02/08/2022

Eine Frage der (Ohn-) Macht

Das Fortschrittsdenken macht uns glauben, dass die Spur in nur eine Richtung führt und alles kontinuierlich besser wird. Die Ideologie einer hegemonialen Politik verwischt dabei die Dialektik, den Widerspruch, indem sie gemeinschaftliche Ideale und das wechselseitige Verhältnis zum individuellen Glück in dieser Bewegung ausklammert. Die Einheit von Ökonomie und Politik (oikos)/Gesellschaft/Individuum als demokratisches Ideal verliert sich in scheinbar voneinander unabhängigen Ebenen.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint heute ausnahmsweise außerhalb des üblichen Intervalls.

02/08/2022

bella vista

©: Severin Hirsch

„Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ,so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene.“ (Walter Benjamin, Zentralpark. In: Ders., Aura und Reflexion. Schriften zur Kunsttheorie und Ästhetik. Frankfurt am Main 2007. S. 334-338. S. 337.)

Einst lebten wir im Paradies. Durch die Hinwendung zum Materiellen (was einer Abkehr vom Vatergott, einer Unhörigkeit gegenüber dem gesprochenen Wort, dem Überschreiten des Gesetzten gleichkam) kam das Böse in die Welt – der Sündenfall. Der Beginn des Fortschritts lag im Erkennen, im Anerkennen und gleichzeitigen Übertreten des Verbotes. Das Verbot als Vorbote der Selbsterkenntnis, der Erkenntnis der eigenen Grenzen des Verhaltens als Verhältnis vom Ich zum Du. Der Sündenfall, die Ereignung der Katastrophe, wie ihn Benjamin beschreibt, ist keiner, der am Anfang der Menschheitsgeschichte stand, sondern ein permanenter, ein Weltuntergang ohne Ende. Der Fortschritt ist in seiner Dialektik als unumkehrbare Bewegung der Zeit zu begreifen, in der Wachstum und Verfall gleichermaßen stattfinden, in dem Sinne, „dass nämlich der ,Fortschritt‘ sowohl zum Schlimmeren als auch zum Besseren sich wendet.“ (Jacques Derrida, Grammatologie. Frankfurt 1974. S. 394.) Es liegt in der Dialektik einer Bewegung, die wir unter dem Begriff „Fortschritt“ zusammenfassen, die deshalb aber durchaus auch „Rückschritte“ beinhalten kann, dass sie nie nur in eine Richtung verläuft. Jede Bewegung fördert auch Gegenbewegungen zutage, jede Stimme Gegenstimmen. Das Paradies liegt hinter uns, jenseits der Reflexion. Das Paradies liegt vor uns, in jedem gemeinschaftlichen Ideal, das wir uns vor Augen halten und zu erreichen hoffen. 

Das gesellschaftliche Ideal ist ein geistiges Gemeingut, über das Konsens herrschen muss, ein Ziel, das erst durch den Diskurs, die Mitarbeit der Einzelnen definiert werden kann und somit auch – da Teil der jeweiligen Zeiten und Interessen – unabdingbar veränderlich bleiben sollte.   

Das Gemeingut als höchstes Ideal war den alten Griechen nicht fremd. Je mehr das Individuum nach diesen gemeinschaftlichen Gütern anstatt nach persönlichem Vorteil strebte, desto näher kam es der Idee des Guten – gleichbedeutend mit persönlichem Glück, das durch gerechtes Handeln erlangt wird. Das war auch die Idee von Platons Politeia: An der Spitze eines Staates sollten weise Menschen stehen, denen die Gemeinschaft und damit verbundene, der Gemeinschaft förderliche Tätigkeiten an oberster Stelle stehen. Die Individuen sollten in diesen Tätigkeiten Vorbildern nachahmen, ihren Geist und Körper schulen, auf dass sie selbständig denkende Menschen werden, die nach bestem Wissen und Gewissen selbst zur Gemeinschaft beitragen, indem sie an diesen „höchsten Ideen“ arbeiten. Solange die Gemeinschaft funktioniert, wird auch für die (Hervorbringung von) Individuen gesorgt sein. 

So paradox es auch erscheinen mag: Die Gemeinschaft fördert den Individualismus, weil der Einzelne in der Gemeinschaft umsorgt, belehrt, bestärkt wird und sich so in seinen individuellen Fähigkeiten als eigenständiger Mensch entwickeln und diese Fähigkeiten wiederum zum Wohle der Gemeinschaft einsetzen kann. Wo diese Ideale fehlen, zerfällt auch die Gemeinschaft und das Individuum kann sich nicht mehr frei und geschützt entfalten. Eine gesunde Gemeinschaft schützt und beschränkt die Eigenheiten und Eigenständigkeit des Individuums. Es scheint fast so, als ob gerade die Sozietät des Menschen seine Individualität und Freiheit gewährleistet. Gerade weil er ein soziales Netz hat, weil er in einer Gemeinschaft Geborgenheit findet, können sich auch individuelle Eigenheiten, eigenständiges Denken entwickeln. Je differenzierter eine Gesellschaft ist, desto mehr Freiheiten – als Denk- und Handlungsmöglichkeiten – liegen im Einzelnen vor. Die Voraussetzungen dafür müssen freilich in der Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Idealen (als „Idee“ der Herrschaftsform für die Gemeinschaft) und einer zwangfreien Entfaltung und kritischen Gestaltung (als Weiterentwicklung an gemeinschaftlichen Ideen, als Fortschritt der Ideale) des Individuums gegeben sein. Und selbstverständlich in der Bereitschaft an den und für die Ideen der Gemeinschaft mitzuarbeiten. 

In der Philosophie hat die Staatstheorie eine lange Tradition und immer standen die Aspekte der Interaktion von Individuum, Gesellschaft und Herrschaft und das daraus resultierende höchste Maß an Freiheit, Glück und Gerechtigkeit für alle im Vordergrund. Auch wenn die Masse der Gesellschaft (Arbeiter, Sklaven, Leibeigene, Frauen) von der Antike bis zumindest zur Französischen Revolution 1789, zumeist jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert, von den Bürgerrechten ausgeschlossen waren, wurden Schlagworte wie Selbstbestimmung, Freiheit, Glück, Gerechtigkeit in der politischen Theorie thematisiert und so zur Ausgangsbasis für die Allgemeinen Menschenrechte.

1795 verfasste Immanuel Kant eine kleine Schrift in liberaler Tradition unter dem Titel Zum ewigen Frieden, in der er sich mit dem Weltbürgertum und der Rolle der Politik als Friedensgarant beschäftigte. Darin verwies er auf die enge Verbindung von Politik und Moral und deren Bedeutung zum Wohl und (Rechts-) Schutz der Einzelnen. „Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und ob zwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst; denn diese haut den Knoten entzwei, den jene nicht aufzulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten. – Das Recht dem Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten.“ (Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Ders., Werke in zwölf Bänden. Band 11. Frankfurt am Main 1977. S. 195-251. S. 243f. Von mir hervorgehoben.)

Zu etwa derselben Zeit formulierte Joseph Marie de Maistre – seines Zeichens Gegenaufklärer und Gegner der Französischen Revolution – den viel zitierten Ausspruch „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.“ Die Idee der Demokratie stammt aus dem antiken Griechenland. Das Volk ermächtigt dabei einen Vertreter ihrer Interessen und ist zugleich die Kontrollinstanz. Bis es zu einer Entfaltung der „Macht des Volkes“ zumindest in der „industrialisierten“ Welt kam, ist viel Blut in Revolutionen und Kämpfen um Rechte und Selbstbestimmung geflossen. Der demokratische Grundgedanke der Herrschaftsausübung beruht auf der mehrheitlichen Ermächtigung einer Person, die im Interesse der Bürger:innen handelt und bei Verfehlung abgewählt werden kann. Bezieht man den Ausspruch Maistres auf demokratische Regierungen, heißt das, dass die Politiker immer so stark sind wie das Volk – oder besser gesagt: wie der Wille des Volkes. In diesem Sinne haben die Wähler die Aufgabe, die Handlungsmöglichkeiten und Freiheiten der Politiker zu begrenzen, auf dass diese die Freiheiten und Handlungsmöglichkeiten der Bevölkerung begrenzen, um eine funktionierende Gesellschaft zu gewährleisten. Die Macht der demokratischen Herrschaftsausübung sollte in einem wechselseitigen Verhältnis zur Macht des Volkes bestehen, in dessen Interessen gehandelt und vom dem sie ermächtigt wird. So gesehen hat eine demokratische Regierung keine Macht über das Volk, sondern durch das Volk.

Die Probleme, vor denen wir heute stehen, sind keine rein politischen. Sie hängen stark mit der Frage der Machtausübung zusammen. Das Volk hat sich selbst in eine Unmündigkeit begeben, seine demokratischen Instrumente aus der Hand gegeben und ist einer Ohnmacht verfallen, sich regieren zu lassen, ohne selbst Macht und Druck auf die Politik auszuüben. Die Politik selbst ist zu einer legitimierenden Handlangerin (und Handaufhalterin) der Wirtschaft geworden, ein stillschweigendes Abkommen zur vermeintlichen ökonomischen Absicherung von Staaten (und garantierten für Politiker:innen) und hat aus einer eigenen Schwäche und Handlungsunfähigkeit heraus das Zepter der Machtausübung – die eigentlich in einer gesetzlichen Begrenzung von Individuen und Betrieben zur Erhaltung der gesellschaftlichen Freiheit bestand – in die Hände der Banken und Wirtschaftsunternehmen gelegt. Volk und Staaten werden nicht mehr regiert, sondern den gierigen Händen eines großkapitalistischen Ausbeutertums überlassen und die Politik reagiert bestenfalls noch auf die Anforderungen des Kapitalmarktes. Gesellschaftliche Interessen und gesetzliche Beschränkungen – vor allem hinsichtlich der Wirtschaft und einer globalen Chancengleichheit – sind aus dem politischen Aufgabenbereich gefallen. Freiheit, Selbstbestimmung oder Glück von Individuen und Gesellschaft sind dem politischen Interesse vollends entrückt. Die pyramidalen Hierarchien des Kommunismus und des Hyperkapitalismus spitzen sich in faschistoid-diktatorischer Weise weiter zu. Die „Dekadenz des Westens“, im eigentlichen Sinne all jener Menschen westlichen Lebensstils, die daran glaubten, es könne ohne politisches Engagement so weitergehen, soll jetzt in die Schranken gewiesen werden. Die Dekadenz der hierarchischen Spitzen – ob kapitalistisch oder kommunistisch geprägt – mit Menschenleben unbarmherzig herumzuschachern, zu spielen, sie leichtfertig zu verspielen, gelangt auf den nächsten Level. Das Wort des Vaters, das Gesetz, das Verbot, zu lange unerhört und verspottet, muss so laut wie eine schallende Ohrfeige erhallen, damit die Erkenntnis verstummt. Die Götter verkünden lautstark ihren Traum vom Paradies. Jeder seinen eigenen. 

Im sich erwärmendem Meer treiben ob der Dichteverringerung des Wassers immer kleiner werdende Eisbergspitzen, während die unter der Wasseroberfläche größer werdende Masse verborgen bleibt. (Da es sich hierbei um eine Metapher handelt, möchte ich an dieser Stelle auf die Dichteanomalie des Wassers, in diesem speziellen Fall weiters unter Berücksichtigung der Salinität, nicht weiter eingehen.) 

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