25/08/2021

Ist das noch normal?

Sigrid Verhovsek berichtet vom NORMAL – direkten Urbanismus x 4: An den Rändern der Stadt 
aus Graz-Waltendorf, wo vom 31. Juli bis 1. August 2021 am Parkplatz des von Ferdinand Schuster 1970 errichteten Seelsorgezentrums St. Paul in der Eisteichsiedlung der Third World Congress of the Missing Things, durchgeführt von transparadiso, stattfand.

.

25/08/2021

Klimakatastrophenskulptur

©: Sigrid Verhovsek

Waltendorfer derive Farbpoesie

©: Sigrid Verhovsek

Das halbierte Tor

©: Sigrid Verhovsek

Heute keine Selbstoptimierung

©: Sigrid Verhovsek

BambooKaza Chuppa oder Himmel

©: Sigrid Verhovsek

Was fehlt?

©: Sigrid Verhovsek

transparadiso und Pfarrer Paul Scheichenberger

©: Sigrid Verhovsek

BambooKazaSkulptur mit dem Glockenturm der Kirche St.Paul von Ferdinand Schuster (1970)

©: Sigrid Verhovsek

Was für alle passt, passt für keinen

Normal zu sein heißt, einer Norm zu entsprechen, die sich am Mittel, an der Masse orientiert. Aber ganz ehrlich: Wer will schon durchschnittlich sein? Gerade der Kampf um Individualität ist paradoxerweise etwas, was uns alle gleichmacht.
Dennoch lichtet sich durch die Ausdifferenzierung unserer westlichen Gesellschaft die „Mitte“, oder anders gesagt: Der statistische Durchschnitt trifft auf kaum einen wirklich mehr zu, wir bewegen uns an den Rändern und experimentieren mehr oder weniger lustvoll, mehr oder weniger freiwillig, in manchen Grenzzonen eine Art von Freiheit von der Norm, eine Abweichung von der Normalität.
„Normal“ könnte man aber auch im Sinne von „selbstverständlich“ oder „üblich“ deuten: Es ist „normal“, dass unsere Städte wachsen und der Boden versiegelt wird, das kleine, unrentable Häuser großen Investorenbauten weichen, oder dass Raum nur mehr als Geldquelle gesehen und behandelt wird.
Insbesondere an den „Rändern“ der Stadt findet derzeit ein Umbruch statt, der Druck am Grundstücksmarkt führt zu einer gnadenlosen Verdichtungswelle, die erforderliche Infrastruktur hinkt im besten Fall nach – selten auf Kosten derer, die sich an der Umwidmung bereichert haben. Im Zuge dieser Gefräßigkeit wird der Rand mit unbiegsamen Lineal nivelliert – plötzlich ist ein neuer Maßstab da, scheint kein Platz mehr zu sein für Kleinteiligkeit, für Altes, für Gebrauchtes. Wildbewachsene Refugien und dauernde Provisorien schwinden unter der Ägide einer ach so smarten, voll-technisierten Welt. Was wird übrigbleiben von der gelassenen Undefiniertheit der Peripherie, was wird fehlen von ihrem Mut zur Ambiguität?

Um diese Stadtquartiere neu zu denken – sie eben nicht als „normal“ hinnehmen – und um den sozialräumlichen Herausforderungen der Urbanisierung kreativ zu begegnen, entwickelten transparadiso (Barbara Holub und Paul Rajakovics) den „direkten Urbanismus für eine sozial engagierte Stadtplanung“, eine Methode, die direkte Aktion, künstlerische Interventionen und Planung verbindet. Für das Grazer Kulturstadtjahr 2020, das coronabedingt auf 2021 verlegt wurde,  entwarfen sie gemeinsam mit Künstler und Kurator Michael Petrowitsch das Projekt NORMAL – direkter Urbanismus x 4: An den Rändern der Stadt, zu dem sie orizzontale (Rom), Studio Magic (Graz), public works (GB) oder Georg Winter (Saarbrücken) eingeladen haben. Im Fokus des Projektes standen dabei Transformationsprozesse, die sich in allen Himmelsrichtungen in vier Grazer „Randbezirken“ abspielen: Im Süden, in Liebenau, griff orizzontale die Debatte um das Murkraftwerk auf und realisierte FLUSSFLUSS – Castaway on the Mur, in Andritz durfte man PLATZEN, in Wetzelsdorf wurde der TanzPflanzPlan umgesetzt.

transparadiso nahm sich den Osten vor, und landeten mitten (oder doch exzentrisch?) im Grazer Bezirk Waltendorf. Nach intensiver Beschäftigung mit den (sozial)räumlichen Gegebenheiten vor Ort und vielen Gesprächen mit BewohnerInnen und Stakeholdern, riefen sie am letzten Juli-Wochende, Samstag, 31.7 und Sonntag, 01.08.2021, zum Third World Congress of the Missing Things: Was fehlt?
Dieser außergewöhnliche Kongress fand seinen entsprechenden Ort zu stählernen Füßen des Glockenturms auf dem Parkplatz der Kirche St. Paul in der Eisteichsiedlung, Pfarre Graz Waltendorf.
Nicht nur die Einladung in diesen speziellen Raum, die mehr ist als eine bloße Erlaubnis, sondern Interesse und Mitwirkung am Kongress zeigen Gastgeber Pfarrer Mag. Scheichenbergers gedankliche Übereinstimmung mit Ferdinand Schuster, dem Architekten dieses besonderen kirchlichen Bauwerkes: “...dass Kirchenbau nicht mehr in introvertierter Beschränktheit betrieben werden kann und Lösungen als nicht zeitgemäß bezeichnet werden müssen, die zu ghettoartigen Gebilden führen, die inselhaft in der profanen Umwelt dahintreiben. Dass kirchliches Bauen vielmehr aufgefasst werden muss als bewusste Dienstleistung an der allgemeinen Gesellschaft, als konkreter Beitrag zur Ordnung und Heilung der Umwelt.“ (1)

Trotz soviel göttlichem Beistand beginnt der Samstag mit einem großen Schrecken und auch sicher so manchen äußerst unchristlichen Fluch: Das Grazer Jahrhundertwetter hat einen der beiden wunderschönen, extra für diesen Anlass gefertigten Pavillons zerstört, oder, wie Rajakovics es ausdrückt, eine „Klimakatastrophen-Skulptur“ geschaffen.
Zudem ist das Wetter so unbeständig, dass sich der harte Kern aus neugierigen KongressteilnehmerInnen zunächst in der zweiten BambooKaza unter den in allen Rottönen gehaltenen Segeln mit gehaltenem Covid-Abstand zusammenkuschelt.
Erste Grußworte kommen durch den Gastgeber, Pfarrer Scheichenberger, der mit verschmitztem Lächeln wie zum Trost die Ähnlichkeit der verbliebenen BambooKaza mit einer Chuppa, dem zeremoniellen jüdischen Baldachin, oder dem verwandten Prozessions-„Himmel“ hervorhebt.
Der Bezirksvorsteher von Waltendorf, Peter Mayr, gibt einen kurzen Einblick in die Historie und in die „Lebensrealitäten“ der Außenbezirke, vor allem über die Notwendigkeit eines möglichen Zentrums oder zentralen Bereiches, eine von vielen Bewohner*innen konstatierte Fehlstelle. Der Kongress wird schließlich durch transparadiso mit einer Einführung in die Aufgabenstellung des Kongresses auch „formell“ eröffnet.

Als erste, äußerst angenehme Aufgabe bekommen wir die Gelegenheit, die außergewöhnliche Lebensqualität dieses Bezirkes auf der Suche nach den poetischen Momenten auf einem derive zu erkunden. Wenn man nicht funktioniert wie gewohnt, – in die Knie geht, auf eine Mauer steigt, sich anders bewegt, einfach stehenbleibt, entstehen andere Blickwinkel, Fremdes im Gewohnten.
Wir lassen uns von Trauerweiden streicheln, streifen gebückt durch den Dschungel um die alten Ziegelteiche, pirschen uns mutig, aber auf Zehenspitzen an die verschlossenen Gefilde des Pammer-Bades heran, beraunzen augenrollend die fantasielosen Investorenwohnmaschinen, die zunehmend und völlig unmaßstäblich die Gegend überziehen, und gehen schlussendlich durch ein halbes Tor, dass anscheinend nur die Aufforderung zum Durchgehen beinhaltet – es kann niemand mehr ein- oder ausschließen: Nein, hier fehlt die andere Hälfte keinesfalls!
Wieder zurück am Kongress-Parkplatz, wo sich die BambooKaza inzwischen zum Sonnensegel gewandelt hat, wird erzählt, was an Poetischem gefunden wurde; sorgsam werden Fundstücke mit weißer Kreide auf einer schwarze Litfaßsäule vermerkt. Und schließlich kommt man auf jene Dinge zu sprechen, die fehlen, und die von scheinbaren Kleinigkeiten im räumlichen Gefüge bis zu scheinbar unmöglichen gesellschaftlichen Utopien reichen – und manchmal beides auf einzigartig poetische Weise verbinden: „Ein Stuhl für den Bettler sonntags vor der Kirche“.
Als kreative Verschnaufpause unterbricht eine Performance mit Edith Draxl mit vier Mitgliedern der „Kapellknaben“, (die auch weiblich sind) die Diskussion mit einem Sprechgesang nach Texten von Barbara Holub: In Erinnerung bleibt „...heute dürfen wir unmögliches....denken“ und auch: „heute keine Selbstoptimierung“!
Mit dieser Anforderung gehen wir in die abschließende Diskussion über verwegene Durchwegungen (Verstopfungen durch Privatisierung und nichteingeforderte Servitutsrechte), über nicht geäußerte (unbewusste?) Ansprüche an den öffentlichen Raum angesichts der Realität, die da heißt EinkaufsZENTRUM, über Wohnbau zwischen dem Glück des einzelnen oder der Notwendigkeit für alle, oder über das „Dorfsterben“ mitten in der Stadt, der Nivellierung durch eine von Investoren getriebene, falsch verstandene Urbanisierung: Fazit ist: Es sollte nicht jede Lücke geschlossen werden.

Sonntags beginnen wir um 11:00 Uhr, wo gerade viele neugierige BesucherInnen direkt nach der Messe zu unserer Gruppe stoßen und die Litfaßsäule mit ihren AlltagsexpertInnen-Wissen bereichern. Die alles umhüllende Glockensymphonie um 12:00 Uhr führt zu einem intensiven Gespräch über Rituale, über gemeinschaftsbildende und identitätsstiftende soziale Handlungen. Aber wieder schlägt gegen 13:00 Uhr, mitten im zweiten derive, eine unbarmherzige Wolke zu, und der Kongress muss leider vorzeitig abgebrochen werden. Die geplante abschließende Klage-Performance fällt buchstäblich ins Wasser, und im sintflutartigen Regen wird nun auch die zweite BambooKaza gemeinsam abgebaut, die Litfaßsäule liebevoll (Christo/Jeanne Claude?) umhüllt.
Sowohl die poetischen Momente und Räume, die gefunden wurden, wie auch jene Dinge, die in Graz-Waltendorf fehlen, die sich erst noch manifestieren sollen, werden dennoch ihre Adressaten finden, auch ohne die geplante feierliche Übergabe der Charta of the Missing Things – vielleicht bei dem einen oder anderen Zaungast, der ein Stück „seines“ Waltendorf der Normalität entzieht?

(1) QUELLE: Ferdinand Schuster: Versus populum. Kirchenbau und Umwelt. In: Gethmann, Daniel (Hg.): Ferdinand Schuster (1920 - 1972): Das architektonische Werk. Bauten, Schriften, Analysen. Park books 2020, S. 326

PS:
Für alle, die es nicht zu den vier ganz und gar nicht normalen Aktionen am Stadtrand geschafft haben, bietet sich nochmals die Chance, einiges sehr „zentral“ nachzusehen: Ergebnisse, Dokumente, Zeugnisse aller vier Aktionen werden vom 1. – 15. September 2021 im Forum Stadtpark ausgestellt.

Terminempfehlungen

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+