03/06/2014

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

03/06/2014

Karin Tschavgova in Rio de Janeiro

©: Karin Tschavgova

Kurz überlegt, ob man dieses Feld nicht besser dem geschätzten Kollegen vom 3. Dienstag im Monat überlassen sollte - Fußball war nie mein Ding. Aber dann doch ein Anknüpfungspunkt: Vágner Love, ein ehemaliger Nationalspieler Brasiliens, behauptet in einer Sendung über Rios Favelas, dass die besten Fussballer der Welt von hier kämen. Er sagt das mit breitem Grinsen und legt noch nach. Ja, und auch die beste Musik - Funk Music, that’s sure - käme aus jenen informellen Siedlungen, in denen allein in Rio de Janeiro fast zwei Millionen Menschen leben sollen.

Mitnichten bin ich ein Spezialist für Favelas, hab dazu nicht mehr als das allgemein verbreitete Halbwissen, aber ich war 2013, als Vágner Love als Mittelstürmer kurioserweise in China gelandet ist, in einer in Rio. In typischer Reisegruppenmitläufermanier mitgelaufen, hinauf mit dem neuen Lift, über die Brücke und dann rauf und runter die engen Gassen, Stiegen und Rinnsale im Eilzugtempo, eine im Tross von sightseeinggeilen Fachleuten (in der Mehrzahl Architekten). Mitgegangen, mitgefangen. Vorher nicht viel darüber nachgedacht – nachher mit dem miesen Gefühl, nicht anders zu sein als Japans Touristen auf ihrer Europa in 3 Tagen-Tour.
Keine Angst, jetzt kommt keine sozialromantische Analyse, aber angesichts der gefühlt tausend Berichte über Rios Favelas, die uns seit Monaten vor der Fußball-WM in Brasilien überschwemmen, ist die Erinnerung an diese Stunde wieder hochgekommen.
Die ganze Welt schaut auf Rio und darauf, was da in der Vorbereitung auf das Mega-Event, zu dem das Land mit mehr als 600.000 Besuchern rechnet, in Rio passiert. Rios Präfekt Eduardo Paes lässt Milliarden in den Stadtumbau investieren, das bekannte Estadio Maracanã, in dem das Schlussspiel stattfinden wird, fast zur Gänze neu bauen, Klärwerke zur Reinigung des Meerwassers errichten, Parks und Museen – und zugleich Polizeitrupps, Bagger und Abrissbirnen anrücken, um rund 30.000 Menschen abzusiedeln. Das alles geschieht im Rahmen von groß angelegten Urbanisierungsprojekten zwangsweise oder indirekt durch Gentrifizierungsprozesse, die zum Ziel haben, Rio für die Welt „herzeigbar“ zu machen, die das Stadtbild so sehr prägenden Favelas physisch in die formelle Stadt zu integrieren.
Dabei haben gerade diese urbanen Dörfer als fragmentierte Enklaven bis vor kurzem ihre ganz eigene Identität erhalten können, während ringsum im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs Transformierungsprozesse die urbanen Strukturen der Metropolen wie Rio und Sao Paulo mächtig veränderten, global austauschbar. Seit 2010 sind über das Programm Morar Carioca, das die soziale Integration aller informellen und prekären Siedlungen bis 2020 zum Ziel hat, also auch die Favelas dran. Über den Ausbau der Infrastruktur und die Versorgung mit öffentlichen Diensten scheint das eigentliche Ziel versteckt – die Rückeroberung von Territorien und Einfluss durch staatliche Hand. Soweit man hört, haben die Bewohner dabei diesmal nicht mehr das Mitspracherecht, das ihnen 2001 über das Estatuto da Cidade (geht zurück auf: Das Recht auf Stadt, 1968, von Henri Lefebvre) gesichert wurde.
Rios derzeitiger Urbanisierungsprozess folgt den Interessen des internationalen Immobilienmarkts, der zwar auch in den nächsten Jahren Investitionen bringen wird, aber zugleich auf die Verdrängung der bereits marginalisierten Bevölkerungsgruppen zielt. In einem für Investoren attraktiven Image haben Armut, Straßenkinder, Obdachlose und fliegende Straßenhändler keinen Platz. Daran wird auch der New Yorker Jungunternehmer Rosenberg nichts ändern, der mit seinen „Favela Experiances“ die Faszination der Favelas touristisch vermarktet und damit angeblich auch die Lebensbedingungen der Bewohner verbessert. Er bliebe eine Randerscheinung, müsste man nicht fürchten, dass die derzeitigen touristischen Aufrüstungen der Stadtpolitik nicht die ganz einmalige Identität der Favelas, ihren Charakter zerstören.
Wo bitte werden dann die größten Fußballer der Welt herkommen, wo wird künftig die weltbeste Funk Music entstehen? Und von wo werden wir für UNSERE Stadtentwicklung der Zukunft lernen? “Die Favela ist ein Zukunftsmodell - so unglaublich es scheint.” behauptet Rainer Hehl, Architekt, Urbanist und Professor an der TU Berlin, in der brasilianischen Zeitung “O Globo”. “Wir können viel von der Favela lernen”. Selbstorganisation zum Beispiel. Wie lange noch?

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