12/11/2004
12/11/2004

Der im Folgenden abgedruckte Text ist die wörtliche Abschrift des Einleitungsreferats von André Perret, freier Architekt und Stadtplaner in München. (mühevoll abgeschrieben von Maria Nievoll, der GAT herzlich dankt)

Ich werde über München etwas anders sprechen als euer Architekt und Städtebauer. Diese Stadt erlebe ich seit 21 Jahren, ich habe meine frischen Augen auf München gerichtet und in dieser Zeit ganz interessante Entwicklungen erlebt.

Als erstes habe ich dieses Bild ausgesucht, weil München im 20. Jahrhundert wie alle deutschen Städte enorme Brüche erlebt hat. Es ist notwendig, die Wurzeln einer Stadt immer wieder zu suchen und anzuerkennen. München hatte Glück, eine wichtige Persönlichkeit zu haben, die vielleicht überhaupt nicht bekannt ist: den Architekten Theodor Fischer. Er war nicht nur Städtebauer, Städteplaner, sondern auch Architekt und Professor in der TU München und in Stuttgart. Er hatte als junger Architekt den Auftrag, die Entwicklungen in der Stadt zu planen. Das war in der Mitte de 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Er wurde dann Chef eines Entwicklungsbüros, eine unglaubliche Funktion aus heutiger Sicht, und im Laufe der Jahre, bis 1908, hat er lauter Baulinienpläne entwickelt und daraus einen Gesamtplan in Form eines Staffelbauplanes veröffentlicht. Dieser Staffelbauplan hat über ½ Jahrhundert auf die Stadt eine Wirkung gehabt und hat sehr sehr viel in München geregelt. Aus diesem Grund hat München heute eine ruhige Struktur und eine relativ ruhige Basis, die für die Arbeit heute sehr wichtig sind. Theodor Fischer war wichtig, er war der Professor von Persönlichkeiten wie Mendelsson, Häring usw., von Personen also, die nachher die Architektur in Deutschland prägten. Seine Sprache war altmodisch, aber die Visionen im Städtebau waren interessant.

Er hat um den alten Kern erweitert; München hat sich in der Gründerzeit enorm entwickelt, und er hat Instrumente gewählt, die viel Modernität hatten, selbst wenn die Sprache der Fassaden verwandt war mit dem Jugendstil in ganz Deutschland. Die Sprache war sehr offen, die Parzellen waren offen, die Häuser hatten Gliederungen, die Straßen hatten Vorgärten, damit hat München eine völlig neue Dimension bekommen. Dieser Aspekt ist sehr wichtig.

Bis in die 50er Jahren hat München turbulente Zeiten erlebt, von der kompletten Zerstörung in der Kriegszeit, und in der Nachkriegszeit traf man eine Entscheidung, die ursprünglich kritisiert wurde, weil sie sehr konservativ war: Das Stadtbild der Stadt sollte weitgehend auf Grundlage der Vorkriegszeit wieder hergestellt werden. Das stand im Gegensatz zu Frankfurt etwa, die tabula rasa gemacht hatten und die alte Substanz abrasiert hatten und große Stadtautobahnen bauten. Diese gewisse Modernität war sehr schädlich, und München hatte das Glück, mit diesen bayrischen Vorsichtigkeiten eine glückliche Grundlage wieder zu kriegen. Heute wird dieses Thema München nicht mehr diskutiert.

Danach gab's wieder einen Bruch im Jahr 1989, die Wende war zuerst politisch sehr brisant und wichtig, aber keiner stellte sich damals vor, welche Entwicklungen daraus resultieren würden. München hatte plötzlich Angst, nicht mehr die heimliche Hauptstadt zu sein, sondern eher eine Provinzstadt. Man sprach plötzlich nur mehr von Berlin, alles würde nach Berlin verlagert, Berlin würde die wichtigste Stadt Europas, usw. usw. Unter dieser Angst hat München sehr stark gelitten, heute sind diese Ängste weg. Berlin verliert pro Jahr 30.000 Einwohner, und München floriert. Man spricht von einem Nord-Süd-Gefälle in Deutschland, und das hat sehr viele Auswirkungen.

München hatte auch das Glück, 1972 eine Olympiade zu bekommen und eine komplette U-Bahnstruktur, als erste Stadt in dieser Form in Deutschland. Berlin hatte zwar eine U-Bahn, aber die Lage von Berlin war komplizierter. München hat praktisch alle Zuschüsse bekommen, und es wurde ein komplettes U- und S-Bahnnetz aufgebaut. U-Bahn und Straßenbahn sind die zwei wichtigsten Verkehrsmittel in München. Es gibt keine neue Entwicklung in der heutigen Zeit ohne öffentliche Verkehrsmittel, das ist ein Hauptthema und eine große Schwierigkeit, vielleicht auch in Graz. München hat Glück gehabt. Auf die Größe der Stadt bezogen, sind solche Infrastrukturen natürlich rentabel und leichter zu realisieren, sie werden jedes Jahr weiter entwickelt und machen einen Großteil des Budgets der Stadt aus.

Die aktuellen Planungsmaßnahmen, die bereits entschieden und in Bau sind, sind gleichmäßig verteilt. Man versucht nicht nur die Stadtmitte zu dekorieren, sondern die ganze Stadt zu bearbeiten. Weitere bereits ausgewiesene Entwicklungsbereiche werden in den nächsten Jahrzehnten bearbeitet. In der Stadtmitte selbst passiert sehr viel. Ähnlich wie in Graz, das ist die normale Entwicklung. Viele Flächen werden frei auf Grund der Entwicklung der Verwaltung. München hat viele Grundstücke, die nach dem Krieg nicht oder schlecht gelöst wurden, dann gibt es die kulturellen Entwicklungen, wie die Museen usw. Die Projekte sind weit verteilt, und viele meinen, München verändere zu sehr sein Gesicht, das ist eine Ansichtssache.

Die Karten, die ich hier zeige, sind offizielle Karten der Stadt München, die auch bei Messen oder Veranstaltungen aufliegen. Die Bahninfrastruktur in München spielt eine wichtige Rolle. Das ist auch für Graz eine wichtige Information. Dann der Flughafen Riem, der frühere Flughafen in München, ist verlagert worden, diese Fläche gab wichtige Impulse. Die Messe wurde ebenfalls verlagert: An ihrer Stelle, auf der Theresienhöhe, ist ein Stadtviertel entstanden. Diese neue Okkupation mit Wohnhäusern und Hochhäusern hat zum Teil die Messe finanziert. Das ist ein Beispiel für eine finanzielle Entwicklung in der Stadt.

Diese Theresienhöhe nehme ich als Illustration. Das war ein wichtiger Wettbewerb in München. Die Wettbewerbe spielten in München eine große Rolle. Dadurch, dass es eine öffentliche Fläche war, war der Wettbewerb eine Verpflichtung, und da gewann der bekannte Architekt aus München, Otto Steidle, der leider dieses Jahr verstorben ist, der zum Schluss eine sehr wichtige Rolle gespielt hat in der Stadtplanung, in der Architektur. Dieses Viertel ist beispielhaft für München, weil es eine neue Architektur und ein neuer Städtebau ist im Rahmen im Rahmen vom Text, den ich am Anfang erläutert habe, also die Zeit der neuen Architekturen und Stadtplanungen, die alles zerstört haben, ist vorbei, da hat man versucht, eine neue Form der Stadtstruktur zu erfinden, neue Wohnformen, neue Typologien, ich denke, diese Arbeit wird auch in Graz im Grunde sehr gut gemacht.

Eine weitere wichtige Entwicklung ist die Bahnstadt (?) Schwabing. Zufälligerweise sind wir die Autoren von dem Projekt, das eine Bedeutung hat, weil diese Fläche früher eine Industrie- und Lagerfläche war, die komplett obsolet war. Vor 10 Jahren ist ein Wettbewerb organisiert worden, den wir gewonnen haben. Dieses Projekt ist in Realisierung. Die Grünflächen sind schon seit Jahren fertig, und Schritt für Schritt werden die Parzellen bebaut. Dieses Projekt hat zusätzlich ein Instrument, das ich erwähnen möchte, das ist die so genannte sozialgerechte Bauordnung, die Gewinne der Verdichtung – weil hier passiert eine enorme Verdichtung - werden zum Teil zurück bezahlt an die Stadt für die Realisierung von Kindergärten und Sozialwohnungen, Grünflächenstraßen und Kinderkrippen etc. Das ist im ersten Augenblick eine Utopie, aber es hat funktioniert. Die Eigentümer haben sich zusammengeschlossen, um dieses Projekt realisieren zu können. Das Projekt wird mittlerweile auch in anderen Städten praktiziert wird. Es bedeutet aber, dass die Stadt eine hohe Dynamik hat, um zu garantieren, dass die Verdichtung die Planung finanziert. Es ist nicht unbedingt sicher, vor allem im Moment, dass die Büroflächen alle verkauft werden.

Zur Landschaftsplanung: Wir haben in München seit 1990/91 eine rotgrüne Koalition, die sehr stabil ist, sich auch weiter entwickelt und eine große Zustimmung hat im konservativen Bayern, u.a. weil die Logik der Grünflächen weiter entwickelt wurde. München hat ja den Englischen Garten, die Isar, und ein paar historische Parks wie den Nymphenburger Park, aber es war natürlich viel zu wenig, und seit Beginn der 90er Jahre hat man eine Gesamtlandschaftskarte der Stadt gemacht. Es ist klar, dass eine Stadt nur dann ein Lebensraum sein kann, wenn sich die Landschaftsqualität parallel entwickelt.

Viele Städte in Europa haben im Moment große Probleme, weil man verdichtet hat, Verkehrsinfrastruktur implantiert, ohne den Lebensraum zu berücksichtigen. München gibt sich das Ziel, ähnlich wie Barcelona, ein Lebensraum zu sein. Das heißt, dass man auch am Wochenende und in den Ferien in der Stadt lebt und sich trifft. Graz ist vielleicht verwöhnt durch die Umgebung, und die Erreichbarkeit dieser Umgebung relativ leicht ist, so dass die Stadt auf diese Weise vernachlässigt wird. In München ist die Stadtfläche inzwischen so groß, dass die freie Landschaft nicht mehr so einfach zu erreichen ist, nicht einmal mehr mit dem Fahrrad. Dadurch muss die innere Struktur der Stadt so erneuert werden.

Ich habe letztes Jahr im Dezember einen Vortrag über die räumliche Identität der Stadt gemacht, im Münchner Forum. München hat zwar sehr schöne Schritte gemacht, aber man muss weiter denken. Für die Münchner existieren zwar die Alpen, aber sie werden nicht mit dem Stadtraum kombiniert. Ich glaube, dass es wichtig wäre, diese phänomenale Kulisse mit dem Stadtraum zu verbinden. München ist auch situiert auf einem Gletscherboden. Der Süden wird oft als Naturwunder betrachtet, und dabei vergisst man, dass auch der Norden ein Ergebnis der Gletscherzeit ist. München liegt auf einer Schotterterrasse. Der Münchner Raum im Süden ist die Problemstelle von München, in Graz ist es der Grazer Süden. Das ist ein Spiegelbild. Je mehr man die bewegte Topographie verlässt, je mehr sich große Infrastrukturen etablieren, wie Autobahnen, Industrieflächen – im Prinzip sind sie logisch und notwendig – umso wichtiger wird die Planung und die Zusammensetzung dieser Elemente. Und da ist die Stadtplanung sehr gefragt, und danach die Regionalplanung. München leidet im Moment nicht unter der eigenen Stadtplanung, sondern unter der Regionalplanung, die eine Katastrophe ist. Die Gemeinden wie Fürstenfeldbruck und Erding entwickeln sich parallel ohne Konsens mit der Stadt. Auf diese Weise werden wertvolle Flächen zersiedelt oder unterbrochen, ohne irgendeine Logik zu entwickeln. Die Verkehrsplanung ist ein Problem.

München ist dabei, sein Territorium zu zerschneiden. Die Logik ist eine Nord-Süd-Logik auf Grund der Flussrichtung, die Entwicklung der Städte und der Gemeinden zerschneidet komplett den Raum, so dass der Lebensraum gefährdet ist.

Ich habe auch Überlegungen zu Graz angestellt. In der Mitte sehen Sie die Insel der Seligen (die Altstadt), aber der Rest ist im Laufe der Jahrzehnte vernachlässigt worden. Vielleicht hat Graz nicht so viele Brüche wie München erlebt und einfach die Flachflächen belegt, die zur Verfügung standen. Es gibt auch vielleicht eine Situation, die sehr stark in Österreich und auch in der Schweiz vorhanden ist: Durch den großen Anteil der Berge innerhalb des Landes versucht man die Flachflächen mit Industrie und Verkehrsinfrastrukturen zu belegen. Das ist in Graz besonders der Fall, wo der Raum nach Süden Schritt für Schritt zersiedelt wird, ohne dass es eine Koordination gibt. Auf diese Weise schneidet sich diese Insel von der Umgebung ab, ohne dass man es merkt. Irgendwann ist es zu spät. Die Hügel im Osten und die Berge im Westen z. B. sind nicht mehr durch Grünzüge zu erreichen. Das sind Koordinationsarbeiten, die dringend erforderlich sind. Das sind nur einige Aspekte. Die Talstruktur verdichtet in der Längsrichtung die Verkehrsinfrastruktur. Das sind nur Motive, die zu bearbeiten sind. Im Süden verläuft zusätzlich die große Transversale zwischen Wien und Villach und weiter nach Italien, eine Zäsur, die die Kontinuität der Landschaft stört und zerschneidet.

Ich denke, dass Graz eine unglaubliche Stadt ist, ich bewundere auch die Entwicklungen der Architektur in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Ich bin fest überzeugt, dass die Vitalität und die enorme Kraft, die in der Architektur gezeigt worden ist, im Städtebau und in der Stadtplanung etwas bringen sollte. Man müsste aber zusammen die Freiheit finden, im Dialog eine Struktur zu entwickeln, die diese Stadt großräumig als Unikat darstellt.

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