07/11/2023

Georg Scherer hat mit wienschauen.at einen Blog, auf dem er Wiener Stadtgeschehen im Fokus von Altstadterhaltung, Architektur und öffentlichem Raum beobachtet und kritisch kommentiert. Einmal im Monat veröffentlicht er seit November 2023 auch auf gat.news, was überregional interessieren könnte.

07/11/2023

Die Argentinierstraße im 4. Wiener Gemeindebezirk wird umgestaltet.

©: Georg Scherer

Argentinierstraße: Schöne Häuser, weniger schöner öffentlicher Raum.

©: Georg Scherer

Argentinierstraße 3; Text: So soll die Argentinierstraße künftig aussehen. Visualisierung: ZOOMVP.AT

Die Gehsteige auf der Argentinierstraße bleiben auch künftig mehrheitlich asphaltiert.

©: Georg Scherer

Herengracht (Den Haag).

©: Georg Scherer

Aert van der Goesstraat (Den Haag).

©: Georg Scherer

Korte Jansstraat (Utrecht).

©: Georg Scherer

Die Wittevrouwenstraat (Utrecht) ist eine Radstraße.

©: Georg Scherer

Damrak nahe Beursplein in Amsterdam im Jahr 1970. Foto: G.L.W. Oppenheim, Stadsarchief Amsterdam

Damrak im Jahr 2016. Foto: Fred Romero, CC BY 2.0

Haben Sie sich schon einmal auf den Weg vom Wiener Hauptbahnhof ins Stadtzentrum gemacht? Wenn es zu Fuß oder per Rad gehen sollte, haben Sie vielleicht die Argentinierstraße genommen, die mit ihrer auffälligen Baumlosigkeit und auto- und asphaltlastigen Gestaltung geradezu typisch für Wien ist. Die Wienerinnen und Wiener hören es vielleicht nicht gerne, aber die meisten öffentlichen Räume in der Hauptstadt sind eigentlich ziemlich unattraktiv. Der ererbte Zustand vieler Straßen und Plätze bringt eine ganz Reihe von Schieflagen mit sich: die Benachteiligung des nichtmotorisierten Verkehrs, kränkelnde Erdgeschoßzonen, fehlende nichtkommerzielle Freiflächen, mangelnder Zugang zu Grünräumen. Ein ewiges Thema, das in Wien-typischer Manier nun zumindest ein bisschen gelöst wird. In einem artistischen Spagat zwischen dem Bau der schnellstraßenartigen „Stadtstraße“ einerseits und der Verkehrsberuhigung, Begrünung und Aufhübschung zentral gelegener Straßenzüge andererseits spiegelt sich die Grundsatzlosigkeit der Sozialdemokratie wider, wenn es um die Fragen von Verkehr und Urbanität geht: Allerlei Umgestaltungen, die bald mehr, bald weniger zukunftsträchtig sind. Studien, die zurückgehalten werden, weil sie die Option auf mehr Verkehrsberuhigung eröffnen. Halbgare Umbaumaßnahmen, die Asphaltlandschaften perpetuieren.

Eines kann der Stadtregierung aber nicht vorgehalten werden: dass man es nicht einmal probieren will. Im Rathaus scheint langsam die Erkenntnis durchzusickern, dass auch der öffentliche Raum unter den Aspekten von Gemeinwohl und gerechter Verteilung betrachtet werden kann. Probiert wird im größeren Maßstab beispielsweise im zwischen Gürtel, Schloss Belvedere und Naschmarkt liegenden 4. Bezirk, wo gleich zwei Straßen ein Redesign bekommen: Wiedner Hauptstraße und Argentinierstraße.

Graue Meile wird rot
Rund 1200 Kilometer sind Wien und Amsterdam voneinander entfernt. Für eine Probefahrt auf einer verkehrsplanerischen Abkürzung zwischen den ungleichen Städten darf ab Ende 2024 auf der Argentinierstraße in die Pedale getreten werden. Das Gaspedal wird künftig gegenüber Velo & co benachrangt, die lange vernachlässigte Verbindung wird einer Aktualisierung unterzogen. Nach jahrzehntelangem Pendeln in die autogerechte Stadt ist die Zeit für einen Ausgleich gekommen. Die Fakten sind schnell erklärt: Auf etwa 1,3 Kilometern verläuft die Argentinierstraße fast schnurgerade zwischen dem Gürtel und dem Karlsplatz, nur unterbrochen vom beschaulichen St.-Elisabeth-Platz. Wer sich aufs Rad schwingt und von den Investmentblöcken um den Hauptbahnhof zu Fischer von Erlachs Karlskirche radelt, findet seit den 1980ern einen Radweg, der den gestiegenen Anforderungen mittlerweile nicht mehr gerecht wird. Die Zweiräder rasen bisweilen nur so bergab, was wiederum Fußgängerinnen und Fußgängern übel aufstößt. Bei drei Spuren für den Kfz-Verkehr ist klar, wo die Reserven unverborgen liegen.

Kein Wunder, dass seit Jahren von den Grünen im Bezirk eine Änderung gefordert wird. Im April stellten Bezirksvorsteherin Lea Halbwidl und Planungsstadträtin Ulli Sima (beide SPÖ) einen Plan vor, der im Wesentlichen eine Radstraße samt begleitender Verkehrsberuhigung im Umfeld vorsieht. Anstatt baulich von der Fahrbahn getrennter Radwege soll der Radverkehr künftig im Mittelpunkt stehen. Obendrein gibt’s noch 60 neue Bäume und die obligatorischen Grüninseln, die aufwendiger Bewässerung sei Dank für künftige Pressefotos erblühen dürfen. Um die verkehrliche Besonderheit hervorzuheben, wird die Fahrbahn rot eingefärbt. Bekannt aus den Niederlanden, wo die Farbe dabei hilft, Radwege rasch zu finden bzw. als zufußgehende Person entsprechend achtzugeben. Drüben findet die rote Farbe ihre Entsprechung im Sichtmauerwerk der Gebäude, hüben könnte sich ein allzu harter Kontrast zum weißen Fassadenputz manifestieren. Ob für Wien ein dezentes „50er-Jahre-Grün“ besser passen würde?

Asphalt bleibt
Der versiegelungstechnisch effektive Asphalt erfreut sich in Wien seit Jahrzehnten großer Beliebtheit. Das hat die Stadtregierung dazu veranlasst, „raus aus dem Asphalt“ auf Baustellenplakate zu drucken, hinter denen mitunter erst recht wieder Asphalt zu liegen kommt. Ganz so genau nimmt man es dann doch nicht, aber die mediale Botschaft sitzt. Auch auf den Gehsteigen der Argentinierstraße darf der Asphalt zu einem großen Teil bleiben. Immerhin an einigen Stellen soll ein heller Pflasterbelag zum Einsatz kommen. Auch etliche Parkplätze – auf den Visualisierungen schön versteckt – bleiben bestehen.

Eine Argentijnse straat für Wien?
Die Argentinierstraße ist ein Prototyp für einen urbanen Import aus den Niederlanden. Ein Versuch, anderswo bereits funktionierende Konzepte in Wien zu implementieren. Die Chance für die Aufwertung des öffentlichen Raums ist jedenfalls gewaltig. Alleine die Entfernung von Parkplätzen schafft ein völlig anderes Straßenbild, etwa in der Herengracht in Den Haag.
Aus Ostösterreich kommend, sind Besuche in den Niederlanden mit einem freudigen und einem weinenden Auge verbunden. Ersteres, weil sich im öffentlichen Raum eine Planung manifestiert, die wirklich menschenfreundliche Orte schafft und auch mit Begrünung nicht geizt. Zum Weinen gereicht hingegen der direkte Vergleich mit Wenen. Eine hochwertige Straßengestaltung wie in den Den Haager Beispielen mit all ihren Miniaturarchitekturen ist in Oostenrijk kaum vorstellbar.

Utrecht, eine Stadt mit 367.000 Einwohnern, wurde von der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ zur „Welthauptstadt des Fahrrads“ gekürt. Jene auf den Fußgänger- und Radverkehr optimierten Straßen könnten 1:1 für Österreich adaptiert werden. Dabei fallen viele Details – bis hin zur Straßenbeleuchtung – auf, die den öffentlichen Raum in Utrecht freundlich und lebenswert machen.

Wird dem Individualverkehr seine dominierende Stellung genommen, erwächst daraus eine räumliche Freiheit, die zu spüren ist: Der Lärmpegel sinkt, das sichere Queren der Fahrbahn wird leichter, einschränkende Fußgängerampeln werden überflüssig. Die Erdgeschoßzonen können nur profitieren, wenn die Straße wieder lebendiger wird und die Menschen nicht die Flucht aus der Verkehrshölle antreten.

Rom wurde nicht an einem Tag erbaut und auch Amsterdam war keineswegs seit Menschengedenken die Fietsstadt von heute. Damrak, eine der zentralen Straßen, sah vor 53 Jahren noch klassisch motorisch aus. Die zwischen Zentralbahnhof und Hauptplatz – Dam – gelegene Straße wurde inzwischen im Sinne der vielfältigen Anforderungen an eine zentrale Straße ausdifferenziert und aufgemöbelt. Das zeigt: Veränderung ist möglich.

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+