31/10/2004
31/10/2004

Der Autor (1995)
Foto: Fritz Lorber

Der Wald der Geschichte - In der Gottschee
von Karl-Markus Gauß

Und plötzlich, im tiefen Wald, begriff ich, daß ich mitten im Dorf stand.
Wir waren in Rajndol beim Sägewerk auf die kleine Straße abgebogen, die zu den alten Dörfern Verderb, Verdreng und Unterfliegendorf führte. Die Wiesen summten in einem satten Grün und stiegen, indem sie immer wieder in tiefe Senken abfielen, nur langsam hügelan. Nach ein paar hundert Metern erreichte die Schotterstraße den Wald und schnitt in die Finsternis hinein. Das abgeblätterte Holzschild, vor ewigen Zeiten aufgestellt und vergessen, wies den Weg nach Turkova Draga, wie Unterfliegendorf amtlich hieß, seitdem die österreichisch-ungarische Monarchie zerfallen und das ganze Gebiet slowenisches Territorium war. Der auf den Landkarten eingezeichnete Weg führte holprig um ein paar Kurven, wurde enger und enger - und ließ es dann gänzlich sein. Irgendwann konnten wir mit dem Auto nicht mehr weiter und gingen zu Fuß. Irgendwann konnten wir zu Fuß nur mehr weiter, wenn wir uns unter die tiefhängenden Äste der Bäume duckten, die Zweige der Sträucher mit den Händen wegschoben und über das Gestrüpp, die Dornenhecken und Farne stiegen. Jetzt waren wir in den Finsterwald vorgedrungen und fanden keinen Punkt, von dem aus weiter als fünfzig Meter zu sehen war. An dieser Stelle angekommen, steht man in der Mitte des Dorfes Unterfliegendorf, das dem Wald abgerungen worden war, ein paar hundert Jahre bewohnt blieb und, nachdem seine letzten, bedrängten Einwohner es verlassen hatten, wieder vom Wald verschluckt wurde.
Der Dorfplatz ist durch zwei große Steine markiert, die noch zehn Zentimeter aus der Erde ragen und unter dem Flechtwerk zu erkennen sind. Das ist es, was von Unterfliegendorf, seinen Häusern, Ställen, Obsthainen und Feldern, von Arbeit und Ausdauer, Trotz, Gleichmut und Verzweiflung der Bewohner übriggeblieben ist. Einst waren sie hierher geschickt worden, den Wald zu erobern, mit dem Versprechen, daß das Land, das sie aus ihm schlugen, ihnen gehören werde. Mehr als zwanzig Generationen haben in den wasserarmen Sommern und den schneereichen Wintern den Urwald zu roden und aus der Gottschee, dem Ländchen, wie sie es nannten, eine fruchtbare Kulturlandschaft zu machen gesucht. Der Versuch dauerte über sechshundert Jahre, fünfzig haben genügt, daß sich der Wald alles wieder holte, was ihm zuvor abgewonnen worden war. Selbst die Spuren der menschlichen Anwesenheit hat er zugedeckt, und doch ist es nicht die gefräßige Natur gewesen, die diesem Land das Gedächtnis entrissen hat; daß heute im slowenischen Verwaltungsbezirk Kocevje kaum mehr etwas von der deutschsprachigen Bevölkerung zeugt, die hier so lange gelebt hat, ja daß Häuser, Kirchen, sogar Friedhöfe zerstört wurden, damit nichts an jene erinnere, die sie errichteten, hat nicht der Wald verursacht.
Von Unterfliegendorf fanden wir zwei Steine, vom nahen Verderb einen Steinhaufen auf einer kleinen Lichtung, die der Wald hoch umschloß, in Verdreng endlich stießen wir auf drei Häuser. Aus einem trat ein Mann von fünfzig Jahren, den man mit seinen weißen, zu einem Zopf gebundenen Haaren und der randlosen Brille eher für einen Professor der Soziologie als für einen Bauern gehalten hätte, und der auf meine Frage deutsch antwortete: Jaja, das sei Verdreng, mehr ist nicht mehr, und er zuckte mit den Achseln und machte sich mit großen Schritten nach dem entferntesten Haus davon, einem neuen Wirtschaftsgebäude, vor dem einige landwirtschaftliche Geräte standen. Sonst war kein Mensch zu sehen, kein Laut zu hören, selbst die Vögel schienen zu wissen, daß hier alles längst vorbei war.
Verdreng liegt auf einer Hochebene, und auf einer kleinen, mit Holzlatten umzäunten Wiese erhebt sich eine mächtige Kastanie, an die irgendjemand ein Bild des alten Verdreng genagelt hat. Die Wiese, auf der wir standen und anhand einer Fotografie der zwanziger Jahre das alte Verdreng mit dem zu vergleichen suchten, was wir vor uns und um uns sahen, war damals der Kirchplatz gewesen. Die Kirche wurde 1771 geweiht und barg als größten Schatz ein Standbild des heiligen Johannes des Täufers. 1952 wurde das Gotteshaus des nahezu verlassenen Dorfes von einem Kommando, das darin Übung hatte, sachkundig gesprengt, ein Monument des finsteren Aberglaubens, das der Fortschritt hinwegfegt. Ihr Platz ist nur mehr daran zu erkennen, daß auf einer Fläche von beiläufig dreißig Metern Länge und fünfzehn Metern Breite der Boden völlig eben ist, während sich ringsum das Land in seinen charakteristischen Hügeln und Senken wellt. Dort, wo auf dem Foto ein weitgestrecktes Dorf war, stand jetzt nur das Wirtschaftsgebäude, in dem der wortkarge Mann verschwunden war, und dahinter erhob sich verschattet im Licht des Nachmittags eine dicht bewaldete Hügelkette. Viel mehr war auch von Verdreng nicht übriggeblieben; halb verdeckt vom mannshohen Gras führte eine Steintreppe, der das Haus fehlte, ins Nichts, näher beim Wald zerfiel eine Zisterne. Aus den Zisternen und den Teichen, die Namen wie "Söhnleinlacke" hatten, waren früher die kleinen Kinder geholt worden, die in der Gottschee nicht der Storch brachte, sondern die Hebamme mit dem Korb aus dem Wasser schöpfte.
Die drei Dörfer mit den vom Elend sprechenden Namen gehörten früher zur Gemeinde Mösel, zu der wir durch den Wald zurückfuhren. Entlang der ganzen Strecke trafen wir keinen einzigen Menschen. Mozelj immerhin, das alte Mösel, war noch bewohnt, wenngleich sich niemand auf der Straße sehen ließ; doch bemerkten uns die Hunde und schlugen an, als wir zur Kirche hinaufschritten. Mit markantem Glockenturm steht sie inmitten von Gemüsebeeten ein paar Meter über der Gemeinde, eine von gezählten 27 Kirchen, die in der einst mit Kirchen so reich bestückten Gottschee noch zu finden sind. Sie war versperrt, und als wir um das Gebäude herumgingen, seitlich einen offenen Eingang und im schönen Innenraum ein altes Taufbecken fanden, schlugen ringsum wieder die Hunde an. Im Gottscheer Volksglauben kündeten zwei Ereignisse den Tod an: wenn jemand plötzlich wieder ohne Brillen lesen konnte, und wenn die Hunde eines Dorfes grundlos zu heulen anfingen. So entschlossen wir uns, den Tod zu besuchen, doch am neuen Friedhof, einen Kilometer außerhalb der Gemeinde, begegneten wir nicht ihm, sondern endlich wieder Menschen, zwei jungen Männern in Trainingsanzügen.

2.
Die Gottschee ist ein Gebiet von 850 Quadratkilometern, das vom Flüßchen Krka im Norden bis zum Fluß Kolpa im Süden reicht, der heute die Grenze zwischen Slowenien und Kroatien bildet. Eine Autostunde südlich der slowenischen Hauptstadt Ljubljana erhebt sich das landschaftlich vielgestaltige Gottscheer Hochland, das im wesentlichen aus drei Bergketten, die von Nordwesten nach Südosten verlaufen, und drei Tälern besteht. An seiner weitesten Stelle streckt sich das Gebiet von Ost nach West auf gute vierzig Kilometer Breite und von Nord nach Süd auf knappe dreißig Kilometer Länge. Seinen inneren Gebirgsstock, das Massiv des Hornwaldes, slowenisch Rog genannt, bildet einer der mächtigsten Wälder Europas, der den Gottscheern jahrhundertelang Schutz und Feind, Lebensgrundlage und Verhängnis war und am Anfang und am Ende der Geschichte vom Ländchen steht.
Als die Besiedelung der Gottschee im 14. Jahrhundert in Angriff genommen wurde, bedeckte der Wald das Gebiet zur Gänze. 600 Jahre unausgesetzter Arbeit benötigte es, bis mehr als die Hälfte davon gerodet und zu Äckern, auf denen Getreide angebaut wurde, großen Obstgärten und Feldern für das Vieh kultiviert war. Dazwischen, dem Wald abgetrotzt, hockten 171 Dörfer und die eine Stadt, die den ethymologisch unklaren, aus dem Slawischen stammenden Namen des Gebietes trug, Gottschee. Nachdem die deutschsprachige Bevölkerung im Winter 1941/1942 ausgesiedelt worden war, auf Geheiß des Führers, der die Region für die nächsten tausend Jahre seinen italienischen Bündnisgenossen überlassen wollte, und bedrängt von den slowenischen Partisanen, die das Gebiet nicht nur militärisch zu gewinnen und politisch zu beherrschen, sondern auch ethnisch zu säubern suchten, ist die Gottschee vom Wald zurückerobert worden. Aus über achtzig Prozent der Gottschee ist wieder Wald geworden, der die landwirtschaftlichen Flächen, kaum daß sie nicht mehr bebaut und gepflegt wurden, rasch überzog, über die Äcker und Felder lief und sich die vielen Dörfer einverleibte, die von den italienischen Truppen im Kampf gegen die Partisanen zerstört oder von diesen, als sie die Okkupanten besiegt hatten, gesprengt wurden.
Die slowenischen Kommunisten, unwillig, dem Ruhm des Widerstandes gerecht zu werden, jetzt, da sie gesiegt hatten und Frieden war, unfähig, die Bevölkerung zu begeistern, die sie stattdessen mit immer neuen Direktiven demoralisierte, wußten mit dem Reichtum, den die Gottscheer in Form blühender Obsthaine, großer Sägewerke und ausgedehnter landwirtschaflicher Nutzflächen zurückließen, nichts anzufangen. Das Land verfiel, und die ethnische Purifizierung brachte nicht einmal jenen einen Gewinn, die sich als Gewinner fühlten. So wanderten nach und nach auch die Slowenen ab, die dort über Jahrhunderte zumeist friedlich und zum Nutzen beider Volksgruppen mit den Gottscheern zusammengelebt hatten.
Während die Natur einen großen Teil des Gebietes nach einem halben Jahrtausend zurückgewann, wurde ein anderer Teil der Gottschee für ein halbes Jahrhundert zum militärischen Sperrgebiet. Von schwerbewaffneten Posten gesichert und abgeriegelt, war das einstige Kernland der Gottscheer Besiedelung zwischen Rieg und Göttenitz auch der slowenischen Bevölkerung bald nach 1945 entzogen worden. Was in dem verbotenen Gelände passierte, darüber erzählte man sich absonderliche, beängstigende Geschichten. Die einen befürchteten, die Regierung habe darin riesige Bunker errichtet, aus denen eines Tages, wenn der erwartete Weltkrieg begänne, die bisher verheimlichten Atomraketen aus der Tiefe steigen würden. Andere glaubten, daß in den Wäldern Straflager verborgen wären. Und viele schimpften auch nur über die Nomenklatura, die sich hier ein eigenes Revier zur Bärenjagd, zum Fischfang und Pilzesammeln geschaffen hätte. Bis heute ist die Geschichte der Sperrzone nicht aufgeklärt; als sich nach der politischen Wende die Balken der aufwendig gesicher~
ten inneren Grenze hoben, fanden die früheren Bewohner, die zur Besichtigung zurückkehrten, ihr Land verändert vor.
Die Redaktion von GAT bedankt sich beim Autor für die freundliche Überlassung des Textes.
Dieser stellt den Anfang des 46 Seiten langen Essays mit dem Titel "Der Wald der Geschichte - In der Gottschee" dar, der im Buch "Die sterbenden Europäer", 2001 im Zsolnay Verlag, Wien, erschienen ist und 2002 bei dtv als Taschenbuch herauskam.
Karl-Markus Gauß wurde 1954 in Salzburg geboren, wo er heute noch lebt. Er ist Essayist, Literaturkritiker und seit 1991 Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik", hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schreibt für große Zeitungen wie die „Die Zeit“, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die "Neue Zürcher Zeitung" und die "Die Presse". 1994 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik, 1998 den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch und 2001 den Preis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln. (Auszug)

Werke, Anthologien: Das Buch der Ränder, 1992; Das reiche Land der armen Leute, 1992 (mit M. Pollack). - Essays: Tinte ist bitter, 1988; Der wohlwollende Despot, 1989; Die Vernichtung Mitteleuropas, 1991; Ritter, Tod und Teufel, 1994; Das Europäische Alphabet, 1997; Ins unentdeckte Österreich. Nachrufe und Attacken, 1998; Der Mann, der ins Gefrierfach wollte. Albumblätter, 1999; Die sterbenden Europäer, 2001; Mit mir, ohne mich. Ein Journal, 2003.

Verfasser/in:
ausgewählt von Karin Tschavgova
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