17/10/2004
17/10/2004

Der Autor

Voll daneben. Eine Verteidigung der Peripherie

Joseph von Westphalen

Der Auftrag kam mir nicht ungelegen. Mein Roman, den ich schon längst fertig geschrieben haben sollte, fing an, mir auf die Nerven zu gehen, da konnte ich eine kleine Ablenkung ebenso gut brauchen wie das sicherlich großzügige Honorar. Eine Rede zur Einweihung eines neuen Firmengebäudes sollte es sein. Reden dieser Art halte ich gern, es hat sich herumgesprochen, dass ich das kann. Vor allem, wenn Veranstaltungen steif zu werden drohen, fragt man gern bei mir an. Die Befürchtungen sind begründet: Ein Bürgermeister, ein Bauherr, ein Aufsichtsrat, ein Betriebsratvorsitzender, eine Alibifrau, ein Ehrenpräsident, ein Staatssekretär, der den Minister vertritt – alle reden, das Gähnen reißt nicht ab, die Schnittchen werden lappig. Man braucht Auflockerung. Ein Schriftsteller ist genau richtig. Er kann sich einen anderen Ton leisten. Wenn es so ist, sie es sein soll, kann man mit ein paar Witzen rechnen.

„Unser Unternehmen ist Ihnen sicher ein Begriff“, sagte der Mann am Telefon. „Ja, ja“, log ich. Ich hatte den Namen noch nie gehört. Vielleicht eine Marke. Ich bin kein Markenmensch. Angeblich weltweit bekannt. Sie stellen Dinge her, die ich nicht brauche. Die berühmtesten Krawatten der Welt. Teuer. „Ach was?!“ sagte ich und freute mich auf mein Honorar.

Der Direktor selbst hatte es sich nicht nehmen lassen, mich anzurufen. Ich fand es sympathisch, dass er sich Direktor nannte. Altmodisch. Am Schluss solcher Telefongespräche kommt gewöhnlich die Frage, auf die ich jetzt wartete: „Ihre Honorarvorstellungen?“ Das Wort „fünf“ lag auf meiner Zunge parat. So ausgesprochen, dass eindeutig klar war, es würde sich um fünftausend handeln. Und zwar Euro.

Die Frage kam nicht. Er wird mich am Schluss zu seiner Sekretärin durchstellen, dachte ich. Stattdessen bat er mich um ein Treffen. Ich verwies auf meine knappe Zeit. Kann man doch alles am Telefon besprechen. „Sie sollten das neue Firmengebäude vorher schon einmal gesehen haben“, sagte er, halb flehend, halb mahnend. Er war wohl stolz auf seinen Palast, und ich wollte nicht unhöflich sein und sagen: Es gibt e-Mails, es gibt Fotos, im übrigen würde es mir genügen, am Tag der Einweihung zehn Minuten vorher zu kommen. Schließlich ist es ein großer Vorteil der Architektur gegenüber der Literatur, dass man zu einem Bauwerk in wenigen Minuten ein Urteil bilden kann und nicht stundenlang lesen muss. Er nannte eine Adresse. „Wo ist das denn?“ Ich glaube, ich schrie die Frage.

Es war noch hinter dem Flughafen. Ich Idiot hatte kein Taxi genommen. Sechs, dachte ich, das kostet euch sechstausend. Neue Straßen, keine Namen - die Hölle. Ich verfuhr mich. Kein Mensch weit und breit, den man fragen könnte. Baumaschinen ohne Arbeiter. Als wäre die Pest ausgebrochen. Sieben, dachte ich, das kostet euch sieben. Ich sehnte mich nach meinem Schreibtisch, nach meinem auch unfertigen aber vergleichsweise übersichtlichen Roman.

Das Firmengebäude immerhin war fertig, die Gegend drum herum noch eine Art Todesstreifen. „In vier Wochen sind die Bagger weg“, sagte der Direktor und ich spürte die verdrießliche Miene, mit der ich aus dem Fenster starrte. Seine Sekretärin brachte Tee. Eine Chinesin. Hübsch. Sehr hübsch. Sehr, sehr hübsch. Ich war etwas versöhnt. Die Irrfahrt hierher war nicht ganz sinnlos gewesen. Der Direktor stand abrupt auf, ging zum Schreibtisch und überreichte mir einen unförmigen Karton. Der Deckel war durchsichtig. Eine Krawatte! Ähnlich abscheulich wie die, die der Direktor trug. Selbst aus Seide lag sie auf einem Seidenbett, wie eine Luxusleiche in einem Luxussarg. „Um Sie ein bisschen an das Unternehmen zu binden“, sagte der Direktor. Dafür, dass er den Kalauer schon öfter losgelassen haben dürfte, kam er erstaunlich frisch.

Dann kam er zur Sache. Auf die Geschichte der Firma brauche ich in meiner Rede nicht einzugehen, dies sei seine leidige Pflicht. Ich nickte und war ziemlich sicher, dass er mich gleich bitten würde, auf die Transparenz des Bauwerks einzugehen. Ich hatte allein im vergangenen Jahr zwei Reden zur Einweihung von Gebäuden halten müssen, und manchmal sind alle guten Dinge drei. Jedesmal war ich von den Bauherrn gebeten worden, auf die Transparenz einzugehen - „auf Ihre Art eben, Sie machen das schon.“ Das waren ziemlich simple Reden gewesen, denn ich plauderte einfach nur aus, dass ich gebeten worden sei, die Transparenz zu loben, die jeder Architekt erzeugen und jeder Bauherr haben wolle - nur könne keiner mehr die Transparenzlobhudelei ertragen, daher habe man mich engagiert. So beschwerte ich mich zehn Minuten lang über das, was ich sagen sollte, sagte es damit auch, die Rede war fertig - und alle waren zufrieden, auch die Architekten, die sich endlich einmal ironisch gewürdigt fühlten. Dieses neue Luxusseidenkrawattengebäude hier war zwar alles andere als transparent, umso besser würde die Ironie meiner Rede sein.

Es war aber nicht die missratene Architektur, die ich mit lockeren Worten als gelungen darstellen sollte. Die Lage war das Fatale. Als der Umzug hier drohte, habe es zum ersten Mal in der Geschichte der Firma eine Demonstration der Belegschaft gegeben, sagte der Direktor. 1968 sei alles ruhig geblieben, obwohl man doch damals gegen Krawatten einiges hätte vorbringen können. Nun aber seien die Mitarbeiter mit Transparenten und skandierend durch die Straßen der Innenstadt gezogen: Nie, NIE, NIE – AN DIE PERIPHERIE.

„Dabei ist das Wort Peripherie ja noch ein Euphemismus für das hier“, sagte der Direktor und starrte nun auch geradezu selbstmörderisch aus dem Fenster. Ich schwieg. Recht hatte er. Das Unternehmen war bis vor kurzem da gewesen, wo ein so traditionsreiches Unternehmen hingehört: Im Herzen der Stadt. Wunderschönes Gründerzeitgebäude. Genügend Platz für die zweihundert Mitarbeiter und die paar Nähmaschinen, die man zum Fertigen von den Edelkrawatten braucht. Die Golfschlägersäcke werden woanders zusammengenäht. In China. Die Geschäfte liefen wie am Schnürchen. Mit der Erweiterung der Produktpalette habe man die Krise gut überstanden. Nur leider ist das Unternehmen in Familienhand. Es gibt nichtsnutzige Erben, die eine zweite Mittelmeerjacht haben wollen. So ist die Kapitaldecke immer dünner geworden. Nun hat man das Stammsitz der Firma verkaufen und hier draußen bauen müssen. Hier. Ein Trauerspiel. Der älteste Krawattenfabrikant der Welt...

„Am Arsch der Welt“, ergänzte ich - und zwar wirklich voller Mitleid. „Sie sagen es“, sagte der Direktor. Und meine Aufgabe sei es, dies in meiner Rede vergessen zu machen. Trösten Sie uns, trösten Sie mich, trösten Sie unsere Geschäftspartner, die hier heraus fahren müssen, sagen Sie irgendwas Nettes, erheitern Sie uns, machen Sie uns vor, dass es hier nicht so schlimm ist, wozu sind Sie Dichter.

„Harter Job, Sie muten mir was zu“, sagte ich, auch um ihn zu erinnern, dass wir noch nicht über mein Honorar gesprochen hatten. Dafür hatte er mit seiner Klage über die dünne Kapitaldecke schon angedeutet, dass ich mich mit meinen Forderungen würde mäßigen müssen. Ich ahnte: Wer sich an die Peripherie hat drängen lassen, der wird Festredner nicht üppig entlohnen können. Als er von sich aus nicht darauf zu sprechen kam, fragte ich ihn: „Wie stellen Sie sich meine Honorarvorstellungen vor?“ Die Frage war nicht unkomisch formuliert, fand ich, aber er lachte nicht, sondern sagte:" „ Die anderen Redner machen das umsonst.“ Ich klärte ihn auf, was ein freier Schriftsteller ist. Er versuchte mir klar zu machen, dass dieser schauerliche Krawattenleichnam in diesem schauerlichen Krawattensarg ein kostbares Geschenk sei, ein Exemplar aus der limited edition. Ich war fassungslos, und er belehrte mich: „Das ist mehr wert als so manches Honorar.“ Jetzt tat er mir nicht mehr leid, er hatte sein Schicksal verdient. An den Rand mit solchen Leuten! „Ich mache mir nichts aus Krawatten“, sagte ich. Der Hinweis kränkte ihn nicht. „Bei ebay sollen Krawatten unserer limited edition schon für über fünf weggegangen sein“, sagte er verschwörerisch und präzisierte: „fünftausend. Euro.“ „Versteigern Sie Ihre Krawatten selbst“, sagte ich dem Direktor, wollte gehen und weder diesen Mann noch diesen Ort je wiedersehen. Da schaute die Chinesin ins Zimmer und fragte, ob wir etwas bräuchten.

Tausend. Mehr waren nicht drin. Wegen der Chinesin sagte ich zu. Vier Wochen später war es so weit. Diesmal kam ich mit dem Taxi, und der Fahrer verfuhr sich. Ich hatte den Namen der Straße vergessen. Irgendetwas mit Sechs Eichen oder Drei Birken. Oder An der Buchenhecke. Buchenwald war es nicht, das Kainsmal hätte ich mir gemerkt. Oder Moorweg? Im kühlen Grund? Oder war es gar ein adornisches Im Wiesengrund? Nein, das wäre mir aufgefallen. „Ist doch egal“, sagte der Taxifahrer. Richtig, es war egal, die Straßenschilder waren noch immer nicht angebracht und immer noch kein Mensch unterwegs, den man fragen könnte. Die Fahrt kostete ein Vermögen. Für die Taxis war die Peripherie ein Segen.

Ich malte mir ein moderne Aufführung der Göttlichen Komödie aus: Dante in einem Taxi mit einem gutgelaunten Fahrer namens Vergil, der sich heillos verfahren hat, während der Fahrgast in edlen Versen spricht: „Dem Höhepunkt des Lebens war ich nah... da ich verirrt den Weg nicht wieder fand... viel bittrer kann der Tod nicht sein... ich weiß nicht recht, wie ich hierher geriet... bis dass ich abkam weit vom rechten Weg.“ So heißt es gleich zu Beginn des ersten Gesangs. Dante musste die Peripherie der modernen Großstädte vor Augen gehabt haben, als er die Suche nach der Hölle beschrieb. In der Hölle der Randgebiete schmoren die Unseligen. Im Himmel der Innenstadt flanieren die Erlösten. Schade, dass ich keine Rede zum Umzug einer Firma von Jottwede ins Zentrum zu halten hatte.

Der Oberbürgermeister war nicht gekommen, nur ein Stadtrat. Der Vorsitzende eines internationalen Golfclubs, der ein Grußwort sprechen sollte, sei unterwegs, hieß es. Der Direktor stellte mir einen sonnenbraunen Schönling vor – der einzige Mann außer mir, der keinen Schlips trug. Er schüttelte mir solidarisch die Hand. Ein Spross der Inhaberfamilie. Ich versuchte ein klassenkämpferisches Gesicht zu machen. So also sah der Teufel aus, wegen dem die armen Unschuldigen aus dem Paradies vertrieben und fortan hier draußen schmachten mussten.

Die Chinesin war nicht da. Und weg war meine Inspiration. Nur mit diesem Bild von einer Frau vor Augen hätte ich die Kraft aufgebracht, den verstiegenen Einfall aufzublasen, ein Vorteil der Peripherie sei, dass das zunächst Unschöne an ihr mit Schönheit ausgeglichen werden müsse - und diese Kompensation sei ein heilsamer Zwang. Macht es euch schön! Ein betulicher Gedanke, der gar nicht in meine Rede gepasst hätte. Wenn er angekommen wäre, hätte ich ihn mit dem Zitat eines surrealistischen Poeten gekrönt: „Arbeiterinnen alle Länder: seid schön!“

Nach der lustlosen Rede des dritten Bürgermeisters und dem Grußwort des Golfclub-Präsidenten, das aus der neckischen Schilderung der Taxi-Irrfahrt hierher bestand, mit der eigentlich ich hatte beginnen wollen, war ich an der Reihe und begann damit, dass die heute so verpönte Peripherie einen königlichen Ursprung habe. Der klassische Monarch sei auf Ausdehnung seines Reiches wie auch seines Wanstes aus gewesen. Nur ein dicker König ist ein guter König. Im 18. Jahrhundert habe man, wenn man einen dicken Bauch meinte, von einer „kolossalen Peripherie“ gesprochen, auf die jeder König neidisch gewesen wäre.

Vereinzelt wurde höflich geschmunzelt, der Einstig war nicht der Brüller. Ich kam dann vom Bauch zum Nabel der Welt, schließlich zum Herzen der Stadt und landete beim Arsch der Welt, das ließ sich gar nicht vermeiden. Ich sah, wie der Direktor zusammenzuckte. Genau dieses Wort hatte er nicht hören wollen. Genau das hatte ich in meiner Rede ja vergessen machen sollen, dass man sich hier am Arsch der Welt befindet. Wäre er mit seinem Honorar nicht so knauserig gewesen, hätte ich mir das besser überlegt.

Da überkam mich wieder das Mitleid mit den Unglücklichen, die täglich hier heraus fahren müssen und ich fing an, den Arsch als etwas Wunderschönes zu beschreiben, in Brasilien habe man bereits erkannt, dass es sich um den wichtigsten Teil des Körpers handle, und auch im alten Europa werde die Zeit kommen, wo die Aussage „Ich wohne am Arsch der Welt“ oder „Mein Arbeitsplatz ist am Arsch der Welt“ positiv verstanden und sogar Sozialneid hervorrufen werden würde. Selten habe ich so gelogen.

Der Direktor sah böse zu mir her, und der schlipslose Inhaberspross lachte laut auf. Seine Zustimmung war mir widerlich. Ich musste das Thema Arsch jetzt fallen lassen, durfte nur nicht den Fehler machen, auf die Peripherie brasilianischer Großstädte zu sprechen zu kommen, wo bekanntlich pro Tag tausend Morde verübt werden.

Ich fing an die Zentren zu beschimpfen. Nur der Pöbel tummle sich im Zentrum. (Aufmerksamkeit.) Was sei denn das Zentrum heute? Nur noch Fußgängerzone. (Das war schon fast wahlrednerhaft. Lachen.) Wenn schon Zone dann lieber Zonenrandgebiet. (Unsicheres Lachen.) Das gebe es leider nicht mehr. (Lachen verstummte abrupt.) Aber dafür hätten wir die Peripherie. (ratloses Schweigen.)

Ich versuchte es mit Goethe, „Harzreise im Winter“, die berühmte Zeile: „Aber abseits, wer ist’s?“ Ich verschwieg, wie passend zum neuen Standort das Gedicht weitergeht: „Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, / Hinter ihm schlagen / Die Sträuche zusammen, / Das Gras steht wieder auf, / Die Öde verschlingt ihn.“ Diesen armen vertriebenen Luxuskrawattenleuten zuliebe deutete ich die Gedichtzeile um und versuchte, die Peripherie als das große Abseits zu beschreiben. Positiv. Das Abseits sei keine Falle. (Blödes Bonbon für die Fußballfreunde, wurde sofort mit Lachen belohnt.) Das Abseits sei der klassische intellektuelle und literarische Ort. (Ratlosigkeit. Klar, das waren keine Intellektuellen, keine Literaten hier, das waren Unternehmer. Ich musste versuchen, die Kurve über die Krawatten zu kriegen.) Im Abseits, in der Peripherie, sagte ich, stünden nicht all die ordinären Wichtigtuer, die sich sehen lassen wollten, die versuchten immer im Mittelpunkt zu stehen, im Zentrum herrsche ein widerwärtiges Gedrängel, die Peripherie sei luftig und der ideale Ort für die Lässigen, die Dandys, die Souveränen. Am Rand könne man sich anlehnen und die Arme verschränken und dem lächerlichen Treiben in der Mitte mit dem nötigen Abstand zusehen. Abseits stehen sei edel. Ich verschwieg den Aspekt der Dekadenz und setzte noch eins drauf: die Männer an der Peripherie trügen gelegentlich seidene Krawatten.

Selten habe ich so gelogen. Aber es kam einigermaßen an. Irgendwas war ja auch dran an diesen windschiefen Bildern. Ein bisschen fing ich schon selbst an, daran zu glauben. Vor allem lachte der schlipslose Inhaberspross nicht mehr. Und der Krawattendirektor schien einigermaßen versöhnt. Sogar der Betriebsratsvorsitzende lächelte milde. Den Rest meiner zehn Minuten füllte ich auf mit einem kleinen Lob des Umherirrens. Da Irren bekanntlich das Menschlichste überhaupt sei, könne man sagen, dass die Peripherie die Menschlichkeit fördere.

Den Humorlosen zuliebe wurde ich auch eine Minute halbernst und machte mich zum Kritiker der Kulturkritik: Die Mitte sei längst verloren. Albern, dass Hans Sedlmayr ihren Verlust beklagt habe. Es lebe die Randnotiz! Sie enthalte das Wesentliche. Die Marginalien - nur in ihnen sei Wahrheit, peripher sei mein Lieblingswort. Angesichts dieses neuen Firmenstandorts, dies werde mir immer klarer, forme sich in meinem Kopf wie von selbst der Grundstein zu einem neuen Buch mit dem bekennenden Titel „Ich bin ein Bewohner der Peripherie“. (Klatschen.)

Die Jugend habe längst begriffen, dass Leute, die ihre Mitte gefunden hätten, nervtötende Langweiler und miese Karrieristen seien, die interessanten Typen seien die, die abseitiges Zeugs machten. Keine höhere Auszeichnung als „voll daneben“ zu sein. (Trotz meiner Feurigkeit leichte Skepsis im Publikum.) Analog zur klassischen Nebenfrau des Erfolgsgatten sei der Nebenmann für die emanzipierte Frau zu fordern, denn auch in der Liebe müsse das Periphere zu seinem Recht kommen. (Schmunzeln der Älteren, ausdruckslos die Gesichter der Askesemanager.)

In Anlehnung an die ehrenwerten Protestsprechchöre, mit denen die aufgebrachte Belegschaft einst gelobt hatte, nie, nie, nie an die Peripherie umzuziehen , erlaubte ich mir arbeitnehmerunfreundlicherweise die Umkehrung des Schlachtrufs: Sag niemals nie – zur Peripherie. (Leider Klatschen des Inhabersprosses.)

Gegen Ende kam ich in Fahrt: Wo wären wir ohne die in der Peripherie des Globus kreisenden Satelliten? Richtig, im Herzen der Steinzeit. Keine Handies. Keine dreiunddreißig Fernsehprogramme. Oder wäre das der Himmel?

Ich erzählte von meiner Erfahrung als Schriftsteller: An der Peripherie der Städte, wo genügend erschwinglicher Raum zu Verfügung stünde, bilde sich immer mehr ein höchst angenehmes alternatives Treiben und eine charmante Hallenkultur. Tatsächlich konnten literarische Veranstaltungen an den Rändern der Städte mehr Charme haben als die im hochnäsigen Zentrum. Ich verschwieg, dass allerdings nichts grausamer, demütigender und unpraktischer für einen Reisenden ist, als kein Zimmer im Zentrum mehr zu bekommen und in ein Hotel an der Peripherie ausweichen zu müssen, das allenfalls als Raum für eine Inferno-Szene von Dante tauge und dass ich Veranstalter erschlagen könne, die mich in solchen Peripherie-Hotels unterbrächten, deren einziger Vorteil der Parkplatz sei, aber lieber eine Stunde Parkplatz suchen und Klo am Flur in der Innenstadt als Parkluxus und Whirlpoolwanne am ganz und gar nicht knackigen Arsch der Welt. Ich überlegte, ob noch Zeit genug war, auf den Aspekt des Wetters einzugehen und anzumerken, dass zur Peripherie ideal ein undefinierbares Wetter gehöre, vorzugsweise leichter Nebel oder Niesel. Bei richtig schlechtem Wetter, bei dem man sich im Zentrum behaglich in ein Café begibt, könne man sich in der Peripherie nur noch aus dem Fenster stürzen. Bei richtig gutem Wetter ebenso. Auch die vier-, sechs-, acht-, zehn-, zwölfspurigen Umgebungs- oder Entlastungs- oder Zubringerstraßen, gern Spangen oder Tangenten genannt, sind Ausgeburten der Peripherie und wären einer kritischen Würdigung wert. Doch der Krawattendirektor begann auf die Uhr zu blicken.
Ich schwärmte noch rasch von neuen Gemeinschaftsgefühlen und malte meinen Zuhörern aus, wie paradiesisch es sei, in der Peripherie fremde Menschen, die sich irgendwann auch hier angesiedelt haben würden, nach dem Weg in die Stadt oder nach der Bushaltestelle zu fragen, und die dann, erlöst von der Einsamkeit in ihren Autos freundlich sagen würden: Vergessen Sie den Bus, steigen Sie ein, fahren Sie mit! Der Direktor tippte auf seine geschmacklose und teure Armbanduhr. Vielen Dank, meine Damen und Herren.

Nach mir würdigte ein Architekturprofessor den Bau. Wie zu erwarten pries er die Transparenz und sprach von der Chance, die der weite Raum der Peripherie den Architekten gäbe, von der Kreativität, die sich hier entfalten könne, von den Zwängen, denen die Architekten in den Innenstädten unterworfen seien, von der Zukunft der Peripherie. Dann Sekt und Schnittchen - nicht einmal lappig. Der Direktor winkte mich in sein Gemach. Die Chinesin war doch da, sie hatte das Telefon bewacht und überreichte mir meinen Scheck - und noch mal eine Krawatte in der Sargschachtel - limited edition. „Ich hab doch schon...“ sagte ich, aber sie drückte mir die Gabe fest in die Hand und sagte: „ebay“. Aus ihrem chinesischen Mund klang das nicht schlecht.

Dann wurden Taxis gerufen, doch nur wenige fanden das Ziel. Auch das ein Vorteil der Peripherie: In der Ödnis rückt man zusammen. Ich stieg zusammen mit der Chinesin in ein freies Taxi. Leider fragten der dritte Bürgermeister, der Präsident des Golfclubs und der Krawattendirektor, ob sie mitfahren könnten. Nur der Inhaberspross fand keinen Platz mehr. „Sie heißen Vergil, stimmt’s“, sagte ich zum Fahrer. Ein Schwarzer. Er nickte geduldig: „Wohin? Zur Hölle?“Joseph von Westphalen
geboren 1945 in Schwandorf, promovierter Germanist, lebt als freier Schriftsteller, Jazzpianist und Journalist in München. Einem größeren Publikum bekannt wurde er durch seine Harry-von-Duckwitz-Romane. Westphalen gilt als einer der scharfzüngigsten, bissigsten und witzigsten Autoren Deutschlands.

Veröffentlichungen:
Ab 1985 begann er seine verstreut erscheinenden Entrüstungen in diversen Büchern zu sammeln. (Warum ich Monarchist geworden bin, Warum ich trotzdem Seitensprünge mache, Das Drama des gewissen Etwas u. a.)
1987/88 veröffentlichte das Zeitmagazin Westphalens vielbeachteten Briefwechsel mit Monika Maron aus der damaligen DDR. Westphalen erfand den legendären Harry Duckwitz, Held dreier Romane 1991-1996 (Im diplomatischen Dienst, Das schöne Leben, Die bösen Frauen).
Die Wiedervereinigung hatte er 1990 schon mit seiner vergeblichen Streitschrift gegen die deutsche Einheit begrüßt. - Im März 1999 erschien im Hanser Verlag sein Buch "Wie man seine Eltern erzieht", das ihm ein neues Prädikat einbrachte: "Schwertgoschn"/Süddeutsche Zeitung). - Im August 1999 erschien im Verlag Kein&Aber "Wie man mit Jazz die Herzen der Frauen gewinnt", der "weltweit erste Romansoundtrack" auf 4 CDs nebst einem 180 Seiten starken Begleitbuch.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der Text erschien erstmals in Baumeister B9, September 2004.

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova
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