03/12/2021

Kolumne
Filmpalast – 25

TITANE
F/B 2021, 108 min

Regie: Julia Ducournau
Goldene Palme Cannes, 2021

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Filmkritik
von Wilhelm Hengstler

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03/12/2021

TITANE. F/B 2021, 108 min. Regie: Julia Ducournau. Bild: Screenshot Red. GAT, s. Link > uncut.at

©: uncut.at

TITANE. Filmplakat

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„Das Element Titan  hat die Ordnungszahl 22 und ist ein Standardmaterial in der Chirurgie… Die Titan-Oxidschicht ermöglicht das feste Anwachsen von Knochen an das Implantat.“

Julia Ducournau hat mit ihrem kontroversiellen Film TITANE 2021 die Goldene Palme in Cannes gewonnen: Alexia (!) ein vom Vater ungeliebtes Kind, verursacht einen Unfall, als dessen Folge ihm eine Titanplatte in den Schädel implantiert werden muss. Von nun an empfindet das Mädchen eine sexuelle Anziehung für Kraftfahrzeuge, eine Passion, die sie später als gefeierte GoGo-Tänzerin auf Autoshows auslebt. Verehrern, die ihr dabei zu nahe kommen, rammt sie eine überdimensionierte Haarnadel ins Ohr. Auch nachdem sie von einem Quickie mit ihrem Cadillac schwanger wird, hindert sie das nicht, an weiteren Morden; schlussendlich wird sie von der Polizei steckbrieflich gesucht. Auf der Flucht nimmt sie die Identität eines vor zehn Jahren verschwundenen Jungen namens Adrien an. Wie sie sich in einer öffentlichen Toilette für die neue Identität die Haare schneidet, Bauch und Brüste abbindet und ihre Nase am Waschbecken zerschlägt, ist selten masochistisch und mitleiderregend. Der Vater des verschwundenen Adrien, ein Feuerwehrkommandant namens Vincent, nimmt Alexia als wiedergefundenen Sohn auf. Vincent kämpft gegen sein Alter mit Testosteron und führt gleichzeitig ein diktatorisches Regime über seine Feuerwehrbrigade, was ihm das Unterbinden argwöhnischer Fragen erleichtert. Während Alexia hochschwanger wird und Motoröl aus ihren Brüsten und Narben quillt, wird sie in den Alltag der Feuerwehr eingebunden. Qualvolle, fruchtlose Abtreibungsversuche, Alexias früherer Sadismus wird zu einer Apotheose des Masochismus, sie kann ihre Rolle als Sohn kaum mehr aufrechterhalten. Nach einem Großbrand, bei dem Vincent am Rand der Flammen stürzt, tanzen die jungen Männer halbnackt in der Feuerwehrhalle, Alexia outet sich, indem sie auf dem Dach eines Einsatzfahrzeuges ekstatisch tanzt. Auch nach Alexias Outing hält Vincent an seiner unbedingten, väterlichen Liebe an Alexia fest und hilft ihr bei der Entbindung, die sie nicht überlebt. Nach ihrem Tod verlässt er das Zimmer mit einem neugeborenen Zwitterwesen aus Mensch und Maschine, dessen Rückgrat metallisch glänzt.

Zugegeben, die Inhaltsangabe macht nicht viel Lust, sich TITANE anzusehen. Aber Julia Ducournau inszeniert ihren zweiten Spielfilm mit derartiger Stilsicherheit und Kraft, dass selbst die kruden Details selbstverständlich erscheinen. Die perfekte, aber nicht zu perfekte Machart des Films, eine Art reiner Zeitgeist. machen den Zuseher trotz der moralischen Indifferenz süchtig.  

Archetypen und Ursprungserzählungen

Es gehört zu Julia Ducournaus Kreativität, dass sie die alten Themen und bekannten Formeln zu etwas ziemlich Neuem zusammensetzt: Body Horror, Rites of Passage, Geschlechteridentität, Gewalt, extremer Indiviualismus – in TITANE findet sich ein reiches Instrumentarium der Filmkritik, nur ist dem Film damit eben nicht völlig beizukommen. Julia Ducournau`s neue, überraschende  Arrangements alter Motive erinnern an Das Märchen in Goethes Aus den Erzählungen deutscher Ausgewanderter. Auch TITANE mit seinen wiederkehrenden Bildern oder Archetypen kann so gelesen werden und hat mit der Psychologie des Erzählkinos weniger gemein. Gleichzeitig verwendet die Regisseurin bewusst oder unbewusst Elemente der Kinogeschichte. Ihr erster Film Raw beginnt wie TITANE mit einem Unfall. Und ein Verkehrsunfall als Ursprungserzählung findet sich schon 1960 in Godard`s Weekend, das wie Raw auch von Kannibalismus handelt.  

Alexias Fans in der Autoausstellung zu Filmbeginn entsprechen am Ende die kraftstrotzenden Feuerwehrmänner, die sie auf einen Wagen heben: moderne Veranstaltungen, die an mittelalterliche, ja primitive vorzeitliche Männerriten erinnern, bei denen die vorsintflutlich wirkenden Karossen wie die Goldenen Kälber einer Männergesellschaft wirken. Die Geschichte  Alexias als Variante der La Belle Sans Merci, deren Mord(lust) im Verlauf ihrer Flucht  von immer schrecklicheren Schmerzen abgelöst wird,  ist aber auch eine Art moderner Heiligenlegende.  
Zu Beginn, wenn Alexia vor dem Unfall um die Aufmerksamkeit ihres Vaters kämpft, ist The Wayfaring Stranger zu hören – ein melodramatischer Song, in dem es um den Übergang von Leben zum Tod und die Begegnung mit Gott-Vater geht. Gegen Ende, wenn sich Alexia in Feuerwehruniform vor der Horde junger Männer outet, wird dieser Song wiederholt. Nach ihrer letzten Mordserie legt Alexia ein erstes Feuer; später, während ihrer Zeit in der Brigade werden die Feuer immer größer. Spricht man nicht von einem reinigenden Feuer? Bei einem schlechten Regisseur wäre das alles der Stoff für einen Exploitationfilm (1). Bei einem mittelmäßigen ragte der mahnende Zeigefinger unentwegt ins Bild. Julia Ducournau und ihre fulminante Hauptdarstellerin Agathe Roussel aber sagen in diesem Film über Verwandlung und absolute Liebe alles und lassen alles offen.

Stil und sozialer Seismograf

Mit der Goldenen Palme sind in Cannes immer wieder Filme ausgezeichnet worden, die nicht nur Kontroversen erregten, sondern auch seismografisch ihre Zeit ausdrückten und sich als stilbildend für die Zukunft erwiesen. Schon 1960 hat David Cronenberg in Cannes für  seinen thematisch ähnlichen Film Crash den Spezialpreis der Jury bekommen. In Scorseses Taxi Driver 1976 wird Robert De Niro als Vietnamveteran und durchgeknallter Gewalttäter zum Symbol für urbane Einsamkeit. In Wild at Heart von David Lynch verursachte ein Hund, der mit einer dringend benötigten Hand durchs Bild läuft, eine Debatte. Und 1994 erhält Tarantinos achronologisch-postmodern erzähltes Pulp Fiction über alltägliche und nicht so alltägliche Details aus dem Gangsterleben die Goldene Palme. Julia Ducournau`s TITANE gehört in diese Reihe.

(1) Exploitationfilm: engl. exploitation (Nutzbarmachung, Ausbeutung) – kategorisierende Bezeichnung für Filme, die reißerische Grundsituationen ausnutzen, um mittels der exploitativen Darstellung, vornehmlich von Sex und Gewalt, über die damit erreichten Schauwerte affektiv auf den Zuschauer zu wirken. (https://de.wikipedia.org/wiki/Exploitationfilm)

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