22/12/2020

zeitenweise – 02

Die Frage nach der Zukunft und dem günstigen Zeitpunkt

Die Frage nach der Zukunft richtet sich als Frage zugleich an uns selbst. Wenn wir etwas verändern wollen, bedarf es einer Öffnung hin zum Unbekannten – einer unbekannten Zukunft gegenüber wie dem unbekannten Selbst.

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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

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22/12/2020

Zerruettelkeyt

©: Severin Hirsch

Die Frage nach der Zukunft und dem günstigen Zeitpunkt

„Ich unterscheide zwischen Zukunft und ,Avenir’, der zukünftigen Zeit. Zukunft ist das, was morgen, später, im nächsten Jahrhundert sein wird, das, was absehbar ist, was geschehen wird. Es gibt also eine vorprogrammierte, vorhersehbare Zukunft, die festgelegt, vorgeschrieben, d.h. irgendwie geplant und absehbar ist. Ich bevorzuge das Wort ,Avenir’, das Kommende, die zukünftige Zeit, denn es bezieht sich auf jemanden oder etwas, das kommt und das in seiner Ankunft nicht vorhersehbar ist. Für mich ist das die wahre Zukunft. Das Unvorhersehbare. Das oder der Andere kommt, ohne dass ich es oder ihn erwarte. Wenn es also eine wahre Zukunft jenseits der Zukunft gibt, dann ist es die zukünftige Zeit im Sinne des Kommens des Anderen, und zwar dann, wenn ich es nicht vorhersehen kann.“ (Jacques Derrida, aus: Kirby Dick und Amy Ziering Kofman, Derrida, Film, USA 2002.)

In unserer kulturellen Konzeption stellt sich Zeit als ein irreversibles Kontinuum dar. Hinter uns die verlorene Vergangenheit, vor uns die ungewisse Zukunft, dazwischen stehen wir, in einer unfassbaren Gegenwart. Unfassbar, da sich der Moment, das Hier und Jetzt, unserem Bewusstsein entzieht und als Wirklichkeit, als realer Raum erst in der Zukunft konstituiert. Abseits der Sprache, der Reflexion gibt es keine Präsenz. Wir sind eigentlich nie da. Gerade deshalb wollen wir begreifen, die Zeit erfassbar machen und kontrollieren. Dafür gibt es dann Statistiken und Prognosen, Zahlen und Fakten. Wie es momentan aussieht, hängt unser ganzes (Über-)Leben an solchen Zahlen, sowohl gesundheitlich als auch wirtschaftlich. Alles ist beängstigend. Dabei sollten wir nicht außer Acht lassen, dass wir uns bereits seit langem in einer viel größeren Katastrophe befinden: einer ökologischen, vielleicht auch einer humanitären, bedingt durch ein globales Wirtschaftssystem, das stets nur Wachstum und Fortschritt im Visier hat, bedingt durch unseren eigenen Lebensstil und unser Konsumverhalten. Auch wir haben den Maßstab für unser Leben aus den Augen verloren, den Bezug zur Außenwelt, zu unseren Mitmenschen. Wir haben uns verloren – in einer Welt der Zahlen und Statistiken, der medial geschürten Ängste vor einer auswegslosen Zukunft. „[D]ie Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier. Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.“ (Walter Benjamin, Zentralpark (Auszüge). In: Ders., Aura und Reflexion. Schriften zur Kunsttheorie und Ästhetik. Frankfurt am Main 2007. S. 334-338. S. 337.)
Wir befinden uns nun in diesem „kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe“, ein Zeitfenster, durch das wir uns und die Welt mit anderen Augen betrachten könn(t)en. Kairos nannten die alten Griechen – im Gegensatz zu chronos, der linearen Zeit – diesen Augenblick, in dem Vergangenheit und Zukunft, die Zeit mit der Ewigkeit zusammentreffen, den günstigen Moment, in dem die richtigen und wegweisenden Entscheidungen getroffen werden. Wir alle haben unsere Muster, unsere Routinen, unsere Lebenskonzepte, die es zu hinterfragen gilt. Wir leben in Konstruktionen, mit denen wir sozialisiert wurden und die wir uns selbst gebaut haben. Nun eröffnet sich die Möglichkeit, das System (auch als unser inhärentes) zu hinterfragen, und abzuwägen, ob wir bereit sind, uns verändern zu wollen oder weiter zu machen wie bisher und die Katastrophe mitzutragen. Für Denker wie Bruno Latour oder Giorgio Agamben sind die Weichen schon gestellt: Die Großkapitalisten, die die ökologische Katastrophe stets auf Kosten der Gewinnoptimierung leugneten, realisieren, dass die Kapazitäten der Welt am Ende sind, und die einzige Möglichkeit, ihren Kindern einen adäquaten Lebensraum zu hinterlassen, ist, dass der Rest der Menschheit davon ausgeschlossen bleibt. Die Corona-Krise ist so gesehen nur das Laboratorium für den Ernstfall – die Prävention der wirklichen globalen Katastrophe. Social Distancing und/oder Isolation sind seit jeher bewährte Mittel, um Kontrolle über die Bevölkerung zu erhalten, aufkeimende Unruhen im Keim zu ersticken und Angst und Schrecken in den Köpfen der Menschen zu verbreiten – ein psychisches Terrorregime, das durch Massen(medien)manipulation Gewalt und Druck ausübt. Die Dark-Science-Fiction-Filme der 1970-er und 80-er Jahre können sich nun endlich bewahrheiten.
Das Konzept der Zukunft als einer Ankunft (des Anderen, des Fremden), als avenir, als adventus, als etwas, das auf uns zukommt anstatt wir darauf (wie auf einer Linie) zugehen, hat durchaus etwas mit Heilsbringung und Erlösung zu tun, wenngleich es sich – um mit Derrida zu sprechen – um das „Messianische ohne Messias“ handelt. Es ist die Öffnung hin zum Unbekannten, ein Sich-Öffnen gegenüber dem radikal Anderen, dem Nicht-Ich, einem Außen, das über mich hereinbricht (im Sinne einer Götterdämmerung). Die Zukunft als Prognose, als etwas Vorherseh- und Voraussagbares, ist nicht mehr als ein Kalkül, das der Eindämmung des Unbekannten dient und das wir als Last der Vergangenheit mit in die Zukunft tragen. Die Prognose ist sozusagen die Vorwegnahme der Zukunft und nimmt ihr die Möglichkeit, sich als unbekanntes Territorium zu entfalten. Die prognostizierte Zukunft verhält sich wie das Konzept des Selbst, in dem die eingefahrenen Bahnen den Orbit und die Orbita (die Augenhöhle, das Sichtfeld) nicht verlassen. Die Öffnung, um das Unbekannte ankommen und die Schwelle zum Ich übertreten zu lassen, ist das Exorbitante. Dieser Moment, der alles zusammenführt, ist der Kairos, das Messianische, Öffnung und Offenbarung, Rettung und Heilung.
Das Unbekannte (das Andere, das Fremde) ist auf Herbergssuche. Es steht vor der Tür und wartet auf eine Öffnung, um Einlass zu erhalten. Wenn wir uns öffnen, wird es ankommen. Das gilt für die Zukunft wie auch für die Menschen, die vor der europäischen Festung warten, oder diejenigen, die schon hier sind, ohne jemals angekommen zu sein. Wir sind nur Menschen, weil es andere Menschen gibt. Jeder Mensch ist eine Öffnung, genauso wie jeder Mensch auch eine Festung ist. Das Unbekannte, das Fremde, ist das andere Ich, das Nicht-Ich, das Unbekannte des eigenen Ichs. In der Öffnung zum Anderen vollzieht sich die Öffnung zum Ich, demaskiert sich das Ich und wird zum anderen Ich. Die Öffnung zur Zukunft, zum Unbekannten hin ist eine Geste der Gastfreundschaft. Schließlich war jeder Freund einmal ein Fremder.
„Der Fremde […] ist nicht nur jemand, zu dem man sagt ,komm’, sondern auch ,tritt ein’, tritt ein ohne zu warten, mache Halt bei uns ohne zu warten, beeile dich einzutreten, ,komm herein’, ,komm in mich’, nicht nur zu mir, sondern in mich: besetze mich, nimm Platz in mir, was gleichzeitig auch bedeutet, nimm meinen Platz ein, begnüge dich nicht damit, mir entgegen oder ,zu mir’ zu kommen. Die Schwelle zu überschreiten, bedeutet einzutreten und nicht nur sich zu nähern oder zu kommen.“ (Jacques Derrida, Von der Gastfreundschaft. Wien 2001. S. 89.)

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