12/10/2021

Wolkenschaufler_51

Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

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12/10/2021
©: Zita Oberwalder

Im Herbst 2019 war Alice Schwarzer zu einer Diskussion mit der Klasse für Ideen und deren Professor Matthias Spaetgens an der Wiener Universität für angewandte Kunst eingeladen. Unter anderem aufgrund ihrer Haltung gegenüber der Verschleierung muslimischer Frauen protestierten ÖH-Vertreterinnen gegen den Auftritt Schwarzers mit dem Argument, dass die „Geschichte des Feminismus nicht nur weiß“ sei. „Es geht einfach nicht, dass schon wieder eine weiße Frau etwas dazu sagen darf“ (Der Standard, 26.11.2019). Im Flugblatt der ÖH hieß es, dass man sich „für eine diskriminierungsfreie Hochschulkultur und ein sicheres, integratives und respektvolles Umfeld für alle“ einsetze. Dem Protest und dem Ersuchen, die Veranstaltung abzusagen, gab Rektor Gerald Bast schließlich nicht statt.
An angloamerikanischen Universitäten ist solches Phänomen schon seit geraumer Zeit geläufig. Studierende fordern safe spaces oder trigger warnings, Warnungen also vor Textstellen, gegenüber denen man sich unwohl fühlen könnte respektive die gegen die zeitgemäße Auslegung von political correctness verstoßen. Die FAZ (13.01.2016) etwa berichtet von einer Oxford-Dozentin und Shakespeare-Expertin, deren Studierende vorab gewarnt werden wollen – um eventuell rechtzeitig den Raum verlassen zu können –, wenn es um die Vergewaltigung Lavinias im Titus Andronicus geht.

Wir haben ein neues Wort für ein gar nicht neues Phänomen: Cancel culture. Ein Begriff aus dem Kontext von politischer Korrektheit, wenn nicht Zensur. Wenig überraschend, dass dafür Beispiele von älterer bis zur neuesten Kunstgeschichte zuhauf aufzulisten wären, wenn schon Michelangelo übermalen musste, Max Klinger sich launig – und wohl metaphorisch – darüber ausließ, dass er seinem nackten Christus einen Latz aus „Blut und eigener Galle“ anmalen musste oder – nur zwei von vielen Beispielen – 2006 in Österreich zwei Sujets der Ausstellung euroPart aus dem Programm genommen wurden, nachdem FPÖ und SPÖ Pornografie vorwarfen. Im selben Jahr wurde auch eine Klanginstallation aus Nationalhymne und Klospülung aus einer Ausstellung des Museions in Bozen entfernt. Das wiederum erinnert doch einigermaßen an Kunst und Revolution von 1968, der Aktion, nach der neben den anderen Günter Brus aufgrund „Herabwürdigung staatlicher Symbole“ zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde.

Die Bezeichnung Cancel culture kannten wir noch nicht, als im Jahr 2018 Eugen Gomringers Gedicht Avenidas von der Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule entfernt wurde. In Übersetzung lauten die „20“, dort seit 2011 „aneinandergereihten Worte“ (Der Spiegel, 22.09.2019; das Zitat zur Diskussion um Gedicht oder konkrete Poesie):
„Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer“.
Man könnte, wie es Gomringer auch nannte, von einer „Konstellation“ sprechen. Wie auch immer, die Hochschülerschaft hatte mit ihrem Vorwurf, der Inhalt dieses Textbildes sei sexistisch und erinnerte „unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind“, Erfolg. Avenidas wurde an der Fassade der Hochschule gecancelt. Seit 2019 aber ist das Textbild, spanisch und deutsch, auf einem zwei Kilometer entfernten Wohnbau der Wohnungsgenossenschaft Grüne Mitte Hellersdorf zu sehen.
Merkwürdige Blüten entstehen in unserer Zeit um die Präsentation von jahrhundertealten Kunstwerken. Und wir sind schon einigermaßen gespannt auf Reaktionen zur rezenten Tizian-Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien. Ein Interview mit der Münchener Kunsthistorikerin Lea Singer übertitelt BR Kulturbühne (01.10.2021) schon: „Verkauft die Wiener Tizianausstellung ein falsches Frauenbild?“ Die Ausstellung klammerte, so Singer, mit den gut 500 Jahre alten Darstellungen un- und wenig bekleideter Frauen den „Aspekt“ von „Missbrauch, Femiziden und Rufmord“ aus. Naja, jetzt mal ungeschaut lautet der Titel der Schau auch TIZIANS FRAUEN BILD und nicht etwa Unser Blick auf Tizians Frauen(bild).
Facebook zum Beispiel schützt seine User angeblich vor Pornografie und Missbrauch. Zwischen Artefakten und Pornografie kann FB offenbar aber nicht unterscheiden und wirkt moralinsauer, wenn Abbildungen einer Venus von Villendorf (30.000 Jahre alt) eliminiert werden oder der Kasseler Herkules (nur 300 Jahre jung). Die Tourismuswerber der GrimmHeimat NordHessen zogen dem Bronzekoloss für seine FB-Auftritte deshalb eine digitale rote Badehose über.

Seit 1815 befindet sich Caravaggios Amor als Sieger in den Staatlichen Museen zu Berlin, nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm III. vier Werke Caravaggios aus der italienischen Sammlung Giustiniani gekauft hatte. Das auf 1602 (bzw. 1601) datierte Amor-Gemälde eines nackten Jungen wurde 2014 im Zuge eines (schließlich eingestellten) Verfahrens um Kinderpornografie gegen einen deutschen Bundestagsabgeordneten zum Thema. In einem offenen Brief an die Berliner Gemäldegalerie wurde gefordert, das Bild solle nicht mehr gezeigt werden, weil es „zweifellos der Erregung des Betrachters“ (taz, 06.02.2018) diene. Abgesehen davon, dass es sicher auch Betrachterinnen gibt, wies Museumsdirektor Bernd Lindemann das Ansinnen als absurd zurück. „Der Forderung“, schreibt die Kunsthistorikerin Tal Sterngast (Zwölf Bilder. Betrachtungen aus der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin. Berlin 2020) in diesem Zusammenhang, „die Institutionen sollten den Massen das eigene Verhalten erklären oder gar Gemälde ersetzen […], liegt der Wunsch zugrunde, Kunsthausstellungen wie einen Safe Space zu organisieren“. Wenn wir vor solchen Bildern geschützt werden soll(t)en, wer wollte entsprechende Zertifikate ausstellen (?), folgert Sterngast.

„The painting must go“ forderte 2017 die Künstlerin Hannah Black. Das auf der Whitney-Biennale in New York gezeigte Gemälde trägt den Titel Open Casket (offener Sarg) und stammt von Blacks Kollegin Dana Schulz. In stark abstrahierter Malweise erinnert das Bild an den Mord am farbigen Jugendlichen Emmett Till 1955. In Blacks offenem Brief an das Whitney Museum forderte sie, „das Bild zu zerstören und es weder auf den Kunstmarkt noch in ein Museum gelangen zu lassen“ (Deutschlandradio, 01.10.2017). Black verurteilte in ihrem Brief die Darstellung schwarzen Leids durch eine weiße Künstlerin und meinte, mit dem Kunstwerk sei kulturelle Aneignung vollzogen.
Ähnlich lauteten Argumente zur Übersetzung von The Hill We Climb, dem Gedicht von Amanda Gorman, das sie zur Inauguration Joe Bidens vortrug. Nach Protesten trat eine weiße niederländische Übersetzerin von ihrem Auftrag zurück. Nach Fertigstellung seiner Übersetzung zogen die Aufraggeber den katalanischen Übersetzer Victor Orbiols ab. Er habe nicht das entsprechende Profil für diesen Text. Der wieder sagte der französischen Nachrichtenagentur Agence France-Presse: „Aber wenn ich eine Dichterin nicht übersetzen kann, weil sie eine Frau ist, jung, schwarz, eine Amerikanerin des 21. Jahrhunderts, kann ich auch Homer nicht übersetzen, weil ich kein Grieche des achten Jahrhunderts vor Christus bin.“ (ORF, 11.03.2021)
 – Oder eben kein Zeitgenosse Shakespeares, dessen Othello wir weiterhin in irgendeiner akzeptablen Weise wiedergeben sollten.

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