungsapparat, der die Angst instrumentalisiert, kein Dach über dem Kopf zu haben oder zu finden. (zit. n. Foucault, 'Heterotopien', in: Die Abenteuer der Ideen, Ausstellungskatalog zur IBA, Berlin 1987) Dessen Folgen sind auch politisch: Wohnen als Machtmittel erzwingt unterwürfige MieterInnen, weshalb auch das seit einem halben Jahrhundert verbriefte „Recht auf Wohnen“ als Farce erscheint: De jure ist es ein Menschenrecht, de facto ist es für die Mehrheit eine Strafe.
Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2015 leben 47 Prozent aller MieterInnen ständig mit der Angst, dass ihre Wohnungen zu teuer werden. Noch beängstigter leben „kleinbürgerliche HausbesitzerInnen“, da sie ungewissen wirtschaftlichen Zyklen ausgeliefert sind und damit rechnen müssen, ihre Schulden und Zinsen nicht begleichen zu können. Hubeli erinnert an Bourdieu, der in einer langjährigen Forschung den „Drang zum Eigenheim“ zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Selbstbetrug und Betrug eingeordnet, Widersprüche zwischen Ressourcenverschleiß und staatlich geförderter Eigentumsideologie aufgezeigt und Werbestrategien des „symbolischen Kapitals“ dokumentiert hat, um zu dem Schluss zu kommen, dass das „Eigenheim die Hauptquelle kleinbürgerlichen Elends“ ist. Hubeli fragt, wie es möglich ist, dass MieterInnen, die in ständiger Angst leben, die Miete nicht bezahlen zu können, dennoch die Interessen der VermieterInnen vertreten, wenn über verschärfte Mieterrechte entschieden wird? Wie es sein kann, dass die eigene Altersvorsorge die eigene Miete verteuert und wieso der globale Immobilienmarkt ganze Städte erobert, nur um sie dann zu veröden?

Der Autor ist Architekt und Stadtplaner, war Professor und Leiter des Instituts für Städtebau an der TU Graz, Chefredakteur der Fachzeitschrift Werk und ist seit 1982 Mitinhaber des Architekturbüros Herczog Hubeli in Zürich, das Forschungen zu Architektur und Städtebau verfasst sowie zahlreiche Bau- und Stadtteilprojekte realisiert hat.
Hubeli spannt in seiner in drei Kapitel unterteilten Streitschrift (Wohnen – Paradox und Widerspruch, Enteignung und Aneignung) den Bogen von der Antike bis heute, zitiert neben Homer, Engels, Heidegger auch Habermas, Beckett und Hegel, und spricht von einem „kreativen Wendepunkt“, der in Sichtweite oder gar schon erreicht ist. Er fragt, ob die Umstände und die Art, wie gewohnt wird, zunehmend in Widerspruch zum Alltäglichen und Erträglichen treten – nachdem über Dekaden weder die Gesellschaft das Wohnen noch das Wohnen die Gesellschaft gespiegelt hat, weder deren Entwicklung noch deren Möglichkeiten? Denn: Es werden jene Wohnungen am meisten gebaut, welche die wenigsten Leute wünschen. Und Hubeli erklärt, dass sich in der Wohnungsfrage politisch-ökonomische mit seelisch-kulturellen Aspekten verketten und sich dabei auch gegenläufige Kräfte manifestieren. Er proklamiert: Wenn das Bodeneigentum und die Art, wie gegenwärtig gewohnt wird, im Widerspruch zu den real stattfindenden Veränderungen stehen, wird dieser Widerspruch sich früher oder später auflösen. Ohne Bodeneigentum wäre der Kapitalismus buchstäblich seines Fundaments beraubt gewesen. Boden ist per se nicht veränderbar, nur seine Verwertung und sein Gebrauch sind es.

Hubeli unterstreicht die Beobachtungen der Stadtforscherin Saskia Sassen, wie die seit Jahrzehnten sich vollziehende „Finanzialisierung der Städte“ und deren dereguliertes Wachstum eine schleichende Entmachtung der Stadtgesellschaft nach sich zieht, die in der Folge einer zunehmenden Verödung und Entwertung ihrer urbanen Alltagskutur ausgesetzt ist. Diese neuen Kräfte und Dynamiken haben die inneren Widersprüche von Bodeneigentum verschärft. Dabei ist die Wohnungsnot nicht ungewollt. Sie gehört zum Geschäftsmodell, das sich mit dem globalisierten Boden- und Immobilienbusiness ökonomisch und politisch radikalisiert hat. Seit der Jahrtausendwende haben sich die Mieten in den größeren Städten verdoppelt oder verdreifacht – bei mehr oder weniger gleichbleibenden Löhnen. Politisch wirksame Widerstände sind bis dato selten. Allenfalls kommen sie bei aktuellen Volksabstimmungen zum Ausdruck, bei denen wohnbaupolitische Trendwenden eine Mehrheit finden. Massenmedien leisten ihren Beitrag zur Entpolitisierung, wenn sie Wohnungsnöte mit empörenden Homestories als Schicksalsschläge personalisieren. Dabei ist fester Bestandteil der Wohnmiseren, dass sie bestritten werden und hinter Durchschnittswerten verschwinden. Die sogenannte „bezahlbare Wohnung“, die Stadtregierungen heute versprechen, ist keine karitative Angelegenheit, betont Hubeli und fragt: Ist es der Zweck von „bezahlbaren Wohnungen“, Niedriglöhne zu ermöglichen? Oder entstehen Niedriglöhne, weil es keine „bezahlbaren Wohnungen“ gibt?

Würde das Recht auf Wohnen, das heute weltweit verankert ist und grundrechtlich denselben Stellenwert hat wie das Recht auf Bildung, das Recht auf sozialstaatliche Grundversorgungen oder die Freiheitsrechte, tatsächlich umgesetzt, geschähe dies zum Beispiel in Form einer Versicherung vergleichbar mit der gesundheitlichen Grundversicherung. Doch im Gegensatz zur Gesundheit gilt Wohnen – in welcher Form auch immer – noch als selbst verschuldet. Wie ist es möglich, die stadtzerstörende Wucht zunehmend aggressiver Immobilienspekulation abzufedern? Welche Machtkonstellationen wären dafür nötig? Zwingt der Nachfrageschock auf dem Wohnungsmarkt den Arbeitsmarkt dazu, Bodenreformen anzustoßen? Wie lange noch können globale Konzerne ihre Standorte von Hoch- in Niedriglohnländer verlagern, um steigende Mietpreise nicht mit Lohnerhöhungen ausgleichen zu müssen? Sind die Möglichkeiten solcher Standortverlagerungen inzwischen ausgereizt, weil das globale Kapital längst alle Peripherien der Welt erschlossen hat? Muss demzufolge der Sozialstaat einspringen und Mietpreiserhöhungen subventionieren? Oder ist die Umverteilungspolitik am Ende, weil es nichts mehr zu verteilen gibt?

Wohnen ist heute zum Problemfall geworden. Es entsteht nicht aus einer Vorstellung von Gesellschaft und die Gesellschaft selbst hat heute auch keinen Entwurf für das Wohnen, befundet Hubeli und stellt die Frage: Ist der Zusammenhalt, sind die Begriffe „Wohnen“ und „Gesellschaft“ nicht (mehr) selbstverständlich, sind sie anachronistisch geworden? Er zitiert Fukuyama, Sloterdijk und Han, betont den Umstand, dass sich heute immer kleinere Gruppen um ihre eigenen ethischen, geschlechtlichen, kulturellen und anderen Präferenzen scharen, sich abschotten und politisch nur manifest werden, wenn Identitäts- und Statusverluste drohen. Er spricht vom „reichen Pöbel“, der seine Macht gegen den Staat ausspielt und dem Too-big-to-fail-Dogma, das ein identitätsloses „Systemisches“ vortäuscht und seine Profiteure gegen Kritik immunisiert. Wer sich hingegen als Verlierer (am Wohnungsmarkt) fühlt, wird sich kaum gegen ihn auflehnen, sondern einen Schuldigen ausmachen und verkehrt das Recht auf Wohnen als Menschenrecht dabei nicht selten in ein völkisches Recht. Doch ein Menschenrecht kennt selbstverständlich keine Identitäten – entweder gilt es für alle oder für niemanden!

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