09/02/2021

Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

09/02/2021
©: Zita Oberwalder

Ist das Kunst oder kommt die Polizei?

Dass „unbeauftragte Interventionen im öffentlichen Raum“ seit je vorgenommen werden, schreibt Elisabeth Fiedler (Kunst im öffentlichen Raum Steiermark) in ihrem Vorwort zum von ihr, Alexandra Riewe und Joachim Hainzl im Vorjahr herausgegebenen Band uncurated. Unbefugte Interventionen im Grazer Stadtraum. In dieser nachgerade enzyklopädisch angelegten Erfassung künstlerischer, und oft anonym erfolgter, Eingriffe im Stadtraum von Graz eröffnet sich jedenfalls ein Bild, das Fiedler im ganz allgemein verstandenen Zusammenhang sinngemäß als Kommunikation existentieller und neuralgischer Fragen menschlichen Zusammenlebens identifiziert beziehungsweise als Thematisierung von Problemstellungen der Allgemeinheit.

Der „Kommunikologe“ Vilém Flusser beschrieb das Phänomen Stadt als „eine Projektion von zwischenmenschlichen Projekten“(1). Geografisch sei Stadt eigentlich nicht lokalisierbar, vielmehr sei sie „überall dort, wo Menschen einander sich öffnen“ (2). Somit sei Stadt eine Verdichtung aller Arten kommunikativer Kanäle die man sich als ein Geflecht vorstellen kann, das bis zum Bild des Knotens führt, der das Individuum bezeichnet.
Walter Benjamin wiederum erinnert an solches Geflecht – respektive ist es „Gewebtes“ – insofern, als „das Wort ‚Text‘ – vom Gewebten: textum“ (3) stammt.

Die Stadt als Text zu lesen (4), wie es Michel Butor in seinem Essay von 1976 vorschlägt, wäre – im Sinn der Bilder, Zeichen oder Spuren – ganz ähnlich auf den rurbanen Raum zu übertragen. Und schließlich beschränkt auch Butor seine Lesearbeit nicht auf Gebäude oder Städte, vielmehr weitet er sie in Frontièrs (5) auf die Landschaft schlechthin aus. Neben „offenkundigem Text“ – Aufschriften, Werbung oder der Bestand von Bibliotheken – findet der Autor auch „nicht ausgeführte Schrift“ und meint damit Piktogramme, Verkehrszeichen, Gebäude und anderes mehr.

Zu diesem offenkundigen Text, der aus Wörtern gebildet ist, die man in Wörterbüchern findet, kommt ein großer Bereich von Halbtext, von nicht ausgeführter, im Entstehen begriffener Schrift, das Ensemble von Signalen und eben der Anhaltspunkte. […] Man kann sogar sagen, dass alle Teile einer Stadt einander wechselseitig ein wenig durch ein Vokabular bezeichnen, das man erwerben muß und das die Bücher uns manchmal lehren können. (6)

Stadt beziehungsweise Architektur wie Text zu lesen, sei hier noch angemerkt, ist keine Erfindung von Michel Butor; er selbst bezieht sich auf schon weit frühere Ansätze bei Victor Hugo.

Außer Frage steht, dass man vor allem in einer Stadt permanent von offenkundigem Text umgeben ist. Werbetexte im öffentlichen Raum erweisen sich auch als topografische Orientierungsmarken, in erster Linie aber dienen sie dem Marketing und die Diskussion um berechtigte Beanspruchung öffentlichen Raums durch die Privatwirtschaft in dieser Form ist virulent. Die Überlegung wäre zu führen, ob, neben ökonomischen Interessen, mit dem Anbringen von Werbeschriften darüber hinaus eine Machtdemonstration als Anspruch auf den Ort, auf den Raum, mehr oder weniger bewusst verbunden sein könnte. Nämlich ganz im ursprünglichen Sinn sogenannter Tags, die als Graffiti einen Revieranspruch von Straßengangs bezeichnen.

Ein quasi weltweit als Weichbild eingeschriebener Text, ein Schriftzug, verkörpert offensichtlich dieses Prinzip. Ursprünglich keineswegs als Kunstwerk gedacht, wurde im Sommer 1923 eine der wohl bekanntesten Werbeschriften in Form von 15 Meter hohen Buchstaben aus Holz in den Hügeln bei Los Angeles errichtet. Mit dem Schriftzug – in seiner ursprünglichen Form HOLLYWOODLAND – sollten Investoren auf ein großvolumiges Bauprojekt aufmerksam gemacht werden, das aber mangels Interesse nicht zustande kam. Die Werbeschrift wurde an ihrem Ort belassen und 1949 sogar wieder instand gesetzt, nun allerdings ohne die letzten vier Buchstaben. Es bleibt zu vermuten, dass spätestens zu diesem Zeitpunkt der damals schon emblematische Charakter des Schrift-Bildes für dessen Erhalt ausschlaggebend war. Physisch und wie ein Signet steht der Name des Stadtteiles über Los Angeles und wie die oben erwähnten Tags bezeichnet er in Konnotation Topografie gleichermaßen wie den Topos Hollywood mit Filmindustrie, Studios und Infrastruktur und dem Glamour der Stars.
Und ganz im Sinn Roland Barthes steht der plastische Schriftzug auch für wirtschaftliche wie mediale Macht dieser Industrie, die kultur- und meinungsbildend agiert, die gleichermaßen Desiderat und weltweiter Maßstab ist. Eine wenn auch tragische, wohl aber paradigmatische Initiation (und Identifikation) erfuhr das heute als Monument bezeichnete Schriftbild, als sich in einer „stilgerechten Inszenierung“ (7) eine junge aufstrebende Filmschauspielerin, ein Starlet, 1932 vom H in den Tod stürzte.
Schon fast einem Archetyp gleich erscheint in Gedanken der Schriftzug mit all seinen Implikationen, wenn man nur das Wort Hollywood ausspricht, mit diesem Bild – das man in der Werbebranche Klischee nennen würde – werden alle erdenklichen Klischees herbeigerufen.
Gerade das Phänomen der Wiedererkennung nutzten in Adaptionen und Konzepten inzwischen zahlreiche Künstler/innen wie etwa Ed Ruscha oder Inez van Lamsweerde. Für die 49. Biennale in Venedig, die 2001 von Harald Szeemann kuratiert wurde, betitelte Maurizio Cattelan sein Projekt mit HOLLYWOOD. In einer Kopie des originalen Schriftzuges, jetzt auf einer Länge von 170 Metern und in 23 Meter hohen, weißen Buchstaben, platzierte Cattelan den Schriftzug auf dem höchsten Punkt einer Mülldeponie bei Palermo auf Sizilien. In einem Kommentar sagte Harald Szeemann zu diesem Konzept, es sei wie eine kompositorische „Fuge“ entlang eines Themas zu interpretieren. Abgesehen davon, dass hier erstmals in der Geschichte der Biennale eine in vieler Hinsicht fernab gelegene Außenstelle eröffnet wurde, ist mit Cattelans Projekt eine mehrfache Dislokation des „Mythos Hollywood“ erreicht. Denkt man allein an die obskuren Hintergründe, mit denen das Geschäft Müll vor allem in Süditalien verbunden ist, und andererseits an die besagten Klischees um den Topos Hollywood, klingt Cattelans (Under-)Statement nachgerade euphemistisch: Zwei gegenteilige Wirklichkeiten habe er in dieser Installation miteinander überschnitten, es sei, als hätte man „Stardust“ (9) über die sizilianische Landschaft gesprüht.
Vielleicht nicht zufällig nahm Monica Bonvicini die Proportionen von Cattelans Schriftzug in nur marginaler Abweichung auf, wenngleich verkleinert. Eindeutig rekurriert auch ihr Schriftzug auf Hollywood, aber nun war an einem Ufer des Emscher-Kanals SATISFY ME in Lettern aus poliertem, spiegelndem Stahl zu lesen. Selbstredend nicht als Aufforderung zu verstehen, vielmehr als Evokation eines Gefälles von jenen Träumen, die (man sich um) Geld kaufen kann zum „unaufhaltsam fortschreitenden Verfall der ehemals stolzen Industrielandschaft“ (10). Und ähnlich Cattelans ist auch Bonvicinis Installation auf einer Abraum-Deponie platziert.
Rezent waren es nun fünf Männer und eine Frau, die das weltbekannte Signet – in bester Form des Adbustings – für ihr Anliegen umgestalteten. Im Februar nämlich wird in den USA an Krebsprävention erinnert und indem sie W und D mittels Planen zu B umformten, wollten die AktivistInnen auf Brustkrebsvorsorge aufmerksam machen: HOLLYBOOB. Ob ihnen dabei die historischen und künstlerischen Umstände bekannt waren, wissen wir nicht. Aufsehen wurde ihnen allerdings zuteil: Sie wurden aufgrund unerlaubten Betretens eines Privatgrundstückes von der Polizei festgenommen, wie es in einem Tweed der Los Angeles Times heißt. Es sei nur Hausfriedensbruch, schreibt die Los Angeles Police, das HOLLYWOOD –Sign sei nicht beschädigt worden.

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1_ Vilém Flusser, Die Stadt als Wellental in der Bilderflut, [1988], in: Ders., Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design, Mannheim 1995, S. 156.
2_ Ebda.
3_ Walter Benjamin, Pariser Brief (1). André Gide und sein neuer Gegner, [1936], in: Ders., Medienästhetische Schriften, Frankfurt am Main 2002, S. 258.
4_ Vgl. Michel Butor, Die Stadt als Text, Graz, Wien 1992 (La ville comme texte, 1976).
5_ Vgl. Michel Butor, Frontiers, Birmingham 1989.
6_ Butor, Die Stadt als Text, 1992, a.a.O., S. 9f.
7_ Roman Urbaner, Der Tod und das Mädchen, www.heise.de/tp/r4/artikel/27/27225/1.html
8_ http://www.postmedia.net/cattelan/hollywood.htm
9_ Die Statements von Szeemann und Cattelan habe ich 2009 einem Artikel auf http://www.postmedia.net/cattelan/hollywood.htm entnommen; die Website existiert nicht mehr.
10_ Bonvicinis Beitrag war Teil von Emscherkunst.2010 im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas 2010, www.emscherkunst.de

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