14/12/2021

Kolumne
Wolkenschaufler_53

Eine bittersüße Geschichte um Rohr und Rübe

Ausstellung
Zucker. Industrielles Erbe und Kolonialismus. Bis 29. Jänner 2022 bei Zentrum für zeitgenössische Kunst, Volksgartenstraße 6a,
8020 Graz

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Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

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14/12/2021

Ilona Németh in Zusammenarbeit mit Olja Triaška Stefanovič: Zuckerfabrik in Pohronský Ruskov, Slovakei, betrieben von 1893 bis 1992

©: Wenzel Mraček

Focus Grupa, „Vedute aus dem Palast der Pivilegierten Zuckerhandelsgesellschaft zu Triest und Fiume (Rijeka)“

©: Thomas Raggam

Resa Pernthaller, „Erbe zurück“

©: Thomas Raggam

Elisabeth Gschiel, „Zuckerrohr“

©: Elisabeth Gschiel

Für eine mit bildender Kunst befasste Institution mag die aktuelle Ausstellung im Kunstverein < rotor > nach Darstellung und Thema zunächst ungewöhnlich erscheinen. Zucker. Industrielles Erbe und Kolonialismus erweist sich allerdings gleichermaßen formal plausibel wie höchst spannend in der Vermittlung umfassenden Wissens um politische, industrie- und kulturgeschichtliche Umstände des uns so selbstverständlich erscheinenden Lebens- und Genussmittels.

Den Ausgang für das schließlich unter dem Titel Eastern Sugar im EU-Programm Creative Europe geförderte Projekt bildeten die Recherchen der slowakischen Künstlerin Ilona Németh zur Zuckerproduktion in der Slowakei. Einer Initiative der slowakischen Nationalgalerie und der Kunsthalle Bratislava schlossen sich europäische Partnerorganisationen in Bayern, Bourges, Budapest und Prag sowie < rotor > in Graz mit jeweils um regionale Umstände der Zuckerproduktion ergänzte Ausstellungen an.

Die Schau im < rotor > nun setzt ein mit Arbeiten der in Rijeka und Ljubljana ansässigen Fokus Grupa, die vom Palast der Pivilegierten Zuckerhandels-gesellschaft zu Triest und Fiume handeln. Auf Reproduktionen von Vedutenmalerei aus dem 18. Jahrhundert, die aus der früheren Zuckerfabrik in Rijeka stammen, ist etwa eine idealisierte Hafenanlage zu sehen. Am Heck eines an der Mole vertäuten Dreimasters dominiert eine österreichische Flagge, während auf dem Kai gefesselte Asiaten von Gendarmen bewacht werden. Offenbar handelt es sich hier um einen der seltenen Hinweise auf Sklavenarbeit in Verbindung mit der ältesten österreichisch-ungarischen Zuckerraffinerie, die 1750 von holländischen Kaufleuten gegründet worden war. Nachdem Österreich-Ungarn keine Kolonien besaß, wurden Zuckerrohr und Rohzucker aus London, Venedig und Marseille bezogen.

Gebrauch und Handel von zunächst Rohrzucker wurde seit dem 17. Jahrhundert durch den transatlantischen Dreieckshandel portugiesischer, französischer, niederländischer und englischer Kompanien befördert, die mit ihren Schiffen Sklaven (gegen Tuch, Waffen, Glas und Metall) von der afrikanischen Westküste nach Brasilien und in die Karibik verbrachten, um mit Baumwolle, Rum und Zuckerrohr in die europäischen Häfen zurückzukehren.
Nachdem erst zu Ende des 18. Jahrhunderts aus der Runkelrübe die Zuckerrübe gezüchtet werden konnte, entstand 1802 eine erste Zuckerrübenfabrik im unterschlesischen Cunern.
In der Ausstellung thematisiert der französische Künstler Ferenc Gróf den „Kampf“ zwischen Zuckerrohr und Zuckerrübe mit Bezug zur Sklavenwirtschaft. 1685 erließ Ludwig XIV. ein Dekret zum Umgang mit afrikanischen Sklaven. Dieser Code Noir blieb bis zur Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien 1848 aufrecht. Gróf überlagert eine Reproduktion der Verordnung mit Karikaturen von Honoré Daumier um die Ablöse des Rohr- durch Rübenzucker, die 1839 veröffentlicht worden waren. Schon zuvor führte die napoleonische Kontinentalsperre zur Verteuerung von Rohrzucker gegenüber dem aufkommenden Anbau von Zuckerrüben.

Mehrere Arbeiten in der Ausstellung sind mit der Zuckerproduktion in Österreich befasst. Isa Rosenberger gestaltete einen Videovortrag zur Geschichte der 1928 gegründeten Zuckerfabrik in Enns, die aus wirtschaftlichen Gründen 1988 geschlossen wurde und an deren Stelle sich heute das Kulturzentrum d’Zuckerfabrik befindet. Im selben Raum zeigt die Künstlerin Resa Pernthaller Korrespondenzen zur eigenen Familiengeschichte: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bestanden in der Steiermark zwei Sirupfabriken zur Verwertung von Zuckerrüben, die Firma Reininghaus in Graz und die des Großvaters Pernthaller im obersteirischen Fohnsdorf. Über historische Dokumente und Zeitungsartikel beschreibt die Künstlerin das Geschäftsmodell ihres Großvaters mit Aufrufen, Zuckerrüben an die Fohnsdorfer Fabrik zu liefern respektive gegen Zuckersirup einzutauschen: 100 kg Rüben gegen 15 kg Sirup. Die Syrupfabrik jedoch bestand nur wenige Jahre, weil die Zuckerfabrik in Enns inzwischen Verträge mit steirischen Rübenbauern abschloss, mit denen Pernthaller nicht mithalten konnte. Aus im Nachlass gefundenen Samen hat Resa Pernthaller Rüben gezogen und davon handkolorierte Fotografien angelegt.

In der Grazer Heinrichstraße, an der Ecke zur Liebiggasse, bestand von 1824 bis 1881 die K. K. privilegierte Grätzer Zuckerraffinerie. Auf historischen Blaupausen sind Pläne und Geschichte der zeitweise größten Zuckerraffinerie der Monarchie einzusehen, in der auch die erste Dampfmaschine der Steiermark betrieben wurde. Elisabeth Gschiel verwendet für ihre in den Konturen mit Maschine genähten Bildern von Zucker-Rübe und –Rohr Bilddträger, die ihre blaue Färbung, wie im Plan gegenüber, durch Eisenblaudruck-Verfahren erhalten.

Über Jahre war Ilona Németh zunächst mit Recherchen um die Geschichte der Zuckerfabrik in ihrem Wohnort Dunajská Streda befasst. Erbaut wurde das Werk in den 1960er Jahren, später privatisiert und im Zuge europäischer Kompensationsgeschäfte 1989 geschlossen und vollständig geschleift. Über großformatige Fotografien (von Olja Triaška Stefanovič), Videointerviews mit ehemaligen Direktoren und der Publikation Eastern Sugar erzählt Ilona Németh von Geschichte und Stilllegung zehn (!) weiterer Zuckerfabriken in der Slowakei.

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