23/05/2023

Ein Lob der Langeweile 

Wir befinden uns in Zeiten der Verdichtung und Verknappung bezüglich unseres (geistigen) Raumes und unserer Zeit. Die sich ständig ausweitenden Möglichkeiten medialen Zugriffs auf unser Gehirn zur Vereinnahmung der Aufmerksamkeit geben uns wenige Gelegenheiten, uns mit uns selbst zu beschäftigen und Zeit und Raum für Langeweile aufkommen zu lassen. Ein Plädoyer für die Langeweile.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

23/05/2023

never forget all the danger!
Quelle: BBC Series, Killing Eve, Season 1, Episode 8

©: Severin Hirsch

Ein Lob der Langeweile 

Die Zeiten verändern sich. Die Zeit verändert uns. Wir verändern uns. Unser Verhältnis zur Zeit ist interessant. Wie wir uns mit der Zeit verhalten. Der Raum, den die Zeit einnimmt. Der Raum, der uns bleibt. Der Raum unter Ausschluss der Zeit, der Öffentlichkeit. Raum-Zeit-Koordinaten: der Zeitpunkt, an dem sich ein ausgedehnter Körper im Raum befindet. Zeit und Materie scheinen bedingungslos aneinandergeknüpft. Materie verändert sich, Körper altern von Tag zu Tag. Weil wir die Zeit haben. Dabei haben wir keine Zeit. Für nichts und niemanden. In unserem Verhältnis zur Zeit spiegelt sich auch unser Verhältnis zur Materie. Wir konsumieren zu viel Zeit und zu viel Materie. Um uns Vorräte zu schaffen, die wir nicht verbrauchen können, weil wir in einem Kreislauf sind. Besitzsucht und Fettsucht. Wir leben in einer Zukunft, die wir nicht erleben. Vorratschaffen heißt Vorausplanen. Das ganze Leben vor sich herzuschieben, aufzuschieben. Einen Berg an unverbrauchten Vorräten, unerfüllten Sehnsüchten, ungetaner Taten und Vorhaben. Ein Leben in Konjunktiven und Kausalsätzen. Das alles aus Angst vor dem Tod. 

Der Tod ist der Aufschub des Lebens. Das Leben ist der Berg, den es zu überwinden gilt und das Ziel das Paradies. Der Zeitpunkt, an dem das Leben beginnt. Die Zeit drängt, verdrängt uns aus unserem Leben. In die Vergangenheit als Versäumnis, in die Zukunft als Aufgeschobenes, Aufzuholendes, Einzuholendes, Unerreichbares. Das Ziel ist der Tod. Zu Tode gehetzt. Die Wiedergeburt. Dahin drängt uns die Zeit. Aus der Eigenverantwortung für unser Leben. Die Zeit ist der anonyme Sündenbock für alles, was wir nicht erreichen. Akkordarbeit für unser Lebensziel, die Verwirklichung unserer Träume. Die Zeit ist kein Faktum, das inhärent in der Materie wirkt, sondern eine Fiktion, der wir uns ausnahmslos unterzuordnen haben. Die Zeit ist ein Gott, zumindest ein Gottesersatz. Chronos. Der Aufschub der Verantwortung für das eigene Leben. Unsere Ketten an die Materie. Zeit ist Materialismus, die Ökonomie der Knappheit und Verknappung. Die Zeit, die wir nicht haben, können wir anderen auch nicht geben, selbst wenn wir sie ihnen schulden. Entsolidarisierung ist ein (zeit)ökonomisches Produkt. Als Einzelwesen sind wir kontrollierbar, reguliert durch ungeteilte Ängste. Durch andere, mit anderen können wir die Zeit überwinden. Solidarität bedeutet genau diese Verantwortung für sein Leben und somit für die anderen zu tragen, sich gemeinsam durch Krisen hinwegzuhelfen und Ängste durch Kommunikation abzubauen.

Die Zeit ordnet unser Leben entlang einer Linie. Es gibt ein Vorher, ein Nachher, ein Dazwischen. Dazwischen: eine bedrohte Existenz zwischen Versäumnis und Planung. Ein Punkt, der unsere Aufmerksamkeit erfordert. Unser Da-Sein. Die unmittelbare Greifbarkeit des Augenblicks, der Moment, in dem wir durch Handlungen in die Gegenwart eingreifen können. Der Punkt Null in unseren persönlichen Raum-Zeit-Koordinaten, an dem wir durch unsere Aufmerksamkeit, unsere Achtsamkeit für uns und unsere Umwelt durch spontane Handlung unsere eigene Vorwegnahme der Zukunft, unsere Vorplanung stören und verändern können. Der Punkt, an dem die Zeit auf unserer Seite ist. Der Handlungsspielraum. In diesem Moment bin ich selbst der Agens, der Verantwortliche für das Leben. 

Genau um diesen Punkt dreht sich das Leben. In der abendländischen Philosophie, im Buddhismus, in den Paradiesvorstellungen, selbst in der Neurophysiologie. Es ist der Angelpunkt, an dem das Leben ausgehebelt und transzendiert wird. Der Punkt, den wir nicht einholen, der immer schon vergangen ist. Der Punkt als Repräsentation, als Zeichen. Die Spur, die verwischt, bevor wir sie erreichen. Der neuralgische Punkt unserer Empfindungen zwischen Erinnerung und Prognose. Unser Versäumnis, unser Zu-Spät-Kommen als eigentlicher Ursprung.

Wir leben in einer Zeit der Verknappung und Verdichtung. Unsere Gehirne sind überfordert, die Bilder- und Informationsflut, die permanente Reizüberflutung, der wir uns täglich aufs Neue aussetzen, zu verarbeiten. Alles aus Angst, etwas zu versäumen. Signifikantenketten ziehen wie Landschaften im Zeitraffer an uns vorüben, ohne Möglichkeit, sich einzuprägen, sich zu verknüpfen, sich aufeinander zu beziehen. Wir setzen bedeutungslose Zeichen, Marken, Markierungen, um uns selbst vergewissern zu können, hier und am Leben, auf der Welt zu sein. Mobiltelefone als Wünschelruten, um uns auf eine Fährte zu locken. Egal welche. Diese Rastlosigkeit der Sinne, die Sinnlosigkeit jeglichen Leer- und Freiraum mit Inhalten zu befüllen, pflanzen wir durch unsere Kinder fort. Nur ja keine Langeweile aufkommen lassen, bevor sie auf dumme Gedanken kommen, setzen wir sie besser vor den Fernseher oder überlassen ihnen unsere Telefone, sofern sie nicht schon im Besitz selbiger sind. „Wenn Dir langweilig ist, dann zieh’ Dich aus und pass’ aufs G’wand auf!“, nacherzählt der Kabarettist Michael Niavarani einen Ausspruch seines Großvaters in einem Kindheitsschwank. Die Beschäftigung mit sich selbst mag oft müßig und langweilig anmuten, aber sie ist notwendig, um kraft der Phantasie ein eigenes Objekt des Begehrens, ein Bild des eigenen Willens und in weiterer Folge auch ein Selbstbild und (Eigen-) Verantwortung zu entwickeln. „Ohne die Ermunterung durch die Phantasie kann sich kein symbolisches Milieu entwickeln, nicht einmal die wissenschaftliche Sprache. Die unkontrollierte Industrialisierung der Kultur hingegen unterjocht die Phantasie durch den Einsatz der Psychomacht und ihrer Apparate zur Aufmerksamkeitskontrolle. Die Phantasie wird zum Entertainment, um ein Publikum zu generieren, wobei sie an die archaischsten Triebe appelliert.“ (Bernard Stiegler, Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Frankfurt am Main 2008. S. 31f.) Individuelle Werbung, Suchempfehlungen. Suchtempfehlungen. Die Digitalisierung der Welt mitsamt ihrer Medienmaschinerie und (persönlich angepassten) Werbeindustrie stellt immer Objekte des Begehrens bereit, selbst wenn man sie selbst noch gar nicht kennt. Selbstgenerierte Verweissysteme, die als schwache Bahnungen die Gehirnregionen oberflächlich vernetzen. Medial determinierte Aufmerksamkeit.

Bahnungen im Gehirn sind wie gebahnte Wege in einer (fremden) Stadt: Um von einem Ausgangspunkt an ein Ziel zu gelangen, gibt es zumeist verschiedene Möglichkeiten. Wir prägen uns Orientierungspunkte ein, vernetzen Stadteile und optimieren bei mehrmaliger Bewältigung der Strecke unseren Weg, bis er sich uns eingeprägt hat und als Vorgang – im Sinne von Derridas Iterabilität – wiederholbar wird. Auch der Irrweg ist Teil dieses Systems. Oder wir lassen uns digital navigieren, ohne jemals eine geographische Vorstellung unserer Bewegung zu erlangen, dafür aber mit einer großen Menge an für den Weg irrelevanten Zusatzinformationen, die unsere Aufmerksamkeit kurzfristig an sich binden. „Im Kontext der Digitalisierung führt das Aufkommen der sogenannten neuen Medien […] zu einer Hyperbeanspruchung der Aufmerksamkeit; die faktische Zeit dieser Aufmerksamkeitsvereinnahmung […] behindert somit den Zugang zu den Kreisläufen der Transindividuation, die die Mündigkeit im Sinne Kants unterstützen, und steht sehr wahrscheinlich in Zusammenhang mit der kindlichen Aufmerksamkeitsdefizitstörung und Hyperaktivität.“ (Ebda. S. 143f.)

Langeweile entsteht, wenn wir kein „Objekt des Begehrens“ vor Augen haben und kann ein Gefühl der Unlust verursachen. Um diese Unlust zu überwinden, müssen wir kreativ werden und unsere Phantasie benutzen, um diesen Zustand zu überwinden und ein solches Objekt zu erfinden. Die Ruhe, der Stillstand, die stasis, die diesem Moment innewohnt, fördert somit neue und kreative Wege und Lösungen zutage – genau das, was wir in so schwierigen und scheinbar auswegslosen Zeiten wie diesen mehr denn je benötigen, um uns einen Weg aus dem dichten Informationsdschungel und der digital-medialen Zumüllung zu bahnen. „Das reflexiv organisierte Gehirn hat grundsätzlich die Möglichkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Durch Herstellen neuer Bezüge zwischen gespeicherten Repräsentationen der über die Sinnessysteme vermittelten Informationen können Entdeckungen über die Struktur der Umwelt gemacht werden, und daraus lassen sich prädiktive Verhaltensstrategien ableiten, die das Überleben entscheidend begünstigen. Damit aber solche Entdeckungen zustande kommen, muß dieses kombinatorische Spiel auch tatsächlich gespielt werden. Damit es gespielt wird, muß es eine positive Motivation für dieses Spiel geben, welches, wie jeder weiß, anstrengend ist. Es liegt also nahe, anzunehmen, daß jene Gehirne, die besonderen ,Spaß’ daran haben, das kombinatorische Spiel zu spielen und neue Bezüge zwischen vorher nicht Verbundenem herzustellen, einen erheblichen Selektionsvorteil erlangen.“ (Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt am Main 2002. S. 224.)

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