11/06/2019

Wolkenschaufler_23

Von Gurkerln und Zwergerln

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"Erwin Wurm bringt Kunstwerke in merkwürdige Situationen: Auf Fritz Wotrubas Liegender Figur hat er etwa eine Wurstsemmel mit Gurkerl abgelegt." (mehr dazu siehe Link museum-joanneum.at)

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Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

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11/06/2019

Erwin Wurm: 'Ohne Titel', 2016, (unter Verwendung von: Fritz Wotruba, Liegende Figur, 1953). [Bildbearbeitung Mraček]

Von Gurkerln und Zwergerln

Kein Regen. Im ganzen Bundesgebiet waren die meisten Bäche, Flüsse und Seen ausgetrocknet. Aufgrund der inzwischen 32 Monate anhaltenden, weit überdurchschnittlichen Hitze und der vom Süden her eingewanderten Anopheles-Mücken kam es insbesondere im Salzkammergut zu Fällen von Malaria. Die vorwiegend auf Wasserkraft angewiesene heimische Elektrizitätswirtschaft war schon im ersten Jahr der großen Hitze zusammengebrochen. Der Wald war von ausgedehnten Bränden betroffen. Infolge innerstädtischer Trockenheit fielen in Wien Fassadenteile allenthalben auf das Trottoir. In der Gesellschaft, nicht zuletzt der steigenden Arbeitslosigkeit infolge Wassermangels geschuldet, machte sich zusehends Unbehagen breit. Vor allem die Bewohner der Bundeshauptstadt fühlten sich „vor neun Uhr morgens ausgesprochen mies“.
Die Ursachen von Hitze und Trockenheit vermutete man unter anderem in einer Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts oder der Verschmutzung der Atmosphäre durch Atombomben, Überschallflugzeuge und ähnlichem.

Allgemeines Schwitzen war in einem dystopisch angelegten Österreich zu Anfang der 1970er Jahre nolens volens gesellschaftlich akzeptiert. Und die Regierung in Jörg Mauthes Roman aus dem Jahr 1974 ist verzweifelt damit befasst, Kompensationen gegenüber einer Klimakrise zu finden, was naturgemäß zu einer Regierungskrise führt. Es mag sein, dass Jörg Mauthe den 1972 veröffentlichten Bericht Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome kannte. Neben Problemen um die Zukunft der Weltwirtschaft wird darin auch der wechselwirkende Klimawandel thematisiert, vergleichbar den klimatisch bedingten Kalamitäten des Romans.
Minister und Sektionsräte entziehen sich demnach reihenweise ihrer Amtstätigkeit und ergeben sich – wäre das Phänomen damals schon so bezeichnet worden – dem Burnout. Der aus Kärnten stammende Landwirtschaftsminister – ob seines Dialekts gleichermaßen oft gehänselt von der etwas spröden Wissenschaftsministerin wie vom Unterrichtsminister aus dem Burgenland – ist verschwunden. Vom Bundeskanzler damit betraut, Wasser herbeizuschaffen, hat er sich wohl auf seinen Bauernhof im Rosental zurückgezogen und ward nicht mehr gesehen.
Aber da ist immerhin der jungendlich wirkende Legationsrat Dr. Tuzzi, manchen vielleicht bekannt aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Als Vorstand des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen muss er sich eines Geheimauftrages annehmen, den ihm der ebenfalls hitzekranke und im Job offensichtlich überforderte Kollege Twaroch hinterlassen hat. Auch der Terminus Leak freilich war zu der Zeit von Mauthes Erzählung noch nicht gebräuchlich, dennoch ist man sich im Roman der Gefahr ungewollter Veröffentlichung bewusst. Twarochs bisherige Recherchen, die auf den Auftrag schließen lassen, müssen strengstens unter Verschluss gehalten werden. Ob vermeintlicher Absurdität geriete andernfalls die Regierung wohl in erhebliches Erklärungsmanko gegenüber Opposition und weiten Teilen der Bevölkerung. In Literatur und Dokumenten seit dem Mittelalter nämlich sucht Twaroch nach Aufzeichnungen über die Begegnung mit Zwergen. Denn die müssten doch eigentlich an den Quellen sitzen …

Inmitten der Misere immerhin bleibt ab und zu Gelegenheit, sich zu sammeln respektive sich zu zerstreuen. „Es gibt viele Formen menschlicher Geselligkeit“, beschreibt es der Autor, „die blödeste unter ihnen ist die Cocktailparty“. Anlässlich solcher unterrichtet uns der gelernte Kunsthistoriker Mauthe „In der Fortsetzung des siebenten Hauptkapitels …“ auf amüsante Weise von damaliger österreichischer Gegenwartskunst, die dem Verständnis jener wie gegenwärtig aktueller durchaus dienlich sein mag. Zuvor noch kurz zur Frage, weshalb eine Cocktailparty „blöd“ ist:
„Da steht man herum, hält in der einen Hand einen Teller, in der anderen ein Glas mit etwas, das man sonst nie trinken würde, und hat zahlreiche aus dieser Position sich ergebende Probleme zu lösen. Womit bringt man zum Beispiel das Sandwich zum Munde? […] Wie balanciert man mit Glas und Teller halbwegs graziös durch das Gedränge? Und wo lädt man die leeren Teller und seine Zigarettenasche ab?“ Ja, damals rauchte man noch und der Legationsrat Dr. Tuzzi nicht schlecht: Die „tägliche Zigarettenration“ besteht aus „zwanzig Memphis und zwanzig Gitanes, die er abwechselnd rauchte, […] was jedem Zigarettenraucher einen Einblick in die keineswegs spannungsfreie Seele diese Mannes gestattete“.
Die Cocktailparty und die Kunst also. Da „steht herum“, was im Wien der Zeit Rang und Namen zu haben vorgab: Ein „gewisser Ossi Wimmer“ (sic.) etwa, der ein „interessantes Projekt ausgearbeitet“ hat, „den Bioadapter“ (siehe: O. Wiener: Die Verbesserung von Mitteleuropa. 1969). Ein Ingenieur Schulz, der liebesfähige Roboter baut. Wolfgang Böhm (eine Erinnerung an Bruno Taut?), der vorschlägt, die Alpen grundsätzlich neu zu gestalten, „Bergspitzen abtragen und aus den Dreitausendern oben Springbrunnen heraussprudeln lassen. Die Natur ein Totalkunstwerk.“ Ein Namenloser, den alle kennen, will auf den Großstadtdächern „Wälder wachsen“ lassen und „ganze Stadtviertel zu neuen Almgebieten“ machen. Zudem will er Brauchwasser mittels „Recycling“ klären (F. Hundertwasser). Und Illustre mehr, ein Nitsch und irgendetwas mit Blut.
Dann ist auf der Cocktailparty aber auch Dr. Tuzzis Legationssekretär Trotta, an dem man Verwandtschaft mit Joseph Roths Figur zu erkennen meint. Trotta ist hitzebedingt zwar ebenfalls gerade krankgeschrieben – und im Amt ohnehin selten verfügbar – dennoch ist er kreuzfidel, wenngleich er seinem Chef Dr. Tuzzi schon einmal eröffnet hat, dass er sich die meiste Zeit wie eine literarische Figur fühlt. Für eine Cocktailparty reicht es offenbar allemal, und der fesche Trotta weiß sich auch zu helfen. Erinnern Sie sich jetzt bitte an das Problem mit Glas und Sandwichteller in Händen. Trotta nämlich lehnt lässig „mit elegant überkreuzten Füßen“ am einzigen, „nicht von Meisterwerken zeitgenössischer Kunst bedeckten Stück Wand“. Seinen Sandwichteller hat er „bequem auf den obersten Kubus einer Wotruba-Plastik so abgestellt, daß er der wuchtigen, ja titanischen Figur einen fast schelmischen Akzent verlieh“.

Bumsti! Wir legen Jörg Mauthes Roman aus dem Jahr 1974 nun zur Seite und wollen uns am Schluss dieser Wolkenschaufler-Geschichte der beinahe ganz gegenwärtigen Gegenwartskunst widmen. Vor zwei Jahren, in einer Ausstellung des Kunsthauses Graz zum Werk von Erwin Wurm, war dessen Plastik Ohne Titel, 2016, (unter Verwendung von: Fritz Wotruba, Liegende Figur, 1953) zu sehen. Wurms Plastiken wird immer wieder eine inhärente Ironie attestiert und so ist auf dem Knie der Liegenden eben ein Teller mit Wurstsemmel und Gurkerl abgestellt. In einem Künstlergespräch während der laufenden Ausstellung um die Quellen – wieder sind wir in der Nähe des Wassermangels – seiner Inspiration gefragt, antwortete der Künstler (nach mehrmaliger Erinnerung an die gestellte Frage), er habe früher sehr viel gelesen, könne sich aber kaum mehr erinnern. Heute dagegen sehe er sich eigentlich nur mehr Videos auf seinem Tablet an.
Wie die fragende Dame aus dem Publikum, fragt auch der Wolkenschaufler, ob, anstelle der Ironie, nicht ein „schelmischer Akzent“ solcher Plastik beigegeben wäre, hätte der Künstler in einem erläuternden Text auf das fiktive, aus der Literatur stammende Bild verwiesen, das er als physisches Kunstwerk in eine andere Form von Wirklichkeit übertragen hat?

Man sollte nach Zwergerln suchen. Vielleicht wüssten die Rat.

Literatur
Jörg Mauthe: Die große Hitze oder die Errettung Österreichs durch den Legationsrat Dr. Tuzzi. 1974.

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