09/08/2021

Wer entwickelt, wer steuert Graz?

Der Artikel von Karin Tschavgova erschien erstmals am 17. Juli 2021 im SPECTRUM der Tageszeitung Die Presse unter dem Titel Wie viel Grün darf bleiben?

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09/08/2021

Spanschachtelmotiv: Stadtentwicklung so gedacht, dass die Kirche im Dorf bleibt und Grünräume erhalten werden.

©: Karin Tschavgova

In Graz gewinnt man derzeit den Eindruck, dass schier alles, was an Grund und Boden noch zu haben ist, mit Wohnungen verbaut wird, ohne dass die Stadt regulierend eingreift.

Baukräne, Schwerverkehr und Baustellenlärm – wo immer man derzeit Graz durchquert, ist zu sehen, dass selbst die Pandemie dem Bauboom in der zweitgrößten Stadt Österreichs nichts anhaben konnte. Das ist einfach zu erklären, befanden sich die derzeit überall in die Höhe wachsenden neuen Quartiere, Siedlungen und Wohnblöcke doch schon vor 2020 im Status von Planung und Genehmigungsverfahren. Nicht einleuchtend hingegen ist die Tatsache, dass sich von Jänner 2016 bis Jänner 2021, in fünf Jahren, bei einem Bevölkerungszuwachs von 16.098 Personen eine Steigerung der Wohnungsanzahl um 26.322 feststellen lässt. Rund 331.000 in Graz Gemeldeten stehen derzeit mehr als 202.000 Wohnungen gegenüber. Schon 2017 wurde im Wohnbericht der Stadt Graz der Leerstand von Wohnungen, den man anhand des nicht vorhandenen Stromverbrauchs auch exakt feststellen könnte, mit 6.000 bis 7.000 geschätzt.
Nun liegt mir ferne, die Leser mit trockenen Zahlen und Statistiken zu langweilen, aber einige geben uns einen Ausblick auf die zu erwartende Entwicklung von Graz – etwa jene folgende, die einer detailliert aufgeschlüsselten Aufstellung eines Vereins zu entnehmen ist, der sich „Unverwechselbares Graz“ nennt. Die zivilgesellschaftliche Initiative, der ein ehemaliger Leiter des Stadtplanungsamts ebenso angehört wie Soziologen und Lehrende der Fachhochschule, macht sich stark für eine sensible, restriktivere Steuerung der Stadtplanung, um identitätsstiftende Charakteristika von Straßenzügen und Stadtvierteln erhalten zu können. In ihrer Recherche fand die Gruppe heraus, dass der vorgenannten Zahl von mehr als 200.000 Wohnungen noch rund 15.000 Wohnungen hinzugefügt werden müssen, die derzeit „in der Pipeline sind“. Mit klingenden Bezeichnungen wie „Wohntraum“ werden diese von Bauträgern bereits beworben, scheinen aber in der Statistik, die im letzten Jahr nur einen Bevölkerungszuwachs von 203 Personen ausweist, noch nicht auf.
Es gibt also keinerlei Korrelation zwischen dem Wohnungsbedarf in Graz und den seit 2016 geplanten Wohnungen. Was hier überwiegend gebaut wird, ist ein Angebot an Anleger, das auf den Seiten der Bauträger offen als solches beworben wird. Euphemistisch werden sie Vorsorgewohnungen genannt. Diesen Umstand zeigt auch die Gesamtzahl der geförderten Mietwohnungen, die in diesen fünf Jahren für die gesamte Steiermark bei 5000 liegt.
Man könnte anmerken, dass, wer keine Zinsen erhält für sein Erspartes, doch frei sein muss in der Entscheidung, welche Geldanlage er wählt. Dass der freie Markt regelt, ob das Investment in eine Wohnung gewinnbringend sein wird oder eben nicht, weil der Markt gesättigt ist.
Das gilt nicht, wenn es um Stadtentwicklung und um Stadtraumordnung geht. Stadtplanung hat vorausschauend tätig zu sein und Rahmenbedingungen für eine geregelte Entwicklung der Stadt vorzugeben, die dem Wohl und der Grundbedürfnisse aller Bürger und Bürgerinnen Rechnung trägt und nicht nur den Partikularinteressen Einzelner, die „naturgemäß“ dort bauen wollen, wo sich mit Grundstückskauf und Baukosten noch satte Gewinne ausgehen. Als Geschäftsmodell ist dies nachvollziehbar, kann jedoch nicht die Basis für weitreichende Entscheidungen sein – für das Wo, Wie, in welchem Ausmaß und welchem Tempo sich eine Stadt entwickelt.
Verdichtung ist die Devise im aktuellen Stadtentwicklungsprogramm. Gebaut werden soll nur dort, wo Infrastruktur, Erschließung und die Anbindung an den öffentlichen Verkehr gegeben ist. Schaut man sich das jetzige Wohnangebot genauer an, so findet man sowohl Bauträger-Wettbewerbe nach dem „Grazer Modell“ für Quartiere am Stadtrand, die ohne öffentliche Anbindung an Bus oder Straßenbahn genehmigt wurden wie auch Beispiele von massiver Verdichtung im Villenviertel, das unzureichend erschlossen ist. Die Problematik solch ungezügelten Baubooms liegt jedoch nicht in einzelnen „Ausreißern“, sondern in der Tatsache, dass er generell den großen Herausforderungen einer modernen Stadtplanung nicht genügt. Die müsste durch gezielte Maßnahmen Quartiersbildung fördern. Stichworte: Durchmischung von Arbeit, Wohnen und Dienstleistungen mit öffentlichen Einrichtungen und Stadtäumen – Plätzen und Grünanlagen – sowie eine Vielfalt von Bewohnergruppen in jedem Stadtteil. Bei einem zu großen Anteil an derzeit gefragten Mikrowohnungen sind häufiger Mietwechsel und Leerstand vorprogrammiert. So können Wohnanlagen dieser Art auch zu sozialen Problemfeldern werden. Was dann?
Sollte in einer Zeit von Klimaveränderung und drohender Klimakatastrophen nicht die bauliche Entwicklung des urbanen Raums dem tatsächlichen Bedarf entsprechen und so gering wie möglich gehalten werden? Seit Jahren appelliert selbst die Hagelversicherung daran, die enorme tägliche Versiegelung von Boden in ganz Österreich zu stoppen. In Graz werden hochpreisige Angebote mit zweistelliger Wohnungszahl und entsprechender Menge an Autoabstellflächen an die Stelle von Einfamilienhäusern mit Gartengrund gesetzt. Immer noch ist Kahlschlag von altem Baum- und Strauchbestand zu beobachten, der nur unzureichend durch Neupflanzungen ersetzt wird. Bauträger haben immer noch das Recht, den als Maximum festgelegten Wert der im Flächenwidmungsplan ausgewiesenen Bebauungsdichte auszunützen, und tun naturgemäß das auch.
All das trägt dazu bei, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs mit 34,1 Prozent in Graz erschreckend hoch ist und noch zunehmen wird. Konzepte für eine bessere Versorgung mit öffentlichem Verkehr sind also gefragt, auch, um die riesige Menge der individuell anreisenden Pendler zu stoppen. Und es gibt sie - mehrere Verkehrskonzepte, präsentiert von den regierenden Stadtparteien, von der Opposition, der zuständigen Verkehrsstadträtin, von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen wie „MoVe it“, die sich fürs Radfahren einsetzen und sogar von einzelnen, unbezahlt arbeitenden Architekten und Stadtplanern, denen die Stadt am Herzen liegt.
Problematisch sieht eine Gruppe Architekten um Stoisser Wallmüller, die gerade eine Verkehrsanalyse für Graz vorgestellt hat, die Tatsache, dass die aktuellen Mobilitätskonzepte unabhängig voneinander und nicht auf Basis einheitlicher Grundlagen erstellt wurden. Das von der Stadtregierung forcierte Modell einer Minimetro kann so kaum vergleichend mit S-Bahn- oder Straßenbahnkonzepten untersucht und evaluiert werden.
Dass ein Gutteil von Modellen und Studien zur Entwicklung der Stadt nicht von Abteilungen der Stadtverwaltung beauftragt wurde, die an der Stadtentwicklung arbeiten, kann man mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachten. Die Bürger – Bewohner und Bewohnerinnen einer Stadt – wollen ein Mitspracherecht für ihren Lebensmittelpunkt haben. Dieses Grundrecht einer aufgeklärten Gesellschaft entlässt die Stadtregierung und Stadtplanung allerdings nicht aus der Verpflichtung, die Stadt für alle gedeihlich zu entwickeln.

Steinegger

Sehr erfreulich, dass sich auch die Architekturkritik meiner seit 2017 immer wieder gestellten Forderung nach einem ernsthaften Diskurs endlich anschließt. Hier - auf GAT - nachzulesen in Nachrichten / Dossiers / OFFENE BRIEFE - 3.Teil: Suburbia: Der Verlust des öffentlichen Raums, der unerträgliche Bodenverbrauch, verfasst am 05.Oktober 2017 !

Fr. 13/08/2021 2:00 Permalink
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