24/11/2020

zeitenweise – 01

Im Fluss mit Heraklit und im Wettlauf mit der Zeit

Der Ausnahmezustand ist ein anomischer Zustand, der sich über die gegebene Rechtsordnung hinwegsetzt und diese suspendiert. Die Krise, in der wir uns befinden, legt die Analogie nahe, diese beiden alternierenden Zustände als Wechselwirkung auf unser eigenes System zu übertragen.

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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

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24/11/2020

cul-de-sac

©: Severin Hirsch

Im Fluss mit Heraklit und im Wettlauf mit der Zeit

„Wir müssen irgendwo, wo immer wir sind, beginnen, und das Denken der Spur, das sich des Spürsinns nicht entschlagen kann, hat uns bereits gezeigt, daß es unmöglich wäre, einen bestimmten Ausgangspunkt vor allen anderen zu rechtfertigen. Irgendwo, wo immer wir sind: schon in einem Text, indem wir zu sein glauben.“ (Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 1974. S. 280f.)

Die Ausnahme von der Regel
Beginnen wir also da, wo wir uns befinden: in einem globalen Ausnahmezustand. Das Spezifische dieses Zustands ist, dass er ein anomischer ist, soll heißen, dass er das Recht/die Verfassung suspendiert und einen eigenen normativen Zustand konstituiert, frei nach der antiken Maxime necessitas legem non habet – Not kennt kein Gebot. Wir erwarten jede Woche mit Spannung neue Regierungsbeschlüsse, um uns darauf einzustellen, wie wir in der nächsten Zukunft mit der Pandemie und uns gegenseitig umzugehen haben. Wir. Gemeinsam. Das pantheistische All-Eine wird zum Pandämonium, zur Pandemie und gilt für viele Mitmenschen: mit allem eins und doch alleine. Ironischerweise hat die globale Vernetzung noch nie so viele Menschen einbezogen wie durch das Corona-Virus. Nur das Lachen bleibt angesichts der drohenden (politischen, ökonomischen und sozialen) Entwicklungen im Halse stecken.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat sich aus historischer Perspektive dem problematischen Verhältnis zwischen dem Ausnahmezustand und der geltenden Rechtsordnung gewidmet (Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2004) und auf die daraus folgende Gefahr einer Unentscheidbarkeit zwischen ius und factum, zwischen Legislative und Exekutive hingewiesen. „Das heißt, daß das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung heute an Bedeutung verloren und daß die Exekutivgewalt die Legislativgewalt faktisch zumindest teilweise absorbiert hat. Das Parlament ist nicht mehr das souveräne Organ, dem die ausschließliche Gewalt zukommt, den Bürgern Gesetze aufzuerlegen: Es beschränkt sich darauf, von der Exekutive erlassene Verordnungen zu ratifizieren. […] Just in jenem Moment, in dem die politische Kultur des Westens anderen Kulturen und Traditionen Unterricht in Sachen Demokratie geben will, macht sie sich nicht klar, daß ihr der Maßstab dafür völlig abhanden gekommen ist.“ (ebda. S. 26f.) Der Ausnahmezustand als Notstand, als status necessitatis, als Dringlichkeit, der sich – aus welchen Gründen auch immer (Aufstände, Terrorismus, antidemokratische Bewegungen, ökonomischer Lobbyismus) – zum Schutz des individuellen Lebens konstituiert, sich auf das Leben bezieht, ist zur Regel geworden und dringt vom öffentlichen Bereich in die Privatsphäre, oder besser gesagt: die Differenz zwischen Öffentlichem und Privatem ist aufgehoben, neutralisiert: durchgestrichen.

Was kommt danach?
Da der Ausnahmezustand als temporär begrenzter Raum betrachtet werden kann, stellt sich die Frage, was auf ihn folgt. Idealiter bedeutete die Aufhebung des Ausnahmezustands eine Rückführung in den ursprünglichen (Rechts-) Zustand. Doch Geschichte wie auch Gegenwart lehren uns, dass wir den Ursprung verloren haben, als wir das Paradies verließen. Nichts wird, wie es einst war. Das ist eine Erfahrung der Zeit. Die Rechtsordnung wird durch die Erfahrungen im Ausnahmezustand bestenfalls modifiziert oder durch Zusatzklauseln im Gesetzestext mit parlamentarischem Beschluss ratifiziert werden. Wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass nach Corona vor Corona ist, dass jegliche getroffenen Notstandsverordnungen nur auf das Wohl der Menschheit im Allgemeinen und zum Schutz des individuellen Lebens im Speziellen getroffen wurden. Vieles wird in den Alltag einfließen, zum Alltag werden, sich als probates Mittel zur Arbeits(losen)bewältigung, zur Umleitung von Geldflüssen erwiesen haben, ganz zu schweigen von den Lohnkürzungen und der ökonomischen Last, die das Volk zu tragen haben wird. Wir. Gemeinsam. Wir werden den Karren aus dem Dreck ziehen, ihn putzen, polieren, vergolden, uns mit einem bescheidenen Trinkgeld zufrieden geben (müssen) und dann brav hinterher trotten, selbst wenn manch einer auf der Strecke bleibt, und bei der nächsten Senkgrube von Neuem beginnen. Der Ausnahmezustand – und als solchen bezeichne ich ihn, fernab einer Kritik an der Regierung, fernab der Gefahr einer herannahenden Diktatur – richtet an uns die Frage, wie wir leben wollen, was wir bereit sind, aufs Spiel zu setzen, welchen Risiken wir uns ausliefern wollen, um würdevoll zu leben, und wir werden auch nach hoffentlich erfolgreicher Bewältigung der Coronakrise noch lange keine genuinen Antworten gefunden haben.

Die Krise, der Ausnahmezustand, bringt eine Zäsur mit sich, eine Bruchstelle, eine Öffnung, die wie eine Wunde am System haftet, dem öffentlich-rechtlichen wie dem individuellen-privaten, und seine Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit offenbart. Sie wird zum Beschleuniger und Verstärker von individuellen und kollektiven Gefühlswelten, von Neurosen, Soziophobien, Radikalisierungen wie auch von Empathie und Solidarität. Dieses Aufbrechen einer Nahtstelle, diese Durchbrechung eines für gegeben angenommenen Raum-Zeit-Kontinuums schafft zugleich auch Raum für Reflexion, für die Hervorbringung neuer Bedeutungen, neuer Kontexte und zeigt die Fragilität, mit der wir an unser eigenes Leben gebunden sind, unserem eigenen Leben Sinn geben. Die Krise rüttelt an den metaphysischen Grundfesten, sofern sie noch vorhanden sind und betrifft jede/n einzelne/n von uns, jede und jeden in erster Linie für sich. So wie der Ausnahmezustand mit der Rechtsordnung in einem Verhältnis von Sinnentleerung und Sinngebung steht, steht auch unser Leben mit unseren Überzeugungen in einer Wechselwirkung. Alles, was für uns Bedeutung hat, kann sich schon morgen seines Sinns entleeren, alles verändert sich und nichts bleibt gleich. Dennoch brauchen wir Fundamente, auf denen wir aufbauen können, um zu sprechen, um zu antworten, um sich gegenseitig zu verantworten, um zu handeln. Wir stehen erst am Anfang der Krise. Wenn wir Corona hinter uns gelassen haben, stehen uns große soziale und ökonomische Umwälzungen bevor. Der nächste Ausnahmezustand sollte dann aufgrund der Kraft der Demokratie, der Macht des Volkes ausgerufen werden und nicht von Kafkas Schloss aus.
„Im Recht seine Nicht-Beziehung zum Leben und im Leben seine Nicht-Beziehung zum Recht offenbar werden zu lassen heißt, zwischen ihnen einen Raum für menschliches Handeln zu eröffnen, der vormals den Namen des ,Politischen’ für sich einforderte. Politik aber hat eine dauerhafte Verdunkelung erlitten, denn sie hat sich am Recht infiziert und im besten Fall selbst als konstituierende Gewalt […] begriffen, sofern sie nicht einfach auf Gewalt […], die mit Recht schachert, reduziert wird. Wahrhaft politisch ist indessen nur solches Handeln, das den Bezug von Gewalt […] und Recht rückgängig macht. Und nur vom Raum aus, der so sich öffnet, wird es möglich sein, die Frage nach einem eventuellen Gebrauch des Rechts nach der Deaktivierung des Dispositivs zu stellen, das es – im Ausnahmezustand – an das Leben band.“ (ebda. S. 104f.)

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