25/04/2023

Emanation und Emanzipation

Unser Denken ist von althergebrachten Vorstellungen und Traditionen geprägt und durchzogen, doch die gesellschaftlichen Anforderungen der Gegenwart verlangen, dass wir uns von veralterten Tradierungen loslösen und die Funktionsweisen unseres Denkens und unserer Sprachgewohnheiten durchleuchten, wollen wir nicht den in weiten Teilen der politischen Landschaft vorherrschenden misogynen, homo- und xenophoben Ausgrenzungsdiskurs übernehmen.

25/04/2023

have a nice talking cat

©: Severin Hirsch

„Die Bilder gehen aus den Ideen hervor. Die Worte machen die Bilder klar. Um die Ideen vollständig auszudrücken, gibt es nichts Besseres als die Worte. Die Worte sind aufgrund der Bilder entstanden. Daher kann man die Bilder schauen, indem man die Worte untersucht. Die Bilder werden von den Ideen beherrscht. Daher kann man die Ideen schauen, indem man die Bilder untersucht. Die Ideen werden durch die Bilder vollständig erfasst und die Bilder durch die Worte klar gemacht. Daher haben die Worte den Zweck, die Bilder zu erklären; hat man die Bilder erfasst, so vergisst man die Worte. Die Bilder haben den Zweck, die Ideen zu erkunden; hat man die Ideen erfasst, so vergisst man die Bilder. Ebenso hat das Verfolgen der Spur eines Hasen den Zweck, seiner habhaft zu werden. Hat man ihn gefasst, so vergisst man die Spur. Die Fischreuse hat den Zweck, der Fische habhaft zu werden. Hat man sie gefasst, so vergisst man die Reuse. Nun denn, so sind die Worte die Spur zu den Bildern. Die Bilder sind die Reuse für die Ideen. Wer daher bei den Worten stehen bleibt, wird nicht die Bilder erfassen, und wer bei den Bildern stehen bleibt, wird nicht die Ideen erfassen.“ (Wang Bi, zit. in: Georg Zimmermann, I Ging. Das Buch der Wandlungen. Neu übersetzt und kommentiert. Düsseldorf 2007. S. 64, Anmerkung 16.)

Die Vorstellung, dass alles seinen Existenzgrund, seinen Ursprung in dem Einen hat, alles aus dem Einen hervorgeht, hat sowohl in den monotheistischen Religionen wie auch in den modernen Naturwissenschaften Tradition. Die „Hypostase des Einen“ als oberstes Lebens- und Seinsprinzip, als höchste Stufe der Existenz ohne eigenes Sein, als Urgrund, als Ursprungs- oder Urknalltheorie, ist ein hierarchisches Erklärungsmodell (oder für viele eine Erkenntnis), wie eine Allgemeinheit, eine Singularität, das Besondere, die Partikularität hervorbringt. Die Emanation(stheorie) als metaphysisches Modell besagt, dass das Eine alles aus sich hervorbringt, dabei aber selbst unverändert bleibt. So wie in der Astrophysik die Singularität „unendlich“ ist, also keine Eigenschaften von Raum und Zeit, die aus ihr entstehen, annimmt, ist auch in den monotheistischen Religionen „Gott“ unendlich und besitzt selbst kein eigenes Sein, besetzt selbst keinen Platz in Raum und Zeit. Das erste Dilemma: wenn etwas unendlich und ewig, raum- und zeitlos ist und über dem Sein steht, wie kann ihm dann – in unserem herkömmlichen Verständnis – Existenz zugeschrieben werden, würde es doch als Existierendes den gesamten Raum und alle Zeit für sich beanspruchen? Wie kann etwas sein und zugleich nicht sein? Das zweite Dilemma: wie kann etwas materiell völlig Andersartiges, Unvorstellbares, Unbenennbares aus sich heraus eine Welt hervorbringen, die sich substantiell so grundlegend von seinem Ursprung unterscheidet, wie kann eine Einheit, eine Universalität, eine Allgemeinheit, Vielheit und Besonderheiten, Differenzen erzeugen? Wäre die Emanation aus dem Einen nicht schon die erste, die ursprüngliche Differenz, die Differenz als Ursprung? Ist diese unüberwindbare Differenz, die Unmöglichkeit, die Unfähigkeit der Erkenntnis schlechthin, des Erkennens des Einen, der unüberbrückbaren Andersheit der Ursprung des Menschseins – als theologisch-religiös-spirituelle, als teleologisch-eschatologische, als philosophische, als naturwissenschaftliche Fragestellungen? Und ist diese ursprüngliche Differenz zum Einen, der Ursprung aller Differenzen zum Anderen, zur Andersartigkeit aller anderen? Ist das die eigentliche différance, von der Derrida spricht? „Die différance, die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen nicht etwa in einer einfachen und an sich unmodifizierten, indifferenten Gegenwart voraus. Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name ‚Ursprung‘ nicht mehr zu.“ (Jacques Derrida, Die différance. In: Ders., Die différance. Ausgewählte Texte. S. 110-149. S. 123. Vgl. zeitenweise-14.)

Als menschliche Wesen sind wir es – ab einem gewissen Alter und sofern physiognomisch möglich – gewohnt, auf zwei Beinen zu gehen, zu stehen und den Kopf Richtung Himmel zu erheben. Die Füße berühren dabei den Boden, in den wir zurückkehren, die Endlichkeit, während der Kopf den unendlichen Raum als Wachstumspotential über sich hat. Wir stehen zwischen Himmel und Erde, wobei durch die Nähe zum Boden und die Unendlichkeit nach oben hin unsere Position als Relation zweier Strecken relativ klar und eindeutig nicht in die höchsten und göttlichen Sphären weist. Dennoch haben wir uns erhoben, sind erhaben genug, um auf andere(s) hinabzublicken. „In unserer Kultur ist der Mensch immer als Trennung und Vereinigung eines Körpers und einer Seele gedacht worden, eines Lebewesen und eines lógos, eines natürlichen (oder tierischen) und eines übernatürlichen, sozialen oder göttlichen Elements. Wir müssen hingegen lernen, den Menschen als Ergebnis der Entkoppelung dieser zwei Elemente zu denken und nicht das metaphysische Geheimnis der Vereinigung, sondern das praktische und politische der Trennung zu erforschen.“ (Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt am Main 2003. S. 26.) Der größte Irrglaube der Menschen ist der Glaube an die eigenen (geistigen) Schöpfungen. Die Emanation einer Welt aus dem Geiste hypostasiert jede/n zur/zum Einen. Oder zum Solipsisten, zur Solipsistin. Die Emanationstheorie wurde im 3. Jahrhundert von Neuplatonikern wie Plotin oder Porphyrios aus Platons Ideenlehre entwickelt und implizierte eine Hierarchie der Hypostasen, vom Einen über den nous, den (Welt-) Geist, die göttliche Vernunft zur Seele, bis (später, da vorerst nicht als Seiendes, als ousia anerkannt) in die tieferen und tiefsten Sphären der Materie, des Sinnlichen, des Sensiblen. Viele der theoretischen Ansätze des Neuplatonismus wurden später, trotz anfänglicher Meinungsverschiedenheiten, in die christliche Lehre aufgenommen – von der Verdammung der Mater-ie, des Weiblichen bis zu den individuellen Differenzierungen innerhalb der Menschen, wer durch welche Lebensweise und soziale Stellung dem Göttlichen und dadurch der Möglichkeit von Erkenntnis nähersteht. Dieses Denken setzt sich von den Inquisitionen und Kreuzzügen über die Kolonialisierungen und die Stellung der Frauen bis heute fort. Freud hätte diese Verbindung zum Göttlichen als „natürliche Ordnung“ (der Dinge) mit dem Über-Ich, der Sozialisierung inklusive der Übernahme von Denk- und Machtstrukturen, gleichgesetzt, Foucault als Internalisierung des Subjekt(begriff)s, des gewalt(tät)igen Machtkomplexes in Form von Sprache, Erziehungs-, Bildungs- und Straf-/Rechtsystem. Dank Freud ist es gelungen, den Menschen den Klauen der direkten göttlichen Einflusssphäre zu entreißen und sie als Teilbereich des Über-Ichs zu implementieren. Seine Schrift Das Ich und das Es feiert dieser Tage ihr hundertjähriges Jubiläum.

Die Emanzipationsbewegung (wie auch der postkoloniale Diskurs) und die poststrukturalistische Theorie haben uns vor Augen geführt, wie vermeintliche (Geschlechter-) Differenzen durch politisches Machtkalkül als Trennung aufrechterhalten werden und Sprach- und Denkstrukturen durchziehen. Nichts wäre näher gelegen, als durch das Konstrukt der Geschlechterdifferenzen Einsichten in die Wirkungsweisen von Sprach- und Machtstrukturen zu erhalten und die starken, starren Oppositionssysteme unserer Denk- und Sprachfunktionsweisen zu demaskieren. Die LGBTIQA+-Bewegung hat gezeigt, wie viele Schattierungen zwischen beiden Polen liegen, wie viel wir in der Sprache und im Recht, im Recht auf Sprache zu berücksichtigen haben, um nicht auszugrenzen. Aber wir haben der Macht Gottes vertraut. Wir haben zu gendern gelernt, ohne etwas gelernt zu haben. Wir haben uns politisch korrekte Ausdrucksformen angeeignet, ohne uns der politischen Veränderung, der demokratischen Verantwortung auszusetzen. In Ungarn wurde vor zwei Jahren ein Gesetz erlassen, das verbietet, einen einmalig dokumentierten Eintrag zur Geschlechtszugehörigkeit jemals zu verändern. Vor zwei Wochen hat die ungarische Regierung unter Viktor Orbán ein Whistleblower-Gesetz erlassen, dass es Bürger:innen erlaubt, gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kindern beim Staat zu denunzieren und anzuzeigen. Die großen EU-Fraktionen haben die EU-Kommission aufgefordert, rechtlich einzugreifen. Heute hat die ungarische Präsidentin Katalin Novák Veto gegen das Gesetz eingelegt. Dazu hat sie (bei jedem neu eingebrachten Gesetz) das einmalige Recht. Sollte dieses Gesetz ein zweites Mal eingebracht und durchgebracht werden, fehlt ihr jegliche Möglichkeit für ein Veto.

Veränderungen durch Umdenken und Umdenken durch Veränderungen herbeizuführen, ist immer mit großem persönlichem Einsatz und Aufwand verbunden. In Gott oder (Denk-) Traditionen zu vertrauen und den Wortsalven und Sprachgefechten politischer Rädelsführer:innen zu erliegen und sich sprachlos zu ergeben, und zu hoffen und zu glauben und zu beten und zu beichten, ist einfacher und gemütlicher. Die Welt verändert sich ständig. Heute rollen Panzer, fliegen Bomben und Drohnen, morgen kommen die Vertriebenen, ein Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, Hungersnöte, Hyperinflationen. Wir sind nicht sicher. Aber das Festklammern an Vergangenem und Überholtem, an Tradition und Ausgrenzung wird uns auch nicht vor Veränderungen schützen. Hypostase der Vielen, Emanation aus der Pluralität, Einheit durch Vielheit! Es gibt noch Licht am Horizont. Es gibt noch den Willen zur Veränderung, wenn selbst die Stadt Salzburg nach links wankt…

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