14/12/2023

Empfehlung für ein Fachbuch zu Stadtentwicklung und Städtebau in Zeiten des dramatischen Klimawandels, das als Analyse und Ausblick die Basis für die notwendige Transformation von Graz und seinen Randbezirken werden könnte.       

14/12/2023

Buchschmiede Buchgestaltung © W. Ranseder

Den Anfang machten sieben offene Briefe mit sieben „Topics/Themen“, die der Autor als Architekt, als an Stadtplanung interessierter Fachmann und als Grazer Stadtflaneur von 2017 bis 2018 verfasst und an den damaligen Grazer Bürgermeister adressiert hatte. Diese Briefe, die in loser Folge auf GAT veröffentlicht wurden, bilden den Kern – Buch II – und Ausgangspunkt der nun vorliegenden Publikation, die bis zu ihrer Drucklegung noch beeindruckend angewachsen ist, abgerundet oder eingefasst durch ein Erstes und ein Drittes Buch. Schon dies ist interessant und macht die Lektüre spannend, wenn man mit den Briefen beginnt, die alle eine aktuelle städtebauliche Entwicklung in der Stadt Graz zum Ausgangspunkt nehmen.

Wolfgang Steinegger analysiert diese jeweils konkrete Situation und bringt dann – mit fundierten Argumenten und Bezug auf städtebauliche Entwicklungen in anderen europäischen Städten – Kritik und Ideen dazu vor. Dass es ihm nicht in erster Linie um das Kritisieren geht, sondern darum, das Nachdenken über städtebauliche Auswirkungen konkreter Großprojekte anzuregen, ist in jedem der Briefe zu erkennen. Was schon durch die ersten Zeilen deutlich wird: Betrachtung wie Analyse erfolgt nie abstrakt, nie im luftleeren Raum, sondern immer konsequent entlang der großen städtebaulichen Herausforderungen, die durch das rasche Anwachsen der Bevölkerung in Städten und angesichts des rasanten Klimawandels weltweit entstanden sind.

Zur Veranschaulichung: Brief zwei [OFFENE BRIEFE – Altstadt, A. d. Red.] ist übertitelt mit „Feinstaub und Verkehr. Garagen in der Altstadt?“ und kritisiert die damalige Idee, eine Tiefgarage unter dem Eisernen Tor einzurichten. „Die durch Innenstadtgaragen und den dadurch verursachten miV [motorisierter Individualverkehr, auch MIV, A. d. Red.] ausgelösten urbanen Probleme verstärken mit jeder zusätzlichen Fahrt in das Stadtzentrum die im Grazer Becken eminente Umweltbelastung. Speziell die Reduktion der hohen Feinstaubwerte kann nur durch eine Einschränkung des miV erreicht werden, denn auch der Elektroantrieb wird das Feinstaubproblem nicht lösen, weil die hohe Luftbelastung durch Abrieb bleibt.“ Daraus folgert Steinegger, dass nur eine weitgehende Reduktion des PKW-Verkehrs das Problem lösen könne. Hier setzt der Autor jedoch nicht allein bei Verboten und Erschwernissen an (etwa durch wegfallende Parkplätze in den Straßen der Innenstadt), sondern bei der Attraktivierung des öffentlichen Verkehrs aus Suburbia, den Außenbezirken, in die historisch gewachsene Kernstadt. Und der Autor geht in seinen Betrachtungen der Suburbia und den daraus abgeleiteten Schlüssen noch einen Schritt weiter: Er verknüpft jedes einzelne seiner Themen wie Bodenverbrauch, Soziale Segregation oder Entwicklungskonzepte mit der Suburbia, den Stadtrandgebieten als Verursacher von Fehlentwicklungen wie Flächenfraß, Verlust von öffentlichem Raum, Vereinsamung und monofunktionaler Straßenbereitstellung nur für Autos. Und er plädiert für die Aufwertung der Suburbs.

UPGRADE SUBURBIA wird als Lösungsvorschlag großgeschrieben. Der Autor, der glasklar sieht, dass die Landnahme sich nicht ins Unendliche ausdehnen kann (auch nicht im Umraum von Graz), ist überzeugt davon, dass eine umfassende integrative Betrachtung der Stadt und Stadtentwicklung hinsichtlich Mobilität und Gebäudeplanung zuerst in der Suburbia ansetzen muss. Wie? Nicht alles erschließt sich aus oberflächlicher Lektüre. Steinegger plädiert für sinnvolle Verdichtung der baulichen Strukturen in den Randbezirken, obwohl wir dort „die Nutzung der Straßenräume dem Automobilverkehr überlassen haben“. Genau: nicht obwohl, sondern weil … Durch Verdichtung, zum Beispiel in Form von straßenbegleitender kompakter Verbauung von Straßenzügen (wie in den Gründerzeitvierteln), kann ein urbanes Lebensgefühl entstehen, so, wie es in einem Teppich aus Einfamilienhäusern mit weitläufigem Grün innerhalb von Gartenzäunen nie entstehen wird. Dichter werdende Stadtrandbezirke dürften nicht reine Schlafbezirke bleiben, sondern müssten Ihren Bewohnern und Bewohnerinnen ein vielfältiges Angebot an Infrastruktur zur Verfügung stellen. Entstehen müsste ein Nutzungsmix aus Wohnen, Arbeiten und Freizeitaktivitäten. Fundamentale Lebensbedürfnisse – Erreichen des Arbeitsortes, Einkaufen, Arzt- und Schulbesuch - müssten mit gut ausgebauten öffentlichen Mobilitätsangeboten gewährleistet werden.

Guter Takt im öffentlichen Verkehr reduziert die Verwendung des Privatautos, das wiederum erhöht die Attraktivität von Straßen als fußläufige Bewegungs- und Begegnungsräume. Steinegger nimmt mehrfach Bezug auf Jan Gehl und dessen Entwürfe für „Städte für Menschen“, die heute Vorbild und Anleitung für viele Kommunen sind, denen die vielfältigen Probleme, die aus dem überbordendem miV-Verkehr der einst „autogerechten Stadt“ entstehen, über den Kopf wachsen, und die ohne eine grundlegende Änderung des Mobilitätsverhaltens nicht mehr bewältigbar sind.

Die Entwicklung der Kernstadt mit ihren Gründerzeitvierteln bis etwa 1900 sieht der Autor als abgeschlossen an, will man ihre urbanen Qualitäten – städtische Dichte mit Begegnungsraum und sozialer Diversität – erhalten. Diese Stadt ist mit ihren Straßen und Gassen jedoch nicht für den miV gemacht. Will man sie noch stärken, so müssten die Straßen für sanfte Mobilität wie Zufußgehen und Radfahren adaptiert und dadurch zu Begegnungsräumen aufgewertet werden.

Dem Buch II – sieben Briefe als Ausgangspunkt – stellt Wolfgang Steinegger die Theorie zum Upgrade der Suburbia als globalen Ansatz voran. Besonders spannend schien mir Kapitel 1, Das „Unbewusste“ der Stadt, in dem der Autor mit analytischem Blick aufzuzeigen versucht, warum wir uns als Gesellschaft mit dem Weitermachen wie bisher, als gäbe es noch keine Klimakatastrophen, „den Ast absägen“, auf dem wir hierorts noch bequem sitzen. Nie vor der Lektüre dieses Buches habe ich als Erklärung für unsere Verdrängung von Problemen in Zusammenhang mit dem Klimawandel den Begriff der „kognitiven Dissonanz“ aus der Psychologie erklärt bekommen. Veranschaulicht wird auch, wie es zur autogerechten Stadt des 20. Jahrhunderts kam, wie die „konsolidierte Stadt“ – die Stadt vor dem Automobil – entstand, warum Verkehrsvermeidung als Fortschritt gesehen werden muss und welche urbanen Ziele im Klimawandel formuliert werden und wurden (z. B. im „World Cities Report“ der UN) und noch umgesetzt werden müssen. Bei all diesen immensen Herausforderungen bewegen wir uns nicht im luftleeren Raum und könnten Anleihen nehmen bei Städten wie Kopenhagen, aber auch Paris oder Barcelona, deren Anstrengungen zur Bewältigung ihrer größten urbanen Probleme in diesem Buch kurz angerissen werden.

Das dritte Buch kehrt wieder zurück ins Vertraute, in die Region des Steirischen Zentralraums inklusive Graz, für den Steinegger regionale Ziele einer durch Klimawandel notwendigen Transformation entwirft. Für Graz heißen die als Logo vereinfacht: GRAZ50_2050. Der motorisierte Verkehr soll um 50% reduziert werden, ein erstrebtes Ende der fossilen Antriebe 2050 erreicht sein. Buch III enthält Kapitel zu den Voraussetzungen von positiver Veränderung. Schlagwörter wie eine moderierte Stadtpolitik (meint er moderierte Stadtentwicklung?) verlangen die Einbindung der Öffentlichkeit in die städtische Entwicklung, die Beendigung von Intransparenz und höchster Vertraulichkeit in der Hoheitsverwaltung und die Teilnahme der Bürger und Bürgerinnen. Teilhabe könnte man noch hinzufügen. Teilnahme ist der Teilhabe vorgelagert und passt zum Slogan „We want our street back“ (lesen Sie selbst).

___

Softcover,
Format: 205x225
Seitenzahl: 166
Erscheinungsdatum: 10.07.2023
Sprache: Deutsch
Verlag: Buchschmiede
ISBN: 978-3-99152-359-8
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+