08/09/2021

Grünes Band.
Die Stadtgrenze aus naturkundlicher Perspektive

Der Text von Werner E. Holzinger erscheint in: GrazRand. Eine Grazumrundung in sieben Tagen.

GrazRand
ist ein Buch von Adina Camhy, Robin Klengel, Coline Robin und Markus Waitschacher, herausgegeben von Elisabeth Fiedler / Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark (KiöR), 144 Seiten, 2021 Verlag Bibliothek der Provinz.
Es erscheint als Teil des Projekts GrazRand im Rahmen von Graz Kulturjahr 2020 in Kooperation mit: KiöR, Haus der Architektur (HDA), GAT und Grazer Soundscapes / Radio Helsinki.

Im Sommer 2020 umrundete ein vierköpfiges Team die Stadt Graz genau entlang ihrer Grenze. Ihre Eindrücke in Text und Bild erscheinen nun in einem vielfältigen Buch, das gleichzeitig Reisereportage, Wanderführer, Stadtforschung und Kunstbuch ist.
Ab Herbst 2021 erhältlich.

Kontakt
grazrand@mur.at

08/09/2021

Am östlichen Stadtrand: die Große Quelljungfer – die größte Libelle Europas. Bild: Werner E. Holzinger

Am nördlichen Stadtrand: der Pillendreher – ein naher Verwandter der ägyptischen Skarabäen. Bild: Gernot Kunz

Grenzen sind für das Leben essentiell – ohne Grenzen kann Leben weder entstehen noch existieren. Abgegrenzte, definierte, geschützte Bereiche werden zum Beispiel zum Ablauf biochemischer Reaktionen benötigt, in größerem Maßstab ist aber auch die Höhle eines Spechts und der eigene Gartenteich ein solcher geschützter Raum. Grenzen können messerscharf gezogen sein oder ein breites Band bilden, sie trennen und verbinden, sie sind Leitlinie und Orientierungshilfe. Sie müssen aber in jedem Fall auch überwindbar sein – das Überschreiten von Grenzen ist lebensnotwendig, zum Wechsel, Austausch und zur Kommunikation. Auch hier gilt das auf der molekularen und zellulären Ebene, zum Beispiel bei der Weitergabe von Impulsen entlang einer Nervenbahn, bis zur interkontinentalen, wie es die Andritzer Weißstörche zweimal pro Jahr auf ihrer Reise von Graz nach Afrika und retour demonstrieren.

Der Stadtrand trennt Graz von seinem Umland. Die geographisch gezogene Linie ist allerdings ein Produkt politisch- historischer Bedingungen und nur ein grober Hinweis auf die Lage einer natürlich-funktionellen Grenze zwischen Stadt und Umland. Wenn wir entlang dieser Grenze eine Runde um die Stadt drehen, bewegen wir uns streckenweise auch entlang wichtiger naturräumlicher Grenzen, ebenso wie wir bedeutende biologisch-ökologische Grenzen überschreiten.

Beginnen wir unseren Rundweg im Osten, so befinden wir uns auf einem Höhenrücken, der einst ein Meeresboden war: Gebildet haben sich die heute sanften Riedel vom Schaftalberg über die Ries bis nach Hohenrain beim Verlanden des pannonischen Binnenmeeres von wenigen Millionen Jahren. Hier geht das Grazer Becken in das Oststeirische Hügelland über und befindet sich die Wasserscheide zwischen den Einzugsgebieten von Donau/Raab und Drau. In den Bächen jener Riedel lebt, unabhängig davon, welchem Einzugsgebiet sie zugeordnet werden, die größte Libelle Europas: Die gelb-schwarz gestreifte Große Quelljungfer.

Dem Stadtrand folgend geht es nach Süden und bergab, wir verlassen die Sedimente des Pannonikum und erreichen in Raaba zunächst die dicht besiedelte und verbaute würmeiszeitliche Niederterrasse und schließlich die ehemalige Auwaldstufe der Mur. Diese tiefen, flussnahen Bereiche sind die geologisch jüngsten Teile der Stadt. Sie wurden in den letzten Jahrtausenden von jenen Sedimenten gebildet, die von der sich in Schlingen und Seitenarmen dahinwindenden Mur sukzessive abgelagert, immer wieder überschwemmt und weiterverfrachtet worden waren. Als Lebensraum für Tiere und Pflanzen sind derartige Flussauen extrem bedeutsam, weil sie ein kleinräumig ständig wechselndes Mosaik an feuchten, trockenen, heißen und kühlen Lebensräumen bieten. Hier lebten einst Waldrapp, Rothirsch und Wechselkröte – letztere konnte zumindest bis vor wenigen Jahren noch in kleinen Beständen im Bereich des ORF-Parks, im „Autocluster“ zwischen Liebenau und Raaba und bei den Auwiesen angetroffen werden.

Der Stadtgrenze folgend queren wir schließlich den größten Fluss der Steiermark. Durch drei in den letzten 10 Jahren errichtete Laufkraftwerke wurde das ehemals frei fließende Gewässer in eine Stauraumkette verwandelt und zum Energiespender unserer immer gieriger und immer mehr Strom fressenden Gesellschaft degradiert. Dieser nun finale ökologisch-naturschutzfachliche Exitus wurde allerdings schon im 19. Jahrhundert eingeleitet, als Franz Ritter von Hochenburger 1876 bis 1892 der natürlich furkierenden Mur mit ihren Auen und Überschwemmungswiesen von Graz bis zur Landesgrenze durch ein gigantisches Regulierungsprojekt den Garaus machte. Eine Wildflusslandschaft heute unvorstellbaren Ausmaßes mit ihrer einzigartigen Lebenswelt ging schon damals verloren.

Wenden wir uns vom ausgetrockneten ehemaligen Auwald weiter nach Westen, so erreichen wir nach rund einem Kilometer, kurz vor der Triester Straße, eine deutliche, Mur- parallel verlaufende Geländekante. Das ist die ehemalige Grenze der Flussau, wo wir nun ein paar Höhenmeter überwinden müssen, um wieder auf die würmeiszeitliche Niederterrasse zu kommen. Diese ehemals großflächig landwirtschaftlich geprägte Landschaft ist heute Siedlungs- und Gewerbe- Erweiterungsgebiet – nirgendwo sonst ist deutlicher zu sehen, was es bedeutet, dass in Österreich täglich 20 Hektar Fläche verbaut und versiegelt werden. Hier, zwischen Puntigam, Feldkirchen, Seiersberg und Straßgang, überwächst die Stadt das Land und verschwindet der Rand beziehungsweise wird immer weiter stadtauswärts verschoben.

Am Florianiberg queren wir erneut Grenzen: Wir kommen vom Siedlungsraum des Talbodens in den Wald, betreten das Landschaftsschutzgebiet Nr. 29 „westliches Berg- und Hügelland von Graz“ und wechseln von Ablagerungen würmeiszeitlicher Gletscher in das Erdaltertum und damit vom kontinentalen Vorland in das bereits der alpinen Region zugerechnete Grazer Bergland. Der Kalk des Bergrückens, der vom Florianiberg aus über Buchkogel, Ölberg, Gaisberg, Plabutsch, Göstinger Burgberg und Raacher Kogel den westlichen Stadtrand bildet, wurde von Korallen und anderen marinen Organismen im Zeitalter des Devon vor rund 400 Millionen Jahren gebildet. Viele Felsblöcke, über die Wandernde stolpern, sind fossile Kolonien der Koralle Favosites styriacus und mehrerer weiterer Korallenarten – mit der Lupe betrachtet, sieht man dann tatsächlich, dass es sich um Skelette dieser Blumentiere handelt.

Entlang der Stadtgrenze nach Norden wandernd, bewegen wir uns überwiegend im Wald, dazwischen erblicken wir aber immer wieder kleinere Lichtungen und Grünland. Bis in die 1980er Jahre war dieses Grünland für seine artenreichen, bunten Blumenwiesen bekannt. Heute sind diese botanisch als Halbtrockenrasen bezeichneten Lebensgemeinschaften aufgrund von Verbauung, Verbuschung und Intensivierung Geschichte. Aber einige naturkundliche Besonderheiten haben es bis in die Gegenwart geschafft: Die streng geschützte Duft-Becherglocke ist eine am Waldrand des Plabutsch vorkommende zarte Schönheit, die in Österreich ansonsten nur noch in zwei Wiesen in Niederösterreich zu finden ist. Weitere Naturschätze sind eine viele hundert Jahre alte Eibe am Plabutsch oberhalb des Schlosses Eggenberg und seltene Orchideen nahe der Ruine Gösting.

Nördlich des Raacher Kogels wandern wir bergab und verlassen kurzzeitig den Wald, um den Talboden der Mur im Bereich der Engstelle zwischen Raach/Judendorf und dem Kanzelkogel zu queren. Hier fließt die Mur noch frei, doch die Tage der hier lebenden Würfelnattern und Huchen sind gezählt, denn das nächste Kraftwerk und der nächste Stau sind schon bewilligt und die Baumaschinen scharren in ihren Startlöchern.

Mediterranes Klima herrscht am südexponierten Hang des Kanzelkogels, entlang dessen Fuß die Stadtgrenze verläuft. Wieder sind wir im Grazer Paläozoikum, auf Korallenkalken des Erdaltertums. Hier findet man trocken- und wärmeliebende Flaumeichen und Felsenbirnen, Hirschkäfer, Singzikaden, Tapezierspinnen und Mauereidechsen. Bis in die 1980er Jahre kam hier auch die Riesin unter den heimischen Eidechsen, die Smaragdeidechse, vor. Der Grazer Botaniker Josef Eggler schuf für diesen reliktären Lebensraumtyp sogar eine eigene Assoziation, das Quercetum pubescentis graecense. Heute sind wichtige Teile davon als Europaschutzgebiet ausgewiesen.

Auch der weitere nördliche Stadtrand, von der Andritzer Ursprungsquelle (mit der weltweit nur hier zu findenden Österreichischen Zwergquellschnecke) bis zum Hauenstein (mit dem Vorkommen des Pillendrehers, eines nahen Verwandten der ägyptischen Skarabäen), hat naturkundlich viel zu bieten. Hier im Landschaftsschutzgebiet sind Zersiedelungs- und Nutzungsdruck nicht so hoch wie im Süden, sodass nach wie vor viele Tier- und Pflanzenarten gefunden und beobachtet werden können. Die größte Vielfalt findet man meist an Grenzen: Wo Wald und Wiese aufeinandertreffen, können wir Arten beider Lebensräume beobachten, und zudem jene Spezialisten, die nur an Rändern leben. Die Zauneidechse ist eine typische Art dieser Säume. Da in unserer Kulturlandschaft die kleinstrukturierte Vielfalt der großflächigen Monotonie weichen muss, ist sie aktuell eine der größten Verliererinnen. Während der Grazer Zoologe Erich Reisinger 1972 noch berichtete, dass die Zauneidechse im Stadtgebiet von Graz weit verbreitet sei, gibt es heute nur noch vier kleinste Reliktpopulationen in der Stadt. Am Stadtrand ist sie hingegen nach wie vor an einigen Stellen zu finden.

Der Stadtrand ist die Verbindung zwischen der Stadt und ihrem Umland. In der Stadt sind die Lebensbedingungen für Tiere und Pflanzen anders als am Land: Es ist heißer, trockener, lauter und die Luft ist von Schadstoffen belastet. Die besiedelbaren grünen Inseln sind kleiner und durch ein engmaschiges Straßennetz voneinander isoliert. Die Auswirkungen des Stadtlebens auf Tiere und Pflanzen sind vielfältig. Beispielsweise blühen Schneeglöckchen, Krokusse und auch Bäume früher als am Land, und die Zahl an Blumen, die von Insekten bestäubt werden, ist geringer. Vögel singen früher, damit sie nicht vom morgendlichen Verkehr übertönt werden. Die Zahl eingeschleppter Tier- und Pflanzenarten ist in der Stadt höher als am Land. In den grünen Vorstadtbereichen und am Stadtrand ist die Gesamtzahl der Tier- und Pflanzenarten am höchsten – höher als im Umland und wesentlich höher als in der artenarmen Innenstadt.

Grüne Adern zwischen dem Zentrum und dem Rand sind nötig, um Vielfalt in die Stadt zu bringen. Das wichtigste Band verläuft noch immer entlang der Mur, auch wenn es im Süden von Kraftwerks- und Kanalbauvorhaben zerschnitten wurde und nur langsam und unvollständig wieder zusammenwachsen wird. Natürliche Lebensadern wären auch die Grazer Bäche. Allerdings wurden diese in der Innenstadt schon vor langer Zeit in den Untergrund verbannt. Weiter draußen wird ihr Abflussbereich zunächst lukrativ verbaut, um anschließend die Hochwassergefahr schon am Stadtrand auf Kosten der Allgemeinheit durch monströse Rückhaltebecken zu bannen. Doch zwischen dem Betongrau der Häuserschluchten und dem von Rasenrobotern verteidigten Sterilgrün der gepflegten Stadt keimt auch Hoffnung, gibt es Leben, setzen Naturfreund*innen erfolgreich Kontrapunkte: Gartenteiche, wilde Ecken, alte Bäume, grüne Dächer, Balkonblumenkisterln und das Wildbienenhaus sind Inseln der Vielfalt und Refugien der Natur. Kleine verbindende Elemente zwischen Stadt und Land.

Stadtflaneur

Alles schön und gut, aber der Begriff "Grünes Band" ist ein von der EU eingeführte Bezeichnung für ein ganz bestimmtes Territorium in Europa, sicher nicht als Name geschützt, aber doch zugeschrieben. Laut wikipedia wie folgt:
Das Grüne Band Europa (European Green Belt) ist ein Naturschutzprojekt, durch das der aufgrund des Kalten Kriegs weitgehend naturnah belassene Grenzstreifen des Eisernen Vorhanges quer durch Europa erhalten werden soll. Dieses „Grüne Band“ hat eine Gesamtlänge von über 12.500 km und reicht dabei vom Eismeer im Norden Norwegens bis zum Schwarzen Meer an der Grenze zur Türkei, wobei es entlang von 24 europäischen Staaten verläuft, 16 davon Mitglied der Europäischen Union.[1]

Mi. 08/09/2021 9:41 Permalink
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