02/11/2009
02/11/2009

Buchdeckel

Der Schweizer Dolf Schnebli machte eine Bilderbuchkarriere als Architekt.
Nach Ausbildungen in Italien und den USA war er Mitarbeiter bei Walter Gropius. Später unterrichtete Schnebli selbst auf verschiedenen Universitäten in Nordamerika, bis er Anfang der siebziger Jahre auf den Lehrstuhl für Architektur und Entwurf der ETH Zürich berufen wurde. Dort bildete er unter anderem bekannte Leute wie Jacques Herzog oder Pierre de Meuron aus. Der nach wie vor streitlustige „Le Corbusier-Inspirierte“, wie Jacques Herzog Schnebli im Vorwort des nachfolgend beschriebenen Buches nennt, plante eine Reihe von Schweizer Architekturikonen - von frühen Meisterstücken wie das Gymnasium in Locarno oder das Gartenbad in Wohlen bis zu den Alterswerken wie die Erweiterungsbauten für die ETH Lausanne oder die Credit Suisse in Zürich. Bis zu seinem Tod im September des heurigen Jahres war Dolf Schnebli nach wie vor als Teilhaber des Züricher Architekturbüros SAM aktiv. Kurz vor seinem Ableben ist ein Bildband über einen praktisch unbekannten Abschnitt seines Architektenlebens erschienen:

„1956: Fotoskizzen der langsamen Reise – Ein Jahr auf dem Landweg von Venedig nach Indien und zurück“

Finanziert mittels eines Reisestipendiums der Harvard University, begleitet von seiner Frau Clarissa und ausgestattet mit VW Käfer und Leica Kamera brach der junge Absolvent zu einem Bildungsabenteuer auf. Ziel war, neben einer heilen Rückkehr, die reichhaltige klassische Architektur von Südosteuropa bis Zentralasien, aber auch das tägliche Leben in den Entwicklungsländern besser zu verstehen. Ironisch merkt Schnebli an, dass ihn Freunde von der Reise abhalten wollten, nicht nur wegen der Gefahren, sondern auch, weil er ja nach einem Jahr Unterwegssein möglicherweise den Anschluss verlieren würde.

Über fünfzig Jahre blieben die in drei Skizzenbüchern festgehaltenen Erlebnisse unveröffentlicht. Das bei Niggli erschienene Fotobuch zeigt daraus nun rund 400 Schwarz-Weiß-Fotos, begleitet von kurzen stichwortartigen Texten – aus seiner Erinnerung, wie Schnebli schreibt – und mit reichlich Kartenmaterial.

Es ist ein Glücksfall, mit dem Auge des Architekten sehen zu können, wie er einen entspannten Kanon der Baugeschichte dieses Teils der Welt – von der Akropolis bis zum Zikkurat – „erfährt“, der heute zum Teil mit deutlich mehr Besucherrisiko als damals verbunden wäre. Bagdad und die archäologischen Stätten Iraks besucht Schnebli ebenso wie die mittlerweile von den Taliban zerstörten Riesenbuddhas von Bamiyan. Aber nicht nur Historisches, auch damals Brandneues nimmt er in seinen fotografischen Bautenkatalog auf. Ein von Buckminster Fuller gestalteter US-Pavillon für die Internationale Handelsmesse in Kabul sticht da hervor oder die gerade im Entstehen begriffene indische Stadt Chandigarh. Durch den Verlust von Lahore an Pakistan, nach dem britischen Kolonialzeit-Ende, brauchte Indien im Norden einen neuen Verwaltungssitz für den Punjab. Nach dem Unfalltod des ursprünglichen Architekten erhielt Le Corbusier den Auftrag für den Masterplan. Heute leben über eine Million Menschen in Chandigarh.

Schnebli richtet seinen Fokus auch auf Details. Er hält die ornamentalen Strukturen der Moscheen, die Figurenpracht der Hindu Tempel und die Keilschriften in Babylon genau so fest wie ein Graffiti mit politischer Kritik in Teheran.

Neben der Architektur dominieren auf den Fotos die Menschen. Männer und Frauen bei der Arbeit und in ihrer Freizeit, beim Militär, Kinder beim Spielen, Märkte und Feiern. Buzkashi, das afghanische Reiterspiel, hält er fest, oder die Einweihung des Festplatzes in Chandigarh. Auf einigen Bildern ist sein VW Käfer zu sehen, wie er auf mehr als zweifelhaften Fähren einen Fluss quert. Da wird auch die echte Dimension des Abenteuers wieder deutlich. Aber, trotz mancher Konflikte oder Probleme wird immer wieder auch die erlebte Gastfreundschaft zitiert.

Die oft nur auf eine Zeile beschränkten Texte verstärken die Poesie des Buches, manche Bildunterschriften klingen wie japanische Haikus: „Die verschiedenen Nomadenstämme - Sie wandern mit den Jahreszeiten - Unterschiedliche Tiere“. Dolf Schnebli hat uns damit einen sehr persönlichen Versuch über die Entdeckung der Langsamkeit hinterlassen.

Dolf Schnebli
1956: Fotoskizzen der langsamen Reise
Ein Jahr auf dem Landweg von Venedig nach Indien und zurück
2009, Niggli Verlag Sulgen/Zürich
www.niggli.ch

Verfasser/in:
Emil Gruber, Buchbesprechung
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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