07/06/2021

Civitas solis Versuchsanordnung
Zur Eröffnung des Club Hybrid

Der Club Hybrid im südlichen Graz installiert im Rahmen des Grazer Kulturjahres 2020/21 einen Ort des Experimentie-rens, des Aus- und Darstellens und des Diskurses.
Mit Gästen und täglichem Programm besiedelt der Club eine urbane Nebelzone, ist Werkstatt und Bühne für Aktivbürger*innen.

Wissenschaftliche, künstler-ische und aktivistische Formate erproben Arbeits- und Lebenspraktiken.
Gemeinsam wollen Aspekte der urbanen Teilhabe, Stadtentwicklung und Hybridität diskutiert werden.

Club Hybrid
Herrgottwiesgasse 161
8055 Graz

Eröffnung
10. Juni 2021, 18 Uhr

Residencies & Programm
11. Juni - 15. August 2021

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Essay von
Bettina Landl

07/06/2021

Ein Demonstrativbau in (für) Graz, Stand: 5. Juni 2021.

©: Wolfgang Reinisch

Club Hybrid, Bautätigkeit.

©: Club Hybrid

ÖBA – örtliche Bauaufsicht, 18. Mai 2021. Foto: Foto Fischer, Michael Sladek

©: Club Hybrid

Club Hybrid, Nachbarschaft. Grafik: Pretterhofer Rieper

©: Club Hybrid

Club Hybrid, Grafik: Pretterhofer Rieper

©: Club Hybrid

Club Hybrid in der Herrgottwiesgasse 161, Foto: Michael Sladek

©: Club Hybrid

(Endlich!) ragt in der Herrgottwiesgasse 161 der Club Hybrid in die Höhe – ein Projekt von Heidi Pretterhofer und Michael Rieper, das im Rahmen des verlängerten Graz Kulturjahres 2020 realisiert wird und ein Momentum signalisiert. Die „Herrgottwiese“, von der Holding Graz zur Verfügung gestellt, beherbergte u.a. eine Gärtnerei, und stellt(e) eine begehrte Baulücke dar, die mit dem sogenannten „Demonstrativbau“ temporär zur „Spielwiese“ städtischer Visionen, Utopien, Ideen umfunktioniert wird. 36 filigrane Stahlstützen heben die Holzkonstruktion nach oben. Diese sieht Arbeits- und Ausstellungsräum-lichkeiten (Ebene 1) vor wie auch 4 Studios (Ebene 2), die Leben und Arbeiten vereinen wollen. Der Club ist eine „öffentliche Bedürfnisanstalt“, die an der Schnittstelle der Bezirke Gries und Puntigam umzusetzen, zu bespielen, zu diskutieren und zu bearbeiten ist. Das Objekt (Sommerhaus) ist eine offene Struktur und schafft einen Möglichkeitsraum, der Impulse für urbanistische Entscheidungen bewirken will. In Zukunft kann der Club wandern, soll aber in den kommenden Monaten an seinem derzeitigen Standort ein Zentrum etablieren, das sich in die Umgebung einfügt und aus dieser heraus arbeitet. Im Zuge von Gastaufenthalten von Aktivist*innen, Theoretiker*innen und Spezialist*innen werden der interessierten Öffentlichkeit unterschiedliche Expertisen rund um das Thema Stadtentwicklung zur Verfügung gestellt und gemeinsam (neues) Wissen generiert. Nachbarschaft(en) ist dabei wesentlich und kollektive Gestaltungsalternativen (in) der Umgebung. Bürger*innenbeteiligung und aktive (An)Teilnahme sind Voraussetzung für das Gelingen dieses Experiments, das – ergebnisoffen konzipiert – eine Chance für die Stadt und ihre Bewohner*innen („zum Wohle aller“) darstellt.

Begriffe definieren
„Gemeinwohl“ kann als Zweck einer Gruppe begriffen werden, die sich nur oder überwiegend bildet mit dem Ziel der Wohlfahrt nicht nur aller Einzelnen, sondern auch der Gemeinschaft als Ganzer. Diese Unterscheidung ist in die politische Philosophie eingeführt worden von J.J. Rousseau mit seiner Unterscheidung von Gemeinwille und dem Willen aller (frz. volonté générale vs. volonté de tous). Ersterer ist ausschließlich am Gemeinwohl orientiert und ist bei der politischen Abstimmung aller Einzelnen berücksichtigt, insofern sie selbst in der Vertragsgesellschaft insgesamt den Gemeinwillen repräsentieren. Insofern kann nicht die Summe der individuellen Zielsetzungen aller Einzelnen zum Gemeinwohl, sondern nur die kollektive Willensanstrengung aller (als einheitliche juristische Person in der Form eines Staates) das Gemeinwohl garantieren. Im Unterschied dazu nahmen die Vertreter des Klass. Utilitarismus (J. Bentham, J. St. Mill) an, dass sich in der ethischen Formel für die Bildung gemeinsamer Zielsetzungen („das größte Glück für die größte Zahl von Menschen“) Individualwohl und Gemeinwohl vermitteln lassen, insofern jede*r Urteilende sein*ihr eigenes Wohl zum Maßstab dessen nimmt, was er*sie allen anderen, und damit der Gemeinschaft, als Wohlfahrt (engl. welfare, frz. salut publique) zuerkennt. Dieser zumeist politisch verwendete Sammelbegriff dient der Charakterisierung eines gesellschaftlichen Ziels oder eines Zustandes, bei dem den Betroffenen eines regionalen Lebenszusammenhangs nicht nur Überlebensmöglichkeiten, sondern auch Chancen zur Vermehrung und Bewahrung materieller und ideeller Güter zugesprochen werden können oder sollen. In den „Wohlfahrtsstaat“ gehen daher Errungenschaften ein wie soziale Sicherheit, Chancengleichheit für die Besetzung sozialer Positionen, Garantien zur Daseinsvorsorge, auch die kompensatorische Sozialhilfe für diejenigen, welche die erforderlichen Eigenleistungen zum Lebensunterhalt nicht selbst erbringen können. „Solidarität“, neulat. „Gesamtheit“, „Vollständigkeit“, meint juristisch und politisch das Eintreten, Haften oder Verantwortlichsein des Einzelnen für die Gesamtheit, ethisch die Bereitschaft zur Unterstützung der Zielsetzungen anderer; bei E. Durkheim (De la division du travail, 1893) auch als soziologischer Begriff eingesetzt, zur Bezeichnung des Zusammenhalts einer Gesellschaft aufgrund ursprünglicher Homogenität oder aufgrund funktionaler Abhängigkeit der Glieder.

Theoretischer Exkurs
„Soziabilität“, von lat. sociabilis („sich leicht gesellend“), bezeichnet die Neigung zur Vergesellschaftung. „Sozialismus“, von lat. socialis („gesellig“) umfasst sowohl einen Typ politischer Theorie, nach der über eine gesellschaftliche Kontrolle der Ökonomie und Eigentumsverhältnisse eine demokratische Gesellschaft von Freien und Gleichen erreicht werden könnte, wie auch eine politische Praxis zur Erreichung dieses Ziels. Im Verhältnis zur Theorie des Kommunismus, die während der Umwälzung zur klassenlosen Gesellschaft auch eine Auflösung des Staates erwartet, kennzeichnet Sozialismus nur ein Übergangsstadium. Nach ihrer Stellungnahme zur Notwendigkeit, den Kapitalismus zu überwinden, lassen sich ethischer, (sozial)demokratischer und kommunistischer Sozialismus unterscheiden. Ethischer Sozialismus argumentiert nicht primär ökonomisch, sondern normativ aus Theorien sozialer Gerechtigkeit.

Kontextualisierung
Was immer unter „Raum“ auch sonst noch verstanden werden kann: für die Soziologie ist Raum vor allem als Sozialraum relevant. Im Mittelpunkt soziologischer Raumverständnisse steht weder der Raum als bloße Anschauungsform noch der Raum als Naturraum im Sinne einer vorsozialen Kategorie. Raum gilt vielmehr als Produkt sozialer Praxis wie sie auch im Club realisiert wird. Offen sind dessen Prozesse, die während der Projektlaufzeit angestoßen werden, und potenziell deren Gebilde. Eine (wissenschaftliche) Begleitung und Analyse könnte so manche Problematik im Hinblick auf derlei soziale Experimente erhellen. Raumsoziologie interessiert sich folglich dafür, wie Raum durch soziale Akteur*innen hergestellt und mit welchen Bedeutungen er versehen wird. Erst als gemachter und gedachter Raum fällt er überhaupt in den Zuständigkeitsbereich der Soziologie. Schon die Klassiker (É. Durkheim, G. Simmel) zeigen sich im Rahmen ihrer Bemühungen um die Konstituierung der Soziologie als eigenständiges Fach daran interessiert, Raum nicht mehr länger als natürliche Gegebenheit, sondern als Resultat sozialer Prozesse zu behandeln. Naturlandschaft hat sich längst in Kulturlandschaft verwandelt. Physischer Raum als solcher ist damit nicht mehr länger denkbar, handelt es sich doch auch bei ihm um einen stets schon zugerichteten, angeeigneten und genutzten Raum (P. Bourdieu).

Noch einmal: Gemeinwohl (Ausblick)
Commons-Forscher*innen wie E. Ostrom untersuchen, wie Commons (dt. Gemeingüter) zur Anpassung von Gemeinschaften und Regionen an den Prozess der kapitalistischen Globalisierung und zu einer dauerhaften Nutzung von Ressourcen beitragen können. Kapitalismus und Globalisierung werden dabei gerne als eine Art Naturgesetz angesehen. Dabei ist es wesentlich, herauszufinden, welche Art von Commons die Macht der Commoners stärkt. Jene Macht nämlich, ihre Commons zu verteidigen, auszubauen und sich den Zumutungen des Kapitals zu widersetzen, Lohnarbeit und Markt also verweigern zu können. Dadurch erst werden Commons als Keimform einer postkapitalistischen Gesellschaft der Solidarischen Ökonomien interessant. Commons garantieren den Menschen, die sie herstellen und nutzen, einen gewissen Grad an Unabhängigkeit vom jeweils herrschenden System, weil sie sich dadurch selbst versorgen können. Deshalb können Commons Herrschaftsverhältnisse untergraben, sie ermöglichen Widerstand, Protest und Rebellion und können Ausgangspunkt für soziale Veränderungen sein. Erst durch die Privatisierung des gemeinsam genutzten Landes wurde es der Verwertung durch das Kapital zugänglich. Commons sind stets in Herrschaftsverhältnisse eingebettet und davon durchzogen, sie sind Ergebnis und Ausgangspunkt sozialer Kämpfe und darum immer ambivalent.

Solidarité !
Große Krisen stellen strategische Situationen dar. Zum einen verdichten sich darin die Resultate vielfältiger sozialer Kämpfe, zum anderen bilden sich in einer Krise neue soziale Akteur*innen heraus und bestehende orientieren sich um. Es werden weitreichende Entscheidungen getroffen, die neue gesellschaftliche Strukturen schaffen. Krisen zwingen zum Handeln und öffnen Perspektiven. Bestehen Commons und Solidarische Ökonomien innerhalb des Marktsystems versorgen das Kapital mit kostenlosen Ressourcen, bilden aber auch Räume der Autonomie, in denen Widerstand und Alternativen entstehen können. In den letzten Jahrzehnten gab es in verschiedenen Lebensbereichen neue Einhegungen von Commons, die neue Widerstände nach sich zogen. Viele haben das Vertrauen in die staatliche Politik ebenso wie in den Markt verloren. Das führt zu der Überzeugung: „Was Menschen für ihr tägliches Leben brauchen darf nicht zu Privateigentum werden, sondern muss für alle zugänglich sein. Alle sollen über die Produktion und Verwendung lebensnotwendiger Dinge oder Dienste mitbestimmen können.“ (A. Exner/B. Kratzwald, S. 8)

Changez !
Krisensituationen bringen auch eine Vielzahl von Vorschlägen einer Ordnung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft hervor, die das bestehende System nicht überwinden, sondern erneuern wollen. Commons und Solidarische Ökonomie können mithilfe kooperativer Produktionsweisen, reziproker Beziehungen und nicht-hierarchischer Entscheidungsstrukturen echte Alternativen darstellen, die zu einer sozialen Transformation über den Kapitalismus hinausführen.

Texttitel:
„Sonnenstaat“ (lat. civitas solis) – auch „Sonnenstadt“ – ist der Titel einer Schrift von Th. Campanella, die 1623 erschien und als Gegenstück zu Platos Politeia einen Zukunftsstaat auf der Basis von Gemeineigentum entwarf.

Textquellen:
Stephan Günzel (Hg.), Raumwissenschaften, 2012 (3. Aufl.); Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, 2012 (7. Aufl.); Vilém Flusser, Kommunikologie, 2007 (4. Aufl.); Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Philosophische Bibliothek Band 500, 2013; Andreas Exner/Brigitte Kratzwald, Solidarische Ökonomie & Commons, 2011.

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