29/08/2004
29/08/2004

Rem Koolhaas, fotografiert im Stil der Utopisten.

Rem Koolhaas demütig, bei der Pritzker Preis Verleihung 2000

Ich habe einen Traum

Rem Koolhaas wurde 1944 in Rotterdam geboren. Er arbeitete zunächst als Drehbuchautor und Journalist und studierte dann Architektur in London. 1975 gründete er das Office of Metropolitan Architecture (OMA). Bekannt wurde er 1978 mit dem Essayband »Delirious New York: Ein retroaktives Manifest für Manhattan«. Zu seinen bedeutendsten Werken zählen die Kunsthalle in Rotterdam und die Bibliothek in Seattle. Auch die niederländische Botschaft in Berlin stammt von ihm. Koolhaas lebt in London und Rotterdam. Hier träumt er davon, die Utopisten der letzten achtzig Jahre zu besuchen.

Utopia ist das schmutzige Geheimnis der Architektur. Im Grunde ihres Wesens behauptet jede Architektur, die Welt zu verbessern. Doch wie alle, die jemals mit Utopia in Berührung gekommen sind, wurden die Architekten dafür schwer bestraft. Einer Hand voll zerbrechlicher Modelle stehen einhundert Millionen Opfer gegenüber. Der Architekt ist im Angesicht Utopias in einer unmöglichen Situation: Ohne Bezug darauf ist seine Arbeit wertlos. Doch mit diesem Bezug wird sie zur Komplizin schwerer Verbrechen.
Ich möchte eine Reise durch die Geschichte der letzten achtzig Jahre unternehmen, in deren Verlauf ich zeige, wie sich unsere Vorstellungen von Utopia verändert haben. Beginnen möchte ich in Russland, wo es in den Zwanzigern drei Sorten architektonischer Utopias gab: Wladimir Tatlin versuchte, ein neues politisches System zu repräsentieren. El Lissitzky versuchte, mit einem Ring horizontaler Wolkenkratzer am Moskauer Boulevard zu demonstrieren, dass eine neue Politik auch einen neuen Umgang mit der Schwerkraft bedeutet. Die beiden waren Künstler. Und dann gab es mit Moisej Ginzburg auch noch einen Architekten, der eine berühmte Kommune gestaltete. Als Berufsanfänger war ich von diesem Gebäude begeistert. Anstatt wie die Bauten von Tatlin und Lissitzky kühne Behauptungen aufzustellen, war dieses ein praktisches Gebäude, das geradezu vorschrieb, den Alltag zu verändern.
Jeder sollte dort den gleichen Raum erhalten. Befreit von den alltäglichen Lasten, konnte man darin leben, denn nebenan war ein Gemeinschaftsbau, der für Lektüre, Essen, Baden und das allgemeine Miteinander gedacht war. In dieser lächerlichen Einfachheit wurde das Gebäude zu einem so starken Wahrzeichen, dass ich es unbedingt sehen musste.
Als ich es zu Sowjetzeiten zum ersten Mal aufsuchte, tat die Aufpasserin alles, um zu verhindern, dass wir es überhaupt fanden. Das Haus war ihr peinlich, und sie fragte verzweifelt, wieso wir ausgerechnet diese Ruine sehen wollten. Damals habe ich die Frage nicht verstanden, doch als ich im letzten Jahr zurückkehrte, um mir einige frühere Utopias anzuschauen, verstand ich sie sehr wohl.
Die Marktwirtschaft hatte Ginzburgs Gebäude trotz seiner Bedeutung nicht gerettet, sondern dazu verurteilt, noch schneller zu verschwinden. Es wurde noch immer von einigen Familien bewohnt, die jetzt in einer Ruine lebten. Am traurigsten sah es im einstigen Penthouse des urbanen Visionärs Maljutin aus – eine der heiligsten Stätten moderner Architektur. Es wurde nach der Einführung der Marktwirtschaft von einer italienischen Möbelfirma dazu genutzt, eine neue Möbel-Linie für russische Yuppies zu präsentieren.
Ein weiteres Utopia, nur einhundert Meter vom ersten entfernt, war das Planetarium. In den jungen Jahren der Sowjetkultur gab es ein großes Interesse an der Mechanik der Gestirne, da man hoffte, dass soziale Prozesse nach ähnlich voraussagbaren Gesetzmäßigkeiten verliefen. Das machte das Planetarium zu einem utopischen Ort – der im Moskau der zwanziger Jahre eine unglaubliche Ingenieursleistung darstellte. Achtzig Jahre später ist das Gebäude noch intakt, aber kein Planetarium mehr. Es wurde an die Kinder russischer Yuppies vermietet, die mit Farbpistolen die Wände bearbeiten durften.
Ich wurde einmal von einer russischen Architektenfamilie eingeladen, die fünfzig Meter weiter an einem stalinistischen Boulevard aus der Nachkriegszeit wohnte. Der Boulevard war von Architekten gebaut worden, die aus dem Krieg heimgekehrt waren – für Generäle, die ebenfalls im Krieg gekämpft hatten. Die Architekten hatten entdeckt, dass sie selbst ein Dachbodengeschoß besetzen und von dort aus ihre Rolle in der Nachkriegsgesellschaft behaupten konnten. Dieses Dachgeschoß hat sich aufgrund der schieren Verdichtung sozusagen zu einem Inkubator für Architekten entwickelt. Durch die Beziehungen der Familien untereinander, ihre Kultur und das versammelte architektonische Wissen wurden dort immer wieder neue Generationen von Architekten geboren.
Die legendären stalinistischen Wolkenkratzer gehören zu den faszinierendsten Bauten, die ich kenne. Hinter ihnen stand die Idee, jeden der Türme des Kreml in einem überdimensionierten Maßstab noch einmal in den Stadtraum zu projizieren. So würde aus der gesamten Stadt das Innere eines virtuellen Kreml werden. Solche Metaphern in materielle Dimensionen übertragen zu wollen ist eine hochgradig utopische Form von Stadtplanung.
Fünf dieser Wolkenkratzer wurden realisiert, einer davon weniger als einhundert Meter entfernt vom Generals- und Architektenbau. Er war gedacht für die Testpiloten der russischen Luftwaffe und Kosmonauten wie Jurij Gagarin – sodass diejenigen, die den Gefahren der Schwerkraft am meisten ausgesetzt waren, in einem palastähnlichen Glanz leben konnten. Dieses Gebäude entstand sozusagen auf halber Strecke zwischen den ersten, aus den zwanziger Jahren stammenden Entwürfen im Raum schwebender Städte und den Erfolgen der sowjetischen Raumstation, die in ihrer Form den ersten Entwürfen nicht unähnlich ist. All diese Utopien wurden auf einem sehr kleinen Areal in einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren realisiert. Ich würde gerne erfahren, ob es irgendwo vergleichbare Beispiele für eine derartige Produktivität gibt. Natürlich wissen wir, dass die Mehrheit jener Ideen im Dienste eines schrecklichen Regimes stand. Aber es bleibt wichtig, die Unausweichlichkeit dieser Verbindung zu betrachten.
Ich wurde Architekt – inspiriert vom Geist der sowjetischen Pioniere –, als Gagarin gerade in den Weltraum geschossen worden war. Damals haben mich die spielerisch-visionären Utopien, die an meiner Hochschule verbreitet waren, irritiert. Zum Beispiel die berühmte »Walking City« von Archigram, die als Gruppe robotischer Städte New York einnimmt. Etwas politisch derart Leichtsinniges konnten sich damals natürlich nur die Engländer ausdenken, während auf dem europäischen Festland die Idee der Utopie immer schwieriger durchzuhalten war.
In den späten Sechzigern wandte ich mich einem antiutopischen Projekt zu: einer Studie der Berliner Mauer. Diese unwirkliche Ästhetik war vor unserer Haustür umgesetzt worden. Wenn man sich darauf einließ, war dieses endlose, abstrakte Bauwerk eine ästhetische Erfahrung. Wieder einmal wurde Utopia mit Stacheldraht markiert – obwohl man damals nicht wusste, auf welcher Seite der Mauer Utopia denn nun lag. Für mich stellte es das Ende jeglicher Möglichkeit von Utopia dar. Daraus entwickelte ich eine Karikatur der Berliner Mauer als Projekt: einen von Mauern umschlossenen Streifen, der mitten durch das Zentrum Londons verläuft. Seine Behauptung: Hier drinnen ist Utopia, draußen ist die Welt schrecklich. Dieses Versprechen sollte so attraktiv sein, dass die Menschen darum betteln würden, freiwillig als Gefangene innerhalb dieses mit Stacheldraht abgeschirmten Gebiets zu leben und der Architektur, die sie für immer einschließt, auch noch Dankeslieder zu singen.
1972 ging ich nach Amerika, das auch eine Art Utopia darstellte. Damals habe ich ein Bild gemalt: die Türme des World Trade Center als weißes Rechteck, die Utopie der totalen Abstraktion. Auf diesem Bild hatte ich einen im Wasser schwebenden Swimming-Pool erdacht – die wahrscheinlich bescheidenste Utopie aller Zeiten –, der in meiner erfundenen Geschichte von russischen Konstruktivisten erfunden worden war, um den schwierigen Verhältnissen der Zwanziger zu entgehen. Sie entdeckten nämlich, dass, wenn sie alle in die eine Richtung schwimmen, der Pool sich in die andere bewegt. Aktion – Reaktion. Um nach Amerika zu kommen, mussten sie in Richtung des Kreml schwimmen. Ein absoluter Albtraum. Aber immerhin diente er dem Zweck, ins Gelobte Land zu gelangen.

Aufgezeichnet von Gunnar Luetzow

Der vorliegende Beitrag erschien erstmals in der Rubrik Leben in "Die Zeit" am 12. 08. 2004. Mit freundlicher Genehmigung des Aufzeichners Gunnar Luetzow für GAT nachgedruckt.

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova
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