31/03/2021

Die Stadt:
ein Verteilungsereignis
Teil 3 von 3

Verhalten als Verteilungsereignis im Siedlungsraum

Essay von Bernhard Hafner

in der GAT-Reihe sonnTAG

,

31/03/2021

Abb. 1: Interaktionen von Quellen mit Wohnbevölkerung und Zielen von kommerzieellen oder industrieellen Arbeitsplätzen. Aus Comparative Simulation of Alternative Urban Prototypes, 1967-70 und 2007-15, Bernhard Hafner.
1 a: Alle Interaktionen, Ebenen 1-5

©: Bernhard Hafner

1 b: w.o. Interaktionen auf Ebenen 1-2

©: Bernhard Hafner

Abb. 2: Internationaler städtebaulicher Ideen Wettbewerb Wien-Süd auf einem IBM System/360 Computer, Simulationsprojekt mit Papierausgabe. Vorentwurf der Ausgabe eines Fortran-Programmes auf einer CRT. Bildschirmfoto der Verteilung von Einrichtungen von 5 Sektoren mit Fahrtenverteilung auf Verbindungswegen 1969. Außen Programmvorgaben mit Autobahn, mittig die U-Bahn in N-S und Perfekta-Straße in W-O Richtung.

©: Bernhard Hafner

Abb. 3: w.o. Verteilung der Patronatsbevölkerung in Zielen und Fahrtenverteilung für 2 Dichten.

©: Bernhard Hafner

Abb. 4: w.o. Regionale und örtliche Straßen, Zellen und Zellenverbindungen mit Fahrtenverteilung für 2 Dichten.

©: Bernhard Hafner

Abb. 5: Internationaler städtebaulicher Ideen Wettbewerb Wien-Süd, Simulation auf dem IBM System/360 Computer, Abgabe 1971. Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen der Verteilung von Einrichtungen im Wettbewerbsgebiet überlagert mit Vorgaben des angrenzenden Verkehrsnetzes, der U-Bahn und von Grünflächen.

©: Bernhard Hafner

Verhalten als Verteilungsereignis im Siedlungsraum

In Teil 1 sprach ich von der Stadt als Ereignis der Verteilung von Baumasse. In Teil 2 von großen, ordnenden Interventionen als Verteilungsereignisse von Baumasse in besonderen Städten. Teil 3 handelt von der Verteilung der Masse von Zuständen und sozialen Verhaltens in besiedeltem Raum als Verteilungsereignis. Es geht nicht mehr um die Stadt, wie groß und dicht bevölkert ihr Gemeindegebiet auch sein mag, sondern um (teilweise städtisch) besiedelten Raum, in dem sozio-ökonomisches Verhalten maßgeblich stattfindet. Um eine Stadt als Teil einer Region, als ein Feld von Aktivitäten, in dem Interaktionen über Gemeindegrenzen hinweg stattfinden. Solcher Raum ist etwa in der Konzeptstudie des Los Angeles Planning Department nicht das Gemeindegebiet der Stadt Los Angeles, nicht das County dieses Namens, nicht die Standard Metropolitan Statistical Area (SMSA) Los Angeles mit über 100 Gemeinden, sondern der Siedlungsraum, den die Stadt Los Angeles zum Gegenstand ihrer Überlegungen alternativer Stadtentwicklungskonzepte machte (1). Einwohner nennen ihn LA und jeder meint etwas Eigenes. Wenn Graz so dächte, machte es den Raum des Bezirks Graz-Umgebung oder den Raum von Graz bis Kalsdorf zum Planungsgebiet. Denn es wüsste, auch Kalsdorf sei ‚Graz‘. Graz tut das nicht, gibt es doch ein Referat der Landesplanung, das dafür zuständig sei.
    In Frage ist eine der Verteilung von Nutzungen, nicht der Baumasse. Aber nicht Nutzungen, wie sie Gegenstand von Widmungsplänen sind. Diese sind archaische Konzepte. Es geht um ein Muster mit Standorten von Einrichtungen, um mit ihnen assoziierte Zustandsgrößen und um ein Transportnetz, das die Zugänglichkeit aller Standorte herstellt. Es geht um Wissenschaft, nicht um Grafik, um Digitalisierung, nicht Analogisierung, um Voraussetzung und Begründung für Planung, nicht um Planung selbst. Es geht um Fakten, quantitative Daten und Überprüfbarkeit, nicht um Postulate, Dafürhalten und Bekenntnisse säkularen Glaubens.
    Nutzungen, wie sie in Flächennutzungs- oder Widmungsplänen ausgewiesen sind, etwa reine Wohngebiete, allgemeine Wohngebiete oder Kerngebiet samt zulässigen Bebauungsdichten sind dafür untauglich. Sie dienen der groben Orientierung und Hilfestellung bei der Suche nach niedrigem oder größerem Angebot. Sie können auch nicht mehr leisten, genügen sie doch säuberlich so eingeteilt wie die ehemalige und als solche immer noch gültige Farbenlehre der Städteplanung es fordert. Sie ist einfachen Denkens und von Hand leicht zu zeichnen. Als Einwohner bist du das, was der Flächenwidmungsplan aus dir macht: Wenn du in einem reinen Wohngebiet wohnst, ist es deine Wahl, dass es dort keine Geschäfte gibt: Ein Auto hast du ja. Geschäftlich brauchbaren Nutzen hat davon nur der Immobiliensektor. Ihm genügen diese Angaben, um zu wissen, wie wo zu investieren ist, um Geld zu machen.
    Nutzung bedarf Nutzungskategorien und diese bedürfen quantitativer Zustandsgrößen, die sie kennzeichnen und in Algorithmen als bekannte Größen eingehen und wissenschaftlich an- und ausgewertet werden können. Also nicht groß oder klein, sondern 50,45 oder 12,15 als beliebig gewähltes Beispiel. Zur Auswertung dienen mathematische Analysemodelle oder Simulationsmodelle hypothetischen Verhaltens von Stadtbewohnern.
    Lassen wir uns auf ein auf Gelegenheit basierendes Simulationsmodell ein (Opportunity Model), das Gravitationsmodell. Das Modell misst Attraktionen und gewichtet sie durch zeitliche Entfernungen. Je größer die Anziehungskraft eines Standortes ist, desto eher wird er im Verhalten eines Einwohners als Ziel berücksichtigt, je weiter entfernt er ist, desto weniger. Sind beide dieser Größen gleich wichtig? Der Vergleich von Simulation und Bestandsaufnahme zeigte, dass die Entfernung entscheidender ist und etwa mit ihrem Quadrat in solchen Modellen zu berücksichtigen wird (2).
    Als Verteilungsereignis ist Nutzung hier das Standortmuster von Einrichtungen und Verteilungen der mit ihnen in einer Stadtzelle assoziierten Quantitäten. Die Einrichtungen sind solche des Einzel- oder Großhandels, professioneller oder privater Dienstleistungen, von Industrien, Einrichtungen des Bildungs-, Kultur- und Gesundheitswesens, von Sport und Erholung und der Verwaltung. Die damit assoziierten Größen meiner Modelle sind auf der Basis des US Census Arbeitsplätze, die Patronatsbevölkerung, Umsatz und Fläche für insgesamt 68 Einrichtungen. Für alle dieser Größen können aggregierte Verteilungsmuster unterschiedlichster Kombinationen in Listen und Karten ausgegeben werden. Dazu Interaktionsmuster und Fahrtenverteilungen. In der Ausstellung Graz Architektur wurden im Winter 2017/18 135 solcher Karten gezeigt.
    Worum geht es dabei? Es geht um eine möglichst umfassende empirisch überprüfbare Darstellung sozialen und wirtschaftlichen Verhaltens von Menschen im Raum, vor allem in urbanisiertem Raum. Aber unterliegen nicht auch Randgebiete der Anziehungskraft viel größerer wirtschaftlicher Angebote von Städten? Das tun sie und das trägt zur Abwanderung von Menschen aus wirtschaftlich schwächeren Gebieten zu stärkeren bei und erklärt sie. Die Studie der Kleinregion (KR) Voitsberg in der Weststeiermark zeigte, dass 1981 die Wanderung nach dem Erreichbarkeitsmodell prozentuell nicht zu den regionalen Zentren Köflach und Voitsberg erfolgte, sondern zu der Graz nächstgelegenen Gemeinde der Kleinregion. Ich vermute, dass dies wahrscheinlich eine noch näher an Graz gelegene Gemeinde gewesen wäre, wäre diese Gemeinde Teil der vom Land vorgegeben Region gewesen: Der Sog der näheren Umgebung der Landeshauptstadt ist wegen ihrer wesentlich größeren Angebote unvergleichlich größer. Dies gilt besonders für Standorte in großer zumutbarer Entfernung. Ähnlich mag dies für Leoben, sein Einzugsgebiet und etwa das Problem der Abwanderung aus Eisenerz oder Trofaiach gelten. Im Fall der KR Voitsberg zeigt das Modell der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen das sozio-ökonomische Kräftefeld deutlich auf. Interaktionen zwischen Quellen und Zielen aus einer anderen Studie zeigen das. (Abb. 1a, b)
Digitale Simulation mit dem Computer
Für eine Studie wie die der KR Voitsberg braucht man sozio-ökonomische Daten über Bevölkerung und Arbeitsplätze, eventuell Umsätze als Attraktionswerte sowie Reisezeiten auf dem Verkehrsnetz. Solche Daten sind in Datensammlungen einer übergeordneten Verwaltung verfügbar, Reisezeiten müssen empirisch ermittelt werden, wenn sie nicht in Verkehrsstudien enthalten sind. Kürzeste Wege können dann algorithmisch berechnet werden. Mit diesen Quellen können Transaktionen des Quell-Zielverhaltens, Erreichbarkeiten von Arbeitsplätzen und Geschäften und, mittelbar, Wanderungen (Pendlerflüsse) wie gezeigt berechnet werden. Im Internationalen städtebaulichen Wettbewerb Wien-Süd habe ich 1970/71 ein Konvolut solcher Modelle zur Grundlage des Wettbewerbsentwurfes gemacht. Daniel Gethmann berichtete darüber (3). Erfolg war nicht beschieden.
    Für die Regionalplanung ist die Anwendung solcher Algorithmen-basierender Modelle Aufgabe der Landesplanung oder einer über Gemeindegrenzen hinausgehenden Städteplanung. Ohne sie sind sie Verwaltungsakte ohne wissenschaftliche Grundlage.
    Wie also planen? Auf welcher Basis sollen Planungsentscheidungen getroffen werden? Nach Bedarf? Wie wird die Wahl von Standorten auf das räumliche Verhalten von Menschen bedacht? Planung als Bedarfsbefriedigung wird von der Verwaltung wahrgenommen, Planung auf der Basis von sozio-ökonomischem Verhalten von Einwohnern involviert die Wissenschaft im Allgemeinen und die raumbezogene Verhaltenswissenschaft im Besonderen, wie ich es im Internationalen städtebaulichen Ideenwettbewerb Wien-Süd 1970/71 gezeigt habe (Abb. 1-5).
    Planung ist Teil der digitalen Welt. Die Welt des Lineals, Dreiecks und Ausfüllens von Formularen fristet ein Dasein ohne die Herausforderung, die die Welt heute stellt. Das räumliche Gebilde ‚Stadt‘ nährt sich nicht von Strichen und gefüllten Flächen auf der Oberfläche, wie uns Stadtplanungsämter glauben machen wollen. Ihr Leben zeigt sich in Mustern, Agglomerationen, Inter- und Transaktionen sozialer Tätigkeit. Diese ergeben sich aus dem, was Menschen tun, wie sie ihr Leben führen, wem sie beruflich nachgehen. So komplex das ist, so einfach ist es, das verstehen zu wollen. Schwierig ist es für Städte- und Landesplaner, die nicht wahrhaben wollen, wie es ist. Leute, Ämter erwachet!
    Es zeigt sich
: Das Verhalten von Menschen beschränkt sich nicht auf Angebote in der Wohngemeinde, auch nicht in einer Gemeinde wie Graz. Wenn das die Stadtplanung nicht berücksichtigt, muss es die Landesplanung tun. Wenn diese es auch nicht tut, tut es der Markt. Er findet immer einen Weg, der für seine Teilnehmer profitabel ist. Ist es das auch für die Gesellschaft und kann man auch mit dem Markt planen? Ja, das kann man und das wollte ich zeigen.

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(1) Siehe dazu GAT, SonnTAG, 28.2.2021, Die große und die flächengroße Stadt, Essay von Bernhard Hafner in der Reihe sonnTAG. http://www.gat.st/news/die-grosse-und-die-flachengrosse-stadt

(2) Bernhard Hafner, Erreichbarkeit und Wanderung 1981, eine Analyse der Standortgunst in der Kleinregion Voitsberg mit Einfluss von Graz. Eine Studie der Beziehung zwischen der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen in der Region unter Einbeziehung von Graz als Ziel und der Abwanderung in der Koralpenregion, Forschungsauftrag des Landes Steiermark. Es ergab sich eine sehr hohe Übereinstimmung in der Regressionsanalyse zwischen Rechen- und tatsächlichen Werten bei einem Exponenten der Zeitdistanzen von 2,09.
Das Besondere zu diesem Zeitpunkt war, dass keine PCs mit geeigneter Rechenleistung zur Verfügung standen. Eine solche Anlage mit einem PS2 486-Rechner von IBM mit durch Fortran-programmierbarer Grafikkarte konnte ich erst 12 Jahre später sehr teuer kaufen. Auf ihm liefen, solange er funktionierte, Fortran Programme in Realtime am Bildschirm und AutoCAD.
Die Studie der KR Region wurde auf einem TI 959 Taschenrechner mit eingebauter Regressionsanalyse und Programmierung mit max. 999 Befehlseingaben gemacht, die Papierausgabe erfolgte auf einem kleinen Thermodrucker.

(3) Daniel Gethmann, arq architectural research quarterly, Cambridge University Press, Integrated planning and the design of urban agglomeration: Bernhard Hafner’s Comparative Simulation of Alternative Urban Prototypes.

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