02/04/2021

Palermo, Wuppertal

Zur Open-Air-Ausstellung Almost. Wiener Weltreisen, 1873/2020, bis 23. Mai 2021 am Karlsplatz 8, 1040 Wien

Dass wir gehen, scheint uns so selbstverständlich und dass wir reisen, mittlerweile auch. Dass dem nicht immer so war, muss mitunter erinnert werden, und dass sich beides auch anders denken lässt, ebenso. In Almost nimmt Wolfgang Czaja die BesucherInnen mit auf eine imaginäre Welt- und Zeitreise, und teilt seine während unzähliger Stadterkundungen gemachten Entdeckungen mit einer neugierigen Öffentlichkeit. Die Open-Air-Ausstellung, bei der ein Bauzaun als Display dient, lässt sich als Entwurf für alternative Präsentations-formate festmachen, erweitert den Begriff der „Reiselektüre“ und den Horizont.

Rezension von Bettina Landl

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02/04/2021

Ausstellungsansicht – "Almost. Wiener Weltreisen, 1873 / 2020". Eine Open-Air-Welt- & Zeitreise entlang des Bauzauns des Wien Museums am Karlsplatz vor dem Hintergrund des Wien-Museum-Umbaus von Certov, Winkler + Ruck Architekten (s. Artikel unten)

©: Klaus Pichler

Wojciech Czaja, "Almost Dresden" (2., Nordbahnstraße)

©: Wojciech Czaja

"Almost, Wiener Weltreisen 1873/2020", Ausstellungsansicht

©: Klaus Pichler

Triumphbogen der Wienerberger Ziegelfabrik und Baugesellschaft, Oscar Kramer/Wiener Photographen Association

©: Wien Museum Karlsplatz

"Almost, Wiener Weltreisen 1873/2020", Ausstellungsansicht

©: Klaus Pichler

Nordamerikanischer Wigwam, Foto: Josef Löwy/Wiener Photographen Association

©: Wien Museum Karlsplatz

Publikation: Wojciech Czaja, "Almost. 100 Städte in Wien", 2020

©: Wojciech Czaja

„Könnte es nicht sein, dass nicht die Reisenden sich bewegen, sondern dass vielmehr die Welt unter ihren Füßen Fahrt aufnimmt, und sie sich gleich bleiben?“ heißt es bei Roger Willemsen in Die Enden der Welt (2010) und „An manchen Orten ist es sehr anstrengend, nicht das zu sehen, was man immer schon gesehen hat“ bei Wojciech Czaja. Dieser bespielt die während des Umbaus des Wien Museums am Karslplatz eingerichtete Open Air „Galerie“ mit einer von Peter Stuiber (Leiter der Abteilung Publikationen und Digitales Museum im Wien Museum) kuratierten Ausstellung. Almost. Wiener Weltreisen 1873/2020 ist Modell für eine gelingende Zwischennutzung, die zum einen gegen das Vergessen und zum anderen für ein „fremdes“ Schauen eintritt. Gezeigt werden zwei Serien, die sich dem imaginären Reisen widmen. Den Anstoß dazu gab Architekturjournalist und Publizist Czaja, indem er im Frühjahr 2020 Schnappschüsse aus Wien, die (ihn) an „fremde Orte und ferne Metropolen“ erinnern, auf Facebook postete und damit auf reges Interesse stoß. Daraufhin entschied sich das Wien Museum eine Auswahl dieser Fotografien erlesenen „Souvenir-Fotos“ aus dem Jahr 1873 gegenüberzustellen. Damals nahmen VertreterInnen der „Wiener Photographen-Association“ die Weltausstellung im Prater ins Visier und damit eine Zeit, in der Reisen (auch) nur eingeschränkt möglich waren.

Czajas „Erinnerungsfotos“ werden im Dialog mit historischen Fotografien präsentiert und vereinzelt mit Informationen ergänzt. Wien ist laut Czaja Almost Kyoto (19., Hohe Warte), Almost Sāo Paolo (16., Hasnerstraße), Almost Tel Aviv (12., Wolfganggasse), Almost Brussels (2., Praterstraße) oder Almost Quito (22., Siegesplatz). Neben Abbildungen von u.a. Michael Frankenstein (Chinesisches Zimmer und Kirgisische Kibitka) ist Japanischer Garten von György Klösz zu sehen und zu lesen: „Ab 1867 öffnete sich Japan gegenüber dem Westen. Der Auftritt des exotischen Gastlandes wurde von Presse und Publikum gleichermaßen bestaunt.“
Weiter „reisen“ die BesucherInnen vor dem sich im Umbau befindlichen Wien Museum mit Czaja nach Kuwait City (11., Margetinstraße) und St. Petersburg (1., Zelinkagasse). „Wollte man die Wiener Innenstadt eines Tages mit Wasser fluten“ wird ergänzt, „so würde sich vom Palais Schottenring aus betrachtet wohl jenes Bild entfalten, von dem dereinst Peter der Große träumte, als er 1703 das prächtige, kanaldurchäderte St. Petersburg errichten ließ“. In ein paar Schritten von Paris (9., Kinderspitalgasse) nach Loreto (8., Lederergasse) und zum Bazar Mehmed Sadullah & Comp. (Foto: Josef Löwy), in die Vatican City (1., Schönlaterngasse) und nach Prora, Rügen (7., Ahornergasse), denn „in Prora auf der Ostseeinsel Rügen errichteten die Nationalsozialisten das KdF-Seebad sowie eine mehr als vier Kilometer lange Wohnhauszeile mit insgesamt 10.000 Gästezimmern. Eine Mischung aus monotoner Linearität und Urlaubsfeeling findet man auch in Nebau“.

Mithilfe des Fotografen lässt sich auch eine formale Verwandtschaft Wiens mit Phnom Penh (13., Maxingstraße), Trieste (4., Wiedner Hauptstraße), Havana (2., Praterstern) und Chicago (20., Wexstraße) erkennen. Wenn es bei Almost Pyongyang (23., Anton-Baumgartner-Straße) lautet: „Nordkorea ist eines der verschlossensten Länder der Welt und weist in seiner Bevölkerung den weltweit geringsten Migrationsanteil auf. Im Kaufpark Alterlaa wird gleich, so scheint es, ein Heimatstück für Kim Jong-un aufgeführt.“ (Czaja), bei Almost Bo-Kaap, Cape Town (23., Triester Straße): „Bo-Kaap, auch bekannt als Malay Quarter, ist das mit Abstand schrillste viertel am Fuße des Tafelbergs – mit engen Gassen und grell gestrichenen Häusern im sogenannten kapholländischen Stil. Die Triester Straße ist zwar nicht Kapstadt, aber träumen wird man wohl noch dürfen.“, und bei Almost Ponte Sant’Angelo, Rome (4., Karlsplatz): „Die antike Brücke über den Tiber wurde bereits 134 n. Chr. errichtet. Die Passionsengel kamen erst im Barock hinzu und wurden von Gian Lorenzo Bernini und seinen Schülern geschaffen. Drehen Sie sich um! Den Wiener Referenzengeln finden Sie am Eingang zur Karlskirche.“ wird Bekanntes mit anderen Augen gesehen, die Vorstellung und damit ein Erinnern angeregt: „The surprise, liberations, and clarifications of travel can sometimes be garnered by going around the block as well as going around the world, and walking travels both near and far.“ (Rebecca Solnit, Wanderlust. A History of Walking, 2000)

Weiter vom Pavillon des Österreichisch-Ungarischen Lloyds (Foto: Oscar Kramer) nach Rotterdam (2., Freudenauer Hafenstraße), Berlin (5., Mauthausengasse) und in den Park an der Ilm, Weimar (2., Stoffellagasse): „Der Park an der Ilm, 1776 nach Plänen des Dichters und Gartenfreunds Johann Wolfgang von Goethe errichtet, zählt zu den schönsten Grünräumen des Klassizismus und der Romantik. In der Stoffellagasse liegt nicht nur das Straßenreinigungsdepot der MA 48, sondern auch ein Stückchen Weimar in Wien.“ Dann nach Berlin Tempelhof (14., Torricelligasse), Palm Springs (11., Simmeringer Hauptstraße) und zur Salzbuger Alpenhütte (Foto: Michael Frankenstein): „Man ging zur Weltausstellung, um sich zu informieren – und um zu konsumieren. Die zahlreichen Gaststätten und Etablissements wurden zum Stadtgespräch.“, von Beaver Creek, Colorado (14., Ulmenstraße) nach Asmara (3., Landstraße Hauptstraße): „1889 wurde das ostafrikanische Eritrea von den Italienern besetzt. Dank dem milden Klima in 2.300 Meter Höhe wurde die Hauptstadt Asmara Anfang des 20. Jahrhunderts zum „zweiten Rom“ ausgebaut. Die Architekten vom Apennin konnten sich hier austoben und schufen eine futuristische Musterstadt aus Glas und Beton.“

„Manchmal frage ich mich: Wie würde Almost-Vienna-Foto in Paris, Sydney oder Mexico City aussehen?“, erzählt Czaja, dessen radikal subjektiver Blick gleichzeitig sein Motiv wiederum objektiviert, indem er Gemeinsamkeiten erkennt, benennt und vergleichbar macht.

Es folgen der Brunnen des Sultan Ahmed II. – Eine Kopie des Originals aus Konstantinopel (Istanbul) (Foto: György Klösz), Almost Istanbul (18., Dänenstraße), Almost Dresden (2., Nordbahnstraße), Almost Leipzig (22., Dr.-Otto-Neurath-Gasse) und Almost Toulouse (20., Brigittaplatz) und Kulturgeschichte(n): „‘La ville en rose‘ wird Toulouse gerne genannt. Nachdem die nackten Ziegelfassaden aus Scham, als arm zu gelten, jahrhundertelang verputzt worden waren, entschied sich die Stadtverwaltung in den 1950er Jahren, der Stadt wieder ihr ursprüngliches Erscheinungsbild zurückzugeben – und den Putz wieder abzuschlagen.“ Die Maschinenhalle (Foto: György Klösz) verrät: „Blick auf die 800 Meter lange Maschinenhalle, in deren Innerem die zeitgenössische Ingenieurskunst – allen voran mit unzähligen Dampfmaschinen – ihren Auftritt hatte. Das Gebäude wurde nach 1873 als Lager genutzt.“

„Aber der Zauber, unterwegs zu sein, das Geheimnis der Namen, die sich erst mit Inhalt und Leben füllen, das Wirklichkeit-Werden eines Traums, das Entzücken an der Entdeckung!“, wird Annemarie Schwarzenbach (Ankunft in Mallorca, 1936) zitiert. Weil Czaja das Reisen fehlt, reist dieser „halt im Kleinen weiter“, denn „wenn der Globus rundherum bereisbar ist, besteht die eigentliche Herausforderung darin, zu Hause zu bleiben und die Welt von dort aus zu entdecken.“ (Judith Schalansky, Atlas der abgelegenen Inseln, 2009)

Neben Egyptische Baugruppe (Foto: György Klösz), das an die Begeisterung für den Orient im 19. Jahrhundert erinnert und an das sogenannte orientalische Viertel der Weltausstellung, dessen Moschee und Basar, sind Ähnlichkeiten Wiens auch in Almost Palermo (3. Rennweg), Almost Copenhagen (11., Herderplatz), Almost Buenos Aires (6. Gumpendorfer Straße)“ und Almost Wuppertal (15., Sechshauser Gürtel) ganz offenkundig. „Die 1901 errichtete Schwebebahn zählt zu den außergewöhnlichsten Verkehrsmitteln der Welt. Getragen wird die Schienenkonstruktion von insgesamt 935 stählernen Portalen. Eines davon, so scheint es, steht am Sechshauser Gürtel.“ Dabei ergibt Czaja zu (bedenken): „Jedes Einfangen von Bildern ist automatisch manipulativ. Oft reicht es, ein Fragment aus dem räumlichen Kontext zu reißen, schon ist man ganz woanders.“

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