30/03/2021

U-Bahn-Diskussion auf der falschen Ebene

Warum das Grazer Verkehrsproblem nur an der Oberfläche gelöst werden kann.

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30/03/2021

So könnten die Straßen in Zukunft aussehen.

©: Daniela Mrazek

Veränderung der ökologischen und sozialen Auswirkungen beim Umstieg auf andere Verkehrsmittel.

©: Kozina / MoVe iT

Modal Split für Graz im Vergleich.

©: Kozina / MoVe iT

Veränderung des Platzbedarfs bei Reduktion des Autoverkehrs.

©: Kozina / MoVe iT

Mögliches ÖV-Netz in Graz 2030.

©: Kozina / MoVe iT

Mögliches ÖV-Netz im Großraum Graz 2030.

©: Kozina / MoVe iT

Das Problem in Graz ist nicht, dass zu wenige Menschen den öffentlichen Verkehr (kurz: ÖV) nutzen. Das Problem ist, dass zu viel Auto gefahren wird: Insgesamt werden innerstädtisch 42% der Wege mit dem Pkw zurückgelegt, stadtgrenzüberschreitend sind es sogar 85%. Das führt zu Luftverschmutzung durch Feinstaub und Stickoxide, zu Treibhausgas-Emissionen, zu einer hohen Lärmbelastung, zu einer hohen Unfallgefahr und zu einem sehr hohen Platzbedarf. Autos beanspruchen heute 97% der verfügbaren Verkehrsflächen in Graz.

Viele dieser Probleme lassen sich durch alternative Antriebe nicht lösen: Feinstaub kommt von Reifenabrieb und Aufwirbelung, Treibhausgase entstehen auch im Lebenszyklus von Wasserstoff- und Elektro-Autos, Lärm und Unfallgefahr sind bei höheren Geschwindigkeiten gleich und auch am Platzbedarf ändert sich nichts im Vergleich zu normalen Pkws. Eine zukunftsorientierte Verkehrspolitik muss also weiter gehen – und Wege suchen, wie man den Verkehr auf andere, nachhaltigere Verkehrsmittel verlagert.

Ganz vorne stehen dabei der Fuß- und Radverkehr: Emissionen und Lärm gibt es nicht, die Gefahr schwerer Unfälle ist sehr gering, und auch der Platzbedarf ist um mindestens 90% geringer als bei einem Pkw. Ähnliches gilt für den öffentlichen Verkehr, wobei hier – im Gegensatz zum Fuß- und Radverkehr – auch Emissionen, Lärm und Unfallgefahren entstehen. Rechnet man aber pro Kopf, sieht man, dass die negativen Auswirkungen im Vergleich zum Autoverkehr sehr gering sind. Beim Fuß- und Radverkehr kommen jedoch positive Gesundheitswirkungen hinzu, sodass unterm Strich die Maxime gelten muss, möglichst viel Verkehr auf Gehen und Radfahren zu verlagern.

Eine derartige Verlagerung ist eng mit der Länge der Wege verknüpft: So ist vor allem der Fußverkehr nur für kurze Wege attraktiv. Deshalb ist die Verlagerung des Verkehrs eine Frage der Raumordnung: Nur mit einer hohen Durchmischung von Wohnungen, Arbeitsplätzen, Einkaufsmöglichkeiten, Bildungsstätten und Freizeiteinrichtungen kann es gelingen, die Wege kurz zu halten und dadurch das Gehen attraktiv zu machen. Insbesondere sollte es möglich sein, die Alltagswege (Arbeitsplatz, Schule, Supermarkt) zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen. Paris nennt dieses Konzept die „15-Minuten-Stadt“: Alle täglichen Bedürfnisse sollen mit einem Fußweg von 15 Minuten befriedigt werden können.

Dennoch können nicht alle Wege zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt werden. Dazu gehören der Pendelverkehr, aber auch Teile des Einkaufs- und Freizeitverkehrs. An dieser Stelle kommt nun der öffentliche Verkehr ins Spiel: Es sollte vorrangig für Strecken genutzt werden, die zu lange sind, um sie zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen. An den ÖV anzubinden sind somit insbesondere Großbetriebe und Örtlichkeiten, deren Angebot über die Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse hinausgeht (z.B. öffentliche Einrichtungen, Einkaufszentren, Freizeitregionen).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der öffentliche Verkehr – ebenso wie der Fuß- und Radverkehr – immer in Konkurrenz zum motorisierten Individualverkehr (kurz: MIV) steht. Menschen steigen nur dann um, wenn die Alternative insgesamt mindestens genauso schnell, komfortabel und flexibel erscheint wie das Auto. Dabei geht es um Fragen wie: Wie lange brauche ich mit den verschiedenen Verkehrsmitteln von Tür zu Tür? Wie bequem und sicher fühle ich mich in welchem Verkehrsmittel? Und bin ich zeitlich und räumlich so flexibel, dass ich alle meine Wege in einer angemessenen Zeit erledigen kann?

Entscheidend für all diese Fragen ist die Infrastruktur: Wenn beispielsweise der öffentliche Verkehr – so wie in Graz – häufig im Stau steht, sinkt dessen Attraktivität. Ähnliches gilt bei langen Rotphasen für FußgängerInnen und RadfahrerInnen oder bei Gefahrensituationen, die man z.B. an Engstellen bei der Benutzung dieser Verkehrsmittel erlebt. Die Straßen und Plätze müssten so gestaltet sein, dass Fuß-, Rad- und ÖV schnell und sicher vorankommen. Autos hingegen dürfen auch etwas länger brauchen und ein paar Mal im Kreis fahren, um ihr Ziel zu erreichen.

Der Grundgedanke dabei ist: Jede Verkehrsinfrastruktur sendet Signale an die VerkehrsteilnehmerInnen und zeigt ihnen, welches Verhalten wo erwünscht ist. Viel Platz für den Autoverkehr, optimierte Grünphasen und Nachrang für andere Verkehrsmittel werden interpretiert als: „AutofahrerInnen herzlich willkommen!“ Wenig Platz für Autos, wenige Parkplätze, lange Rotphasen und viel anderer Verkehr signalisieren hingegen: „AutofahrerInnen nicht erwünscht!“

Auch deshalb ist es unerlässlich, die Oberfläche anders zu gestalten. Die Grundregel lautet: Wenn der Platz für den Autoverkehr nicht reduziert wird, werden auch nicht weniger Menschen mit dem Auto fahren. Besonders interessant dabei ist, was jede eingesparte Autofahrt bewirkt: So liegt der Platzbedarf eines fahrenden Autos bei 140 m², eines stehenden bei 20 m². Fahrräder und öffentliche Verkehrsmittel benötigen fahrend 5-10 m², Fahrräder stehend 2 m² – d.h. ein Zehntel. Das bedeutet: Wenn Menschen vom Auto auf Rad oder ÖV umsteigen, reduziert sich deren Platzbedarf um 90%! Das bedeutet aber auch: Wenn es gelingt, die aufgrund der vielen ökologischen und sozialen Probleme notwendige Verlagerung durchzuführen, ist auf der Oberfläche mehr als genug Platz vorhanden, um breite Fußgängerzonen, Radwege und eigene ÖV-Trassen, aber auch mehr Grünflächen, Spielplätze, Gastgärten etc. zu errichten. Selbst bei einer moderaten Veränderung des Autoverkehrs-Anteils von 42 auf 37% innerstädtisch und von 85 auf 80% stadtgrenzüberschreitend würde der Platzbedarf trotz steigender Bevölkerungszahlen um 15-20% sinken; wenn parallel dazu auch noch Rad und ÖV beschleunigt und der Autoverkehr gebremst wird, wären es sogar über 30%.

Tatsächlich sollte sich Graz bis 2030 aber ambitioniertere Ziele setzen: 30% Fuß- und 35% Radverkehr erscheinen in jeder Hinsicht wünschenswert und sind mit entsprechenden Umgestaltungen der Infrastruktur erreichbar. Vergleichbare Städte wie Freiburg haben bereits jetzt solche Werte. Von den verbleibenden 35% wären 25% ÖV und 10% MIV erstrebenswert. Stadtgrenzüberschreitend wären 10% Rad, 40% ÖV und 50% ein angemessenes Ziel. In diesem Szenario würden dann der Platzbedarf des Personenverkehrs um mehr als 60% und dessen Emissionen um rund 50% sinken.

Für den ÖV bedeutet das: Ein Ausbau ist vor allem stadtgrenzüberschreitend notwendig. Die S-Bahn ist auf den bestehenden Ästen zweigleisig auszubauen. Dort, wo die S-Bahn nicht hinfährt, ist ein S-Bus-Netz zu errichten. S-Bahn und -Bus sollten in Stadtnähe alle 15 Minuten fahren und auch innerstädtisch als Verkehrsmittel zur Verfügung stehen. PendlerInnen sollten von ihrem Wohnort zur nächstgelegenen Station fahren und dort bequem in S-Bahn oder -Bus umsteigen.

Die innerstädtische Verteilung können dann Straßenbahnen und Stadtbusse übernehmen. Dafür müsste jedoch vor allem die Straßenbahn-Linien nach Südwesten, Nordwesten und über die Universität ausgebaut werden. Auch im Südosten gibt es großes Verbesserungspotenzial. Parallel dazu ist der ÖV konsequent zu beschleunigen – durch eigene Spuren und Vorrang an Kreuzungen. Wo keine eigenen Spuren möglich sind, können Busse und Straßenbahnen als „Pulkführer“ eingesetzt werden – die Autos müssen dem ÖV hinterher fahren, während sich davor der Stau auflöst.

Autofahren sollte in der Stadt nur mehr die Ausnahme sein. Flächendeckende TIM-Stationen könnten dafür sorgen, dass man ein Auto zur Verfügung hat, wenn man es unbedingt benötigt. Privat besitzen muss es aber niemand mehr.

Eine U-Bahn ist in diesem Szenario einfach nicht nötig. Angesichts von Klimawandel, Luftverschmutzung, Lärm, Unfallgefahr und Platzverschwendung muss Graz so oder so sein Verkehrsproblem an der Oberfläche lösen. Und wenn es das tut, dann braucht man auch keine U-Bahn mehr – sondern einfach nur ein Wohnumfeld, das es den Menschen ermöglicht, ihre alltäglichen Wege möglichst kurz zu halten. Der Platz dafür ist vorhanden.

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MoVe iT und der Mobilitätsplan Graz 2030
MoVe iT ist ein Zusammenschluss der Grazer Verkehrsinitiativen (Radlobby ARGUS Steiermark, ProBim, System Change not Climate Change u.a.), der zwölf Forderungen für nachhaltige Mobilität entwickelt hat. Diese wurden von mehr als 12.000 GrazerInnen unterschrieben und Anfang 2020 an die Grazer Stadtpolitik übergeben. Auf dieser Basis wurden ein Mobilitätsplan und jüngst auch ein Konzept für Das schnelle ÖV-Netz 2030 entwickelt.
(siehe Link > move-it-graz.at und Download)

Mag. Dr. Christian Kozina
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am RCE Graz-Styria – Zentrum für nachhaltige Gesellschaftstransformation an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er engagiert sich für Klimaschutz, nachhaltiges Wirtschaften, aktive Demokratie und zukunftsfähige Mobilität und ist Initiator der Plattform MoVe iT – Mobilität und Verkehr in Transformation, die zahlreiche Mobilitätsinitiativen im Raum Graz vereint. (Kontakt: christian.kozina@uni-graz.at)

Tschavgova

Danke für diesen großartigen - gleichermaßen informativen und lösungsorientierten - Beitrag zur Zukunft des Verkehrs in Graz. Sachlich und fern jeglicher parteipolitischer Motive für Agitation, so stellen sich Grazer und Grazerinnen, denen die lebenswerte Zukunft der Stadt ein echtes Anliegen ist, den Diskurs und die darauffolgenden Entscheidungen für ein Verkehrskonzept vor. Nicht so, wie es derzeit auf den Bildschirmen in den Grazer "Öffis" suggeriert wird, wo die Pläne für die U-Bahn so präsentiert werden, als wäre sie schon beschlossene Sache und ihre Realisierung demnächst in Angriff genommen. Immerhin wurde der "Werbespot" schon reduziert in seiner Länge, die "Holding" vermutlich von übergeordneter Stelle schon gebremst in ihrem Überschwang. Hierorts läuft vieles falsch im Ablauf, verkehrt herum: zuerst werden mit großem Trara und erheblichen Kosten parteipolitisch gefärbte Feuerwerke gezündet, danach erst entsteht Diskurs um die Sache selbst und oft müssen dann Konzepte nicht ausgegoren präsentiert wurden - einseitig, nicht vergleichend, nicht zukunftstauglich, zu wenig nachhaltig, nicht finanzierbar, nicht mehrheitsfähig - wieder in die Schubladen versenkt werden. Glaubwürdigkeit und Wählbarkeit von Bürgermeister und Stadtregierung erschüttert solches Handeln erstaunlicherweise nicht - bis jetzt zumindest.

Di. 30/03/2021 8:56 Permalink
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