28/02/2023

Über Recht und Unrecht: Nomos, Norm, Anomalie und Abnormalität

Staatsgründungen, ob durch Landnahme, Befreiungskriege oder durch friedliche Abspaltungen unterliegen immer einem Akt der Gewalt, der in Form der Rechtsetzung geschieht und in Form der rechterhaltenden Maßnahmen als physische, psychische oder symbolische Gewalt fortgeführt wird. Die Autorität (des Gesetzes) selbst entzieht sich dabei aber einer rational-empirischen Grundlage als Berechtigung ihrer derartigen Existenz.  

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

28/02/2023

with your feet on the air

©: Severin Hirsch

„Weil sie sich definitionsgemäß auf nichts anderes stützen können als auf sich selbst, sind der Ursprung der Autorität, die (Be)gründung oder der Grund, die Setzung des Gesetzes in sich selbst eine grund-lose Gewalt(tat). Das bedeutet nicht, daß sie an sich ungerecht sind (im Sinne von unrechtmäßig). Im gründenden Augenblick, der ihr eigener ist, sind sie weder recht- noch unrechtmäßig.“ (Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität. Frankfurt/Main 1991. S. 29.)

Der Begriff nomos entstammt dem Altgriechischen und bezeichnet das Gesetz wie auch den Brauch und die Übereinkunft. Im Gegensatz zu Nemesis, der Göttin der gerechten Zuteilung, der ausgleichenden Gerechtigkeit (in heutiger Sprache wohl auch der sozialen Umverteilung), Dike, der Göttin der Gerechtigkeit und Rechtsprechung, sowie Dikaiosyne, der Göttin der staatlichen Rechtschaffenheit, des Staatsrechts (die Iustitia der römischen Mythologie), ist der Nomos kein göttliches, weibliches Prinzip, sondern ein menschliches und männliches und der vierte und historisch letzte Rechtsbegriff des antiken Griechenlands. Der Nomos, der am Beginn jeder Staatsgründung (oder Landnahme) steht, ist immer ein Akt der Gewalt und notwendig für die Souveränität von Staaten.

„Die Staatsgründung markiert das Aufkommen eines neuen Rechts, sie tut es immer unter der Anwendung von Gewalt.“ (Ebda. S. 77.) Somit basiert der Anfang jedes Staates durch die Rechtsetzung – als rechtsetzende Gewalt – auf einem gewaltsamen Sich-Einschreiben (in die/als Rechtsordnung), das im weiteren Verlauf beim Vollzug der Gesetze – als rechterhaltende Gewalt – seine Fortführung findet, sei es durch die Androhung physischer Gewalt (wie beispielsweise durch Freiheitsentzug oder Todesstrafe) oder in Form psychischer oder symbolischer Gewalt. Wie man es auch dreht und wendet, der Staat ist und bleibt ein Gewaltkonstrukt, selbst wenn er auf Eigeninteressen und nicht auf gewaltsamer Territorialaneignung gründet. Das Recht, das Gesetz ist dadurch immer unrechtmäßig, vielleicht sogar ungerecht, denn selbst wenn rechtlichen Übereinkünften des Zusammenlebens in einem Staat(engebilde) von einer Mehrheit der betroffenen Bevölkerung zugestimmt wird, mangelt es der Autorität (des Gesetzes) an einer empirisch nachvollziehbaren Grundlage, an einer rational beweisbaren Rechtfertigung ihres Daseins und Soseins.

Gottesgnadentum oder die menschliche Vernunftbegabtheit als göttliche Einsicht in das Wesen der Universalien oder das Reich der Ideen sind nur sehr schwache Argumente, um einen gesunden Anarchismus zu widerlegen. Selbst im Naturrecht, für viele Philosophen der Antike Grundlage des Nomos und in Zeiten der Aufklärung durch Denker wie Hobbes, Locke oder Rousseau wieder zu Ehren gekommen, geraten die Verfechter:innen gegenüber jedweder Kritik in Argumentationsnot. Kants kategorischer Imperativ wie auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sind wohl die bekanntesten Beispiele dieses vernunftbezogenen Ansatzes des Naturrechts (ohne Berufung auf einen Gott oder eine göttliche Macht). Ebenso wie das Recht des Stärkeren/der stärkeren Gemeinschaft als physischer Gegenpart. Auf dieser Spur gleitet man dann schnell über den (Sozial-)Darwinismus in den Abgrund faschistischer Rechtsauffassung. Die Hauptkritik am Naturrecht bleibt jedoch die Universalität der Anerkennung, die für jedes Volk und jedes Individuum gleichermaßen bestehen sollte, wie schon Michel de Montaigne bemerkte, da sie für jede/n allein auf Wegen der Vernunft nachvollzieh- und einsehbar sein müsste. Ob es daran scheitert, dass nicht jeder Mensch von seiner Vernunftbegabung Gebrauch macht oder schlicht und einfach keine Universalien im (geistigen) Universum existieren, sei vorerst einmal dahingestellt.

Als souveräne Bürger:innen souveräner Staaten haben wir gewisse Rechte und Pflichten in Form von Handlungen und Unterlassungen, die durch die Rechtsnormen vorgegeben sind. Wir werden durch Gesetze und Rechtsnormen in unseren Handlungen (und deren Unterlassungen) normiert, oder anders gesagt, sie werden normativ, bewertbar in einem (Rechts-)Normensystem. Solange wir die Normen nicht übertreten, machen wir uns nicht strafbar und können als „normal“ erachtet werden. Die Norm wäre so gesehen ein gesetzlicher Durchschnittswert, wie dem System am wenigsten Schaden zugefügt wird und jede/r Einzelne den geringsten Schaden erleidet oder anderen antun kann. Doch nach der Norm, nach dem Recht zu handeln, ist noch lange nicht gleichbedeutend mit gerecht zu handeln. Dem Rechtssystem geht es nicht um Gerechtigkeit. Die Rechtsnormen und die handelnden Individuen in einem Staat bilden ein konsistentes System, innerhalb dessen sich Aussagen, Bewertungen und Schlussfolgerungen ableiten lassen, die jedoch von einem Standpunkt außerhalb des (jeweiligen) Systems völlig konträr bewertet werden können. Was in einem Staat als Recht gilt, kann in einem anderen als Unrecht oder Verstoß gegen die Menschenrechte gelten. Wir können letztendlich nicht wissen, ob wir universal „normal“ sind, nur weil wir in „unserem“ Staat nach dem geltenden Recht agieren.

Die Richtschnur (lat. norma) pendelt über uns. Und was, wenn bereits das System krankt, seine Rechtsnormen, seine Individuen Spuren des Abnormalen, des Pathologischen aufweisen und dennoch meinen, sich in einer Normalität zu befinden? „In Wahrheit ist die Umwelt des Lebewesens immer auch dessen Werk, weil es sich stets bestimmten Einflüssen entzieht und anderen wiederum aussetzt. Von der Welt aller Lebewesen lässt sich sagen, was Reininger über die Welt des Menschen sagt: Unser Weltbild ist zugleich ein Wertbild.“ (Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische. München 1974. S. 121.) Canguilhem, Arzt, Philosoph und Widerstandskämpfer des 20. Jahrhunderts, hat in Das Normale und das Pathologische aufzuzeigen versucht, dass die Krankheit normativ für den Normalzustand ist, dessen Bewertung erst durch seine Abwesenheit (die Abwesenheit der Gesundheit) erfolgen kann. Die Normalität lässt sich nicht bewerten, entzieht sich der Bemessungsgrundlage, da die Norm lediglich einen Grenzwert im Übergang zum Pathologischen darstellt, der von Individuum zu Individuum verschieden ist. In diesem Zusammenhang spricht er auch nicht von der Krankheit, sondern einer kranken Person als Symbiose von äußeren und inneren Einflüssen. Auch der Staat mitsamt seinen Organen, Individuen, Nachbarstaaten und Gesetzen ist eine derartige Symbiose, deren Normen ins Abnormale, deren Recht in Unrecht und deren Normalität nur allzu leicht ins Pathologische umschlagen können. Wir wissen und wir spüren es bereits. „Das Anormale erst gibt den Anstoß für das theoretische Interesse am Normalen. Normen werden als solche nur an den Überschreitungen erkannt. Funktionen werden nur durch ihr Versagen entdeckt. Einzig über die misslingende Anpassung, über erlittene Schlappen und Schmerzen kommt das Leben zum Bewußtsein und zum Wissen von sich selbst.“ (Ebda. S. 141)

Nach drei Jahren Pandemie, nach einem Jahr Krieg mit seiner beidseitigen, einseitigen Propaganda, nach den permanenten Flüchtlingsströmen, den Beben an der türkisch-syrischen Grenze, den Plänen unseres Bundeskanzlers zum Schutz der Grenze(n) lässt sich nur mehr schwer entscheiden, wer noch im Recht oder Unrecht, was noch Recht und was schon Unrecht ist. Ungerecht ist es auf jeden Fall. Und gerächt wird sich noch werden. Die Gewalt nimmt jedenfalls zu, als Druck auf die Gesellschaft, psychisch wie physisch. Wir befinden uns in einem Zustand der Aporie und Anomalie. Ganz ohne Gewalt werden wir da nicht unbeschadet herauskommen. Und sei es nur die Art von Gewalt, die bei der Staatsgründung am Werk und unvermeidbar ist. Die Demokratie ist im Kommen, sie muss von uns zu jeder Zeit in Angriff genommen und verwirklicht werden, greifbar und begreifbar bleiben. Wir dürfen das Feld nicht für jene räumen, die mehr Geld aus unserer Existenz machen als wir selbst. Nur weil sie mehr Einflussmöglichkeiten auf die Politik besitzen, heißt das noch lange nicht, dass der Nomos ihnen gehört, sich nach ihnen richtet und für sie biegt. „Wir“ sind die Masse, wir haben die Macht. „Das Spiel zwischen dem Volk als repräsentiertem Volkssouverän und seiner Repräsentation, zwischen Konstativum und Performativum verhindert, daß der Gründungsakt einmalig bleibt. Er markiert vielmehr die moderne Gesellschaft. Da das ‚Wir‘ des Volkes nicht mit sich identisch wird, wird die Gründung ständig wiederholt. Die Volkssouveränität wird immerzu aufgeschoben; sie ist die Differanz. Sie muß sich immer von neuem als gründende zur Geltung bringen, um die demokratische Gesellschaft daran zu erinnern, daß sie demokratisch ist.“ (Alex Demirović, Freiheit oder die Dekonstruktion des Politischen. Ein Plädoyer für Kritik. In: Jutta Georg-Lauer (Hg.), Postmoderne und Politik. Tübingen 1992. S. 121-143. S.141. Differanz als Eindeutschung des différance-Begriffs Derridas, Anm.)

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