10/10/2023

Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT. 

10/10/2023
©: Zita Oberwalder

Ins öffentliche Bewusstsein Europas – erzählt der in Wien tätige Kultur- und Sozialanthropologe Igor Eberhard (https://www.suedwind-magazin.at/die-tiefen-wurzeln-der-tattoos) – drangen Tätowierungen erst wieder (!) durch die Entdeckungsfahrten vor allem James Cooks. Nach Eberhard waren es zunächst gestrandete Matrosen, entflohene Sträflinge und Deserteure, die sich in Europa tätowieren ließen und vorgaben, sie seien unter Zwang von Eingeborenen tätowiert worden, um mit solchen Bildgeschichten als Schausteller aufzutreten. Wahrscheinlich stammt der Begriff „tatau“ aus Polynesien und er bedeutet „Wunden schlagen“. Vielleicht ist tatau auch lautmalend, nach dem Klopfen eines Hammers auf die Nadel. Mumienfunde und Felsmalereien, auf denen Abbildungen von Tätowierungen vermutet werden, zeugen jedenfalls davon, dass in so gut wie allen bekannten Kulturen Ornamente, Bilder, wenn nicht Zauber in die Haut gestochen wurden. Die mehr als fünftausend Jahre alte Tiroler Gletschermumie war vermutlich zu Heilzwecken tätowiert.
Zu Ende des 19. Jahrhunderts wurde dann in den USA eine erste elektrische Tätowiermaschine patentiert. Auch wenn sich neben besagten Seeleuten und den Zwielichtigen bald auch Adelige tätowieren ließen (Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn), blieben die permanenten Körperbemalungen noch für lange Zeit verpönt. Adolf Loos nannte in seinem Aufsatz „Ornament und Verbrechen“ (1908 zum internationalen Kongress für neues Bauen) Tätowierte, die nicht inhaftiert seien, „latente Verbrecher“ – ungeachtet seiner eigenen inkriminierten Obsessionen. Ornamentieren schlechthin und gar den eigenen Körper, wollte Loos apodiktisch vermitteln, sei „beim modernen Menschen eine Degenerationserscheinung“. Wobei der „Drang […] zu ornamentieren“ zwar an die „Uranfänge der bildenden Kunst“ reichte, aber das sei nur das „Lallen der Malerei“.

Dem Ruch des „Häfenpeckerls“ sind Tattoos nun längst entwachsen. Mehr noch sind Tätowierungen heute gemeinhin eine Form der Körperkunst, assoziiert mit Selbstbestimmung und eben Selbst-Verantwortung im Umgang mit dem eigenen Körper. Als Igor Eberhard 2017 seinen Artikel über die „lange Geschichte“ der Tätowierungen veröffentlichte, schätzte er, dass inzwischen ein Fünftel der Menschen in Europa tätowiert ist, Frauen und Männer beinahe zu gleichen Teilen. Wenn noch im Vorjahr die Verfügbarkeit von ungiftigen Tätowierfarben ein weithin wahrgenommenes Thema war, müsste man steigende Tendenz vermuten.

Im engeren Sinn sind und waren Tätowierungen ja auch verbunden mit Aktionismus respektive etwa bei Valie Export (auf den Oberschenkel gestochenes Bild eines Strumpfhalters) stand auch die Aktion, sich ein bestimmtes Motiv stechen zu lassen für „Kunst als Medium des Feminismus“. Dass Tattoos im Kunstkontext aber auch mit Zwang und Demütigung einhergehen und das „Wunden-Schlagen“ hier nicht am eigenen Körper vorgenommen wird, zeigen zwei Beispiele, bei denen es einem übel werden kann, könnte oder sollte: Der belgische Konzeptualist Wim Delvoye fand weithin Beachtung mit seiner ab 2000 präsentierten Cloaca, einer Maschine, die den biologischen Verdauungsvorgang simuliert. Die Kunst riecht zwar einigermaßen ungut, aber, salopp gesagt, handelt es sich fraglos um ein schlaues Konzept. Was an den Plot einer Komödie mit Jean Gabin und Louis de Funés erinnert (Le Tatoué, dt. Balduin, das Nachtgespenst, 1968), heißt bei Delvoye TIM. Dem Schweizer Kunstliebhaber Tim Steiner ließ Delvoye ein rückendeckendes Tattoo mit Totenschädel und Madonna applizieren. Das Werk wurde 2008 an einen deutschen Sammler um 150.000 Euro [A. d.R.: Preisangaben im Internet reichen von 150.000 € bis 240.000 Franken] verkauft, und zwar in der Form, dass Steiner sich verpflichtete, seinen Rücken jährlich für drei bis vier Wochen zu präsentieren. Nach dessen Tod wird Steiners Haut an den Käufer oder dessen Erben übergeben.
Seit 2004 betreibt Delvoye aber auch eine Schweine-„Art Farm“ in der Nähe von Peking. Schweine werden dort mit verschiedenen Motiven tätowiert und weltweit via Fotografien beziehungsweise dead or alive präsentiert. Delvoye wird mein Freund nicht mehr werden!

Der andere ist der spanische Konzeptualist Santiago Sierra. Auf der Sammlungs-Website des Staedelmuseums ist seine Arbeit 250 cm Line Tattooed on 6 Paid People aufzurufen, ausführlich dokumentiert und, auch die ethischen Umstände betreffend, kommentiert. Um Probleme menschlicher Ausbeutung zu thematisieren, argumentierte Sierra, wurden 1999 in Havanna sechs junge, arbeitslose Männer mit einer von Rücken zu Rücken verlaufenden 250 Zentimeter langen Linie tätowiert. Die Männer wurden aus einer Menge von Bewerbern ausgewählt und erhielten jeweils 30 Dollar. Sierra wird mein Freund nicht mehr werden!

Man muss sich solcher Dinge ja nicht bewusst sein. Die landläufige Form von Kants Kategorischem Imperativ hätte doch auch genügt: was du nicht willst, das(s) man dir tu‘, undsoweiter. In Kants zweiter Formulierung lautet das dann so: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“

Um endlich zum Anlass dieser Schrift zu gelangen: Was geht so im Kopf der Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie Leonore Gewessler vor? Beim Frequency Festival in St. Pölten motivierte sie junge Menschen, sich ein Tattoo zum Klimaticket stechen zu lassen. Drei Aspirant:innen bekamen dafür ein Jahresticket im Wert von 1.095 Euro gratis, etliche andere, die sich nach dieser freilich zur freien Entscheidung gestellten Aktion ebenfalls pecken ließen, nicht. Alle tragen nun den wahrscheinlich permanenten (man könnte per Laser wieder entfernen lassen beziehungsweise gibt es ja auch mit der Zeit verblassende Farben) Schriftzug sichtbar unter der Haut. Verschieden Motive um Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein (Bewusstsein!) standen zur Wahl, das eingängigste ist wohl der schlichte Schriftzug KlimaTicket. Die Ministerin selbst zeigt in einem Video ein von der Thematik handelndes Klebe-Pseudo-Tatoo auf ihrem Oberarm. Die Aktion, die so auch schon zuvor beim Electric-Love-Festival in Salzburg stattgefunden hatte, entstammt der Idee – auch das ist ein Konzept, wenn auch ohne künstlerischen Anspruch – einer Werbeagentur, die mit der Anpreisung des K-Tickets vom Bundesministerium betraut ist. Tatau heißt Wunden schlagen.
 

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