14/05/2008
14/05/2008

Das Erdgeschoss besteht aus tragenden Betonelementen, die Primärkonstruktion des 1. Obergeschosses ist ein Stahlskelett, das mit Holzständerwänden ausgefacht wurde. Die Stahlkonstruktion des Daches läuft teilweise auch über Höfe und Terrassen und wird individuell als Tragkonstruktion für Beschattungen und Regenschutzelemente verwendet. Foto: Eva Mohringer-M.

Umsetzungsphase Wohnanlage Peterstalstraße 16 d-f, Graz (1992). Planung Wohnblock 3: Gerngross-Richter: Foto: Eva Mohringer-M.

Rohbau Fassade. Foto: Eva Mohringer-M.

Terrasse mit nachträglich eingebautem Wintergarten.

Erdgeschosszone mit vorgelagertem Garten

Hauszugang.

Stiegenhaus

Stiegenhaus mit individueller Ausstattung

Bezug zum Naturraum: in unmittelbarer Umgebung zur Wohnanlage Peterstalstraße befindet sich der Petersbach. Fotos 4-13: E. Lechner

Der Naturraum reicht direkt bis vor die Haustüre.

Wohnanlage Peterstalstraße 16 d-f in Graz – Wohnblock 3
Planung: Heidulf Gerngross / Helmut Richter (Wien)
Fertigstellung: 1992

Die Wohnanlage ist der gebaute Versuch, ein hohes Maß an Flexibilität, Grenzenaufweitung und an maximalen Freiräumen innerhalb des eng definierten Rahmens des geförderten Wohnbaues zu erreichen. Betrachtet man die fast 20 Jahre alte Anlage, taucht der Gedanke auf, dass man im geförderten Wohnbau schon einmal viel weiter war als heute.

Der Wohnbau in der Peterstalstraße wurde in den frühen 1980er-Jahren geplant und 1992 bezogen. Er besteht aus drei Wohnblöcken. Die zwei Blöcke parallel zur Petersalstraße mit insgesamt 20 Wohnungen stammen aus der Feder von Prof. Vladimir Nikolic. Der dritte Block mit 13 Wohnungen, der in diesem Artikel eingehender behandelt wird, wurde von den Wiener Architekten Heidulf Gerngross und Helmut Richter geplant, die damals noch ein Team bildeten. Einiges unterscheidet das Projekt und deren Entstehung vom heute gängigen Wohnbau in der Steiermark: die Architekten erhielten über das ‚Modell Steiermark’ (Dieter Dreibholz) einen Direktauftrag für die Planung, das IFU einen Wohnbauforschungsauftrag zum Thema Energiesparen im geförderten Wohnbau, die ÖWGes realisierte das Projekt. Die Eigentümer/innen konnten innerhalb einer vorgegebenen Struktur ihre Wohnung individuell anpassen, die genannte Wohnanlage verfügt über heute nicht mehr übliche, großzügige, private Freiräume.

Wohnblock 3 von Gerngross-Richter
Die 13 Wohnungen von Gerngross-Richter haben eine Größe von 60 bis 130 m², der Großteil hat 90 m². Fast alle Wohnungen sind eingeschoßig, nur die größeren Einheiten erstrecken sich über zwei Geschosse. Vier von Westen erschlossene, wohnlich gestaltete Treppenhäuser erschließen die als Zweispänner organisierten Einheiten. Beeindruckend ist die große Gebäudetiefe. Die Ost-West orientierten Wohnungen sind 20 m (!) tief und maximal 6,50 m breit. Um die Wohnungen ausreichend zu belichten, wurden zweigeschossige Höfe eingeschnitten, diese belichten die Gangspanne zwischen dem westseitigem Wohnbereich und den ostseitigen Zimmern. Das Atrium wird von den Bewohnern der Erdgeschoßzone auch als Freiraum genutzt. Die Anpassung der Wohnungen an individuelle Bedürfnisse und an sich verändernde Lebenssituationen waren bei der Planung zentrales Thema. Erreicht wurde dies durch das weglassen von tragenden Wände in den Wohnungen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass keine Wohnung der anderen gleicht, und manche Wohnungen mittlerweile in zwei Einheiten geteilt werden konnten. Die hohe Wohnzufriedenheit ist an den vielfältigen Aneignungsspuren, den üppig bewachsenen Gärten und Terrassen ablesbar.

Großzügige Freiräume
Den Erdgeschoß-Wohnungen sind im Westen und Osten private Gärten mit ca. 10 m Tiefe vorgelagert. Die Wohnungen im 1. Obergeschoß haben große Terrassen. Das ursprüngliche Konzept sah vor, dass im Obergeschoß über jeder zweiten Erdgeschoß-Wohnung eine Terrasse liegt. Dieses Prinzip wurde durch die Wünsche der zukünftigen Nutzer schon im Planungsstadium variiert. In der von GAT besichtigten Wohnung befinden sich im Terrassenbereich auch ein nachträglich eingebauter Wintergarten und ein südländisch anmutender überdachter Sitzplatz. Die den Wohnräumen zugeordnete Hauptterrasse ist in dieser Wohnung zirka 50 m² groß und bietet Platz für Esstisch, Blumen, Pflanzcontainer, Wäschetrocknen, etc. Die den Zimmern im Osten (meist als Schlafräume oder Kinderzimmer genutzt) zugeordnete Terrasse ist kleiner, ca. 20m², aber für heutige Wohnbaumaßstäbe noch immer sehr groß.

Die einzelnen Wohnungen / Stiegenhäuser werden über einen Wohnweg von Westen erschlossen. Die Erdgeschoßzone liegt ein Geschoss über der Peterstalstraße, Tiefgarage und Keller liegen auf Straßenniveau. Der Wohnweg bildet in der Verschränkung mit der Notzufahrtstraße der beiden anderen Blöcke einen kleinen Siedlungsplatz (Sitzgruppe, Spielplatz). Von hier gelangt man auch zum Ufer des Petersbaches, der naturräumlich optimal in das Konzept integriert wurde, und für Kinder ein echter Abenteuerspielbereich ist.

Diese Siedlung zeigt, dass verdichtetes, urbanes Wohnen in einer veränderbaren Struktur mit großzügigen Freiräumen eine echte Alternative zum Einfamilienhaus oder Reihenhaus darstellt. Themen wie Erweiterbarkeit, Flexibilität, Generationen Wohnen, die bei heutigen Wohnbauten als innovativ auftauchen, wurden also bereits vor 20 Jahren angedacht und umgesetzt.

„Ein Wohnbau sollte seine Qualität nicht aus einer ausgefeilten Fassadenmotivik oder aus stadträumlichen Vorgaben beziehen. Viel wertvoller für die Nutzer sind präzise Definitionen der inneren und äußeren Organisation der Wohnanlage, also die Festlegung von Zonen gestufter Privatheit, die Anpassungsfähigkeit der Konfiguration der Wohnräume an denkbare Umnutzungen oder die Offenheit des konstruktiven Systems für solche Änderungen. Ein Wohnbau muß ein Potential für ein erfülltes Leben bereithalten; er muß für das Unvorhersehbare gerüstet sein, das das Leben und die Individualität jedes Menschen mit sich bringt.“ (Zitat: Architekt Helmut Richter)

Dieses Zitat von Richter sollte bei jeder Wettbewerbsausschreibung für Wohnbauten verpflichtend angeführt werden!

Verfasser/in:
Elisabeth Lechner, Kommentar
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