28/03/2023

Das Erbe der Bienen

Gin-Boom-Trara. Was haben Gin, Bernard Mandeville und Wilhelm III. von Oranien gemeinsam? Alle drei kamen Ende des 17. Jahrhunderts aus den Niederlanden nach England und prägten oder zeichneten Bilder einer Zeit, die sich gegenseitig, gegensätzlich und gemeinsam stützend bis ins Heute in Verbindung stehen. Und was die Bienen dazu sagen.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

28/03/2023

and sometimes it is better to lie still

©: Severin Hirsch

Das Erbe der Bienen

Justitia, so hochgesinnt, 
Kann fühlen noch, ist sie auch blind. 
Die Wage oft der Hand entsank, 
Die nötig war zum Geldempfang,
Dem Recht gemäss – so schien es freilich –
Verfuhr sie, gänzlich unparteilich, 
Bei Mord und Akten von Gewalt, 
Die man mit Leib und Leben zahlt; 
Und mancher ward zu Fall gebracht 
Durch Schlingen, die andern er zugedacht. 
Doch hielt ihr Schwert – ward leicht entdeckt – 
Nur arme Teufel in Respekt, 
Die sich zwar nur aus Not vergingen, 
Jedoch alsbald am Galgen hingen, 
War's auch bloss um 'ne Kleinigkeit: 
Wenn nur die Reichen in Sicherheit! 
(Bernard Mandeville, Der unzufriedene Bienenstock oder Die ehrlich gewordenen Schurken. In: Ders., Die Bienenfabel oder Der Einzelnen Laster, des Ganzen Gewinn. S. 35-47. Göttingen 2021. S. 39.)

Was gilt in einer Gesellschaft als schützenswert, was braucht eine Gesellschaft, um sich als solche zu erhalten, sich weiterzuentwickeln, zu überleben? Geht es um gemeinsame Werte, um eine gemeinsame Geschichte/Tradition, um den Schutz der individuellen Freiheit und der Rechte (und Pflichten), um den Schutz des Eigentums, der Demokratie, um Aufrechterhaltung einer Gemeinschaft, um gemeinsame Verantwortung, um den Wunsch, die eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen umzusetzen, die eigenen Triebe und Begierden durchzusetzen? Geht es gar um den Schutz der Bienen und der Umwelt, die uns ernährt, uns erhält und uns Lebensraum bietet? Oder geht es wirklich nur um den Schutz von Reichtum und die Sicherheit der Reichen? Und warum reicht es uns nicht schon lange? Warum haben wir noch nicht/nie genug?

Als 2017 unser damaliger Bundeskanzler und jetziger (noch nicht ganz so) Altkanzler in einer TV-Debatte darauf hinwies, dass für junge Menschen Eigentum die beste Maßnahme gegen Altersarmut sei, empfanden viele diese Aussage als Zynismus und Realitätsfremdheit. „Fremd im eigenen Land“, könnte man sagen, ja so war er, unser Altkanzler, wie auch so viele andere politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger:innen. Viele haben damals milde gelächelt, spöttisch gelacht, ihn ausgelacht ob der Absurdität solch einer Verlautbarung. Eine Machbarkeitsstudie hat der Gute ja nicht durchführen lassen. Auch ich habe damals verständnislos den Kopf geschüttelt, mir dann aber gedacht, cum grano salis (mit einem Korn Salz, aber auch: scharfem Verstand, Witz, Spott; siehe dazu die Bedeutungen von sal), mit einem Körnchen Wahrheit wird er schon recht haben, wenn schon nicht gerecht sein, und habe – investiert. Damals waren die Kredite ja noch erschwinglich und einfach erhältlich für besitzlose Geringverdiener:innen wie mich, und wäre mir früher klar gewesen, welch eine Wohltat so eine Villa auf den sonnenbeschienen Hügeln am Stadtrand für mein Gemüt ist, wenn ich dem tristen Alltag aus meiner Stadtwohnung entfliehen will, hätte ich diesen Schritt schon viel früher gewagt. Zumal sich diese Investition mit einer Wertsteigerung von gut 50% in diesem kurzen Zeitraum durchaus schon gelohnt hat. Aber das konnte der Kanzler damals – vor der Pandemie, dem Krieg und der Energiekostenexplosion – ja wohl noch nicht wissen. Oder etwa doch? 

Heute ist es zunehmend schwieriger, trotz hohem Einkommen einen Kredit zu erhalten, wenn man nicht schon zuvor in den Genuss von hinreichend Eigentum für die notwendige Banksicherheit gekommen ist. Wer es bis jetzt nicht geschafft hat, sich ein Eigenheim aufzubauen, wird in den nächsten Jahren wahrscheinlich keine besseren Karten in die Hände bekommen. Dieser Umstand wird aber auch Konsequenzen für die gesamte Baubranche haben. Können nur wenige investieren, wird weniger gebaut, dann werden auch weniger Arbeitskräfte zum Einsatz kommen. Das trifft sich womöglich gut mit dem Facharbeitskräftemangel und der restriktiven Migrationspolitik der österreichischen Bundesregierung. Vielleicht spielt denjenigen, die doch noch zu erschwinglichem Eigentum kommen wollen, die steigende Inflation, die auch in sich steigernden Kreditraten zum Ausdruck kommt, in Form von Zwangsversteigerungen in die Hände – oder wiederum nur den großbesitzenden Schnäppchenjäger:innen, wie das schon in Griechenland nach der großen Staatsschuldenkrise 2008 mit anschließendem Ausverkauf durch ausländische Investments der Fall war. Schon damals waren die Banken und deren Aktionär:innen die großen Profitierenden, während die Bevölkerung den staatlichen Einsparungen und ihrem Schicksal überlassen wurde. Doch auch die Inflationsanpassung des Mietzinses und die mangelnde Handlungswilligkeit der Regierung machen Wohnen zu einem kaum mehr leistbarem Luxusgut. Anstatt der Mietzinsbremse lässt man lieber die Steuerzahlenden als Bittstellende an die eigens für sie und durch sie eingerichteten Sozialtöpfe herantreten. Der Reichtum muss, die Reichen müssen – im Gegensatz zur Würde des Menschen – unangetastet bleiben. So regelt das die „unsichtbare“ Hand des neoliberalen Marktes.

Als nach der Glorious Revolution 1688/89 im englischen Königreich ein Aufschwung von Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst stattfand, der königliche Absolutismus von einer königlich-parlamentarischen Staatssouveränität mit der Bill of Rights abgelöst, das Tauschsystem zunehmend zu einem Monetärsystem wurde, die religiöse Toleranz (gegenüber dem katholischen Glauben bis nach Nordirland) endete, sich ein frühbürgerliches System etablierte, schließlich der Goldstandard eingeführt und die Börse zu einem internationalen Handelsforum wurde, fand sich London in einem Zustand der Euphorie wieder. Das Leben und die Laster blühten, ebenso die Freudenhäuser und die Trunksucht. William Hogarths Bilder erzählen vom liederlichen Leben jener Zeit. Mit der Inthronisierung Wilhelm III. von Oranien 1689 kam auch der Genever, ein Wacholderdestillat, aus den Niederlanden nach England, um England die üblen Tee-Gewohnheiten auszutreiben – was zuerst zu einem Gin-Boom (wie heute) und dann zu einer massiven Gin-Krise führte, in der die Sterblichkeits- zeitweise über der Geburtenrate lag. Das Verbot von Gin führte letztendlich zu den Gin-Automaten in Katzenform mit Maul als Münzschlitz und Schwanz als Ausschankrohr als kleines Detail am Rande. 

Ein weiterer Export aus den Niederlanden war der Arzt, Sozialtheoretiker und Philosoph Bernard Mandeville, der 1705 anonym ein Pamphlet in satirischer Gedichtsform unter dem Titel Der unzufriedene Bienenstock oder Die ehrlich gewordenen Schurken als Groschenheft herausgab, das er 1714 und 1723 als Die Bienenfabel oder Der Einzelnen Laster, des Ganzen Gewinn, um mehrere theoretische Abhandlungen erweitert, veröffentlichte. Das Herausragende und Provokative seiner Schrift(en) war, dass er zu seiner Zeit nicht nur das Bild einer schamlosen, ausschweifenden, korrupten und egoistischen Gesellschaft quer durch alle Schichten zeichnete, sondern auch, indem er die individuellen Laster, die egoistischen Triebhandlungen und Begierden als Triebfeder für ein funktionierendes Staatssystem hervorhob. Indem auch untere Gesellschaftsschichten den Luxus, die Mode (wie etwa auch den Gin), den Stil der Oberen begehren und erwerben können, benötigen letztere neue Unterscheidungsmerkmale (erst SUVs, dann Elektroautos, oder eben – vermehrtes – Eigentum als Differenzierungsprinzip) – und dann beginnt das Spiel von vorne. Adam Smith und vor allem Friedrich August von Hayek (der österreichische Wirtschaftsnobelpreisträger) als Vordenker des Neoliberalismus sollten später bei Mandevilles Wirtschaftsmodell der Triebhaftigkeit und Begierden Anleihe nehmen – ebenso wie Freud hinsichtlich des Unbewussten. 

Mandevilles Gesellschafts- und Sittenbild in einem puritanischen England spiegelt sich also in der Triebhaftigkeit, im Begehren, in einem kollektiven Unbewussten als Ist- und nicht als Sollzustand wider, fernab der Tugend- und Moralvorstellungen seiner Zeit, wodurch er sich schließlich auch vor Gericht zu verantworten hatte. Doch die Einsicht, dass – solange Geld vorhanden ist – jede/r alles tut, um seine Triebe, seine Begierden zu befriedigen, ist bis heute eine Grundsäule der Wirtschaft und Werbeindustrie. Mit Sparsamkeit, Tugenden und strenger Sittsamkeit lässt sich kein Staat erhalten. Der Exzess, das Ausschweifende und Ausufernde, der Luxus, Teil einer Welt zu sein, die anderen beschienen schien, ist das eigentliche Schielen in höhere Sphären, nicht hinauf zum ewig Guten, den göttlichen Idealen, den Wert- und Moralvorstellungen. „Von Lastern frei zu sein, wird nie / Was andres sein als Utopie. / Stolz, Luxus und Betrügerei / Muss sein, damit ein Volk gedeih’. […] Mit Tugend bloss kommt man nicht weit; / Wer wünscht, dass eine goldene Zeit / Zurückkehrt, sollte nicht vergessen: / Man musste damals Eicheln essen.“ (Ebda. S. 47.)

Doch was geschieht, wenn den Massen nichts mehr zum Verprassen bleibt, wenn sich die grundlegenden Existenzkosten mit den maximalen Investitionsmöglichkeiten decken oder diese gar überschreiten? Dann werden die Fundamente des Staates von innen ausgehöhlt, die Sozialleistungen, die Demokratie zusammenbrechen, die Schuldigen unentschuldbar, die Schulden eingefordert, zwangsexekutiert, unter den Besitzenden aufgeteilt. Auch das ist Umverteilung. Die Tugenden und Moralvorstellungen werden gewichtig in den Vordergrund treten und auf die anderen lostreten. Schuld sind ja immer die anderen. „Jedoch ging einmal etwas quer, / Dann gab es gleich kein Halten mehr, / Heer, Flotte und Regierung flugs / Beschuldigte man des Betrugs, / Den man sich selbst zwar gern verzieh, / Indessen andern Leuten nie.“ (Ebda. S. 41.) Wir könnten uns auch einigen als die Vielen und auf die Straße gehen wie das derzeit in Frankreich ob des antidemokratischen Durchboxens der Pensionsreform der Fall ist, da und dort ein wenig zündeln, wir sind das Zünglein an der Waage der Justitia, uns zeigen, hervortreten, aus uns heraustreten, über unsere Grenzen gehen, uns überwinden, uns überlisten. Oder einfach wieder einmal die FPÖ wählen, als altbewährten Protestakt, im festen Glauben, dass sie es diesmal ernst meinen, dass sie diesmal alles für die anderen, für die Massen, für die Existenzbedrohten, aber nicht für die ganz anderen, sondern für uns, nur für uns, tun werden und diesmal nichts für sich selbst, sich an nichts vergreifen als an ihrer Barmherzigkeit, in ihrer ewigen Wiederauferstehung und Läuterung ist sie uns erschienen als altruistische Heimatpartei, vor der selbst der Heiland demütig niederkniet. „Drauf gab, gewöhnt an harte Mühn, / Der Schwarm sich ganz der Arbeit hin. / Am Ende dieses Tugendstrebens / und exemplarisch reinen Lebens / Ward ihm ein hohler Baum beschieden. / Dort haust er nun in Seelenfrieden.“ (Ebda. S. 46.) Und irgendwann sind sie dann ausgestorben. Die Bienen. Als Erbe hinterlassen sie ein Summen im Kopf. Unsinnige Unsummen.

Der deutsche Philosoph Stefan Gosepath hat unlängst einen Vortrag zur Abschaffung von Erbe und Schenkungen gehalten, da es vorrangig gegen das Gleichheitsprinzip verstößt. Ein sehr radikaler Gedanke und ein interessantes Gedankenspiel, sich zu Lebzeiten in Luxus bereits mit der Umverteilung desselben zu beschäftigen. Dem Staat und der Wohlfahrt der Bevölkerung täte die ständige Geld-Macht-Ruhm-Zirkulation wohl gut. Der Umwelt vielleicht weniger.  

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