27/02/2024

Der Ansturm war so groß, dass der IG Architektur die Sessel ausgingen, obwohl man schon alle Bürostühle dazu geholt hatte. Anfang Februar lud dort die Bürger*inneninitiative „Freiraum Naschmarkt“ zu einer Podiumsdiskussion über die Juryentscheidung zu dessen Neugestaltung ein. Architekturschaffende, Anrainer*innen, Marktstander*innen, betroffene Wiener*innen: der Naschmarkt ist allen wichtig, das Interesse war groß, die Wogen gingen von Anfang an hoch.

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Heute, am 27.2.2024, geht die Diskussion um Naschmarkt und andere Wiener Märkte in eine weitere Runde: ÖGFA und IG Architektur laden um 19 Uhr zum Gespräch in die Gumpendorfer Straße 63b, 1060 Wien, ein.

27/02/2024

Markthalle mit Dachgarten und anschließendem Marktgreissler als Entrée zwischen Naschmarktende und Marktamt an die Kettenbrücke. mostlikely mit D\D Landschaftsplanung (Rendering, Wettbewerb)

©: mostlikely

Derzeit hoch im Kurs: Maßnahmen gegen die Überhitzung. mostlikely mit D\D Landschaftsplanung (Rendering, Wettbewerb)

©: mostlikely

Siegreiche Halle

Gewonnen hatte ausgerechnet ein Projekt der Architekten mostlikely und D/D Landschaftsarchitektur, das eine Markthalle mit Dachgarten und anschließendem Marktgreissler als Entrée zwischen Naschmarktende und Marktamt an die Kettenbrücke setzte. Ansonsten: mehr als die Hälfte der bisherigen Parkplatzfläche entsiegelt, neue Bäume, viel Grün, Wasserspiele. Eh klar – Stichwort: Hitzeinsel. Zentrum des neuen „Marktraumes“ soll eine lange Tafel für Genuss und Gemeinschaft sein, auch eine offene Schauküche und eine Bar soll es geben. Bei Bürgerinitiative und Anrainerschaft schrillen die Alarmglocken: Noch mehr Gastronomie? Wer wird sich die neuen Indoor-Stände in der Markthalle leisten können und wie sieht es mit der öffentlichen Durchgängigkeit des Naschmarktes aus? Leicht und transparent sind weder das begrünte Dach noch die grüne Stützenkonstruktion mit den öffenbaren Glastüren. Das Volumen dieser Halle wird immer sicht- und spürbar bleiben, ihre Höhe überragt die der Erdgeschosse der Wagner-Häuser deutlich. Außerdem steht sie der für das Stadtklima sehr wichtigen Frischluftschneise entlang des Wienflusses im wahrsten Wortsinn in der Quere.

Stadträtin Ulli Sima und Bezirksvorsteher Markus Rumelhart hatten sich ursprünglich eine Markthalle gewünscht. Eine Bürgerinitiative formierte sich, fast 21.000 Menschen unterstützen 2021 deren Petition „Park statt Halle“. So viel Widerstand lässt sich nicht einfach ignorieren, die Stadt startete eine Bürgerbefragung, erstellte einen Masterplan und schrieb auf dieser Basis den offenen, EU-weiten Wettbewerb „Zwischen den Wienzeilen“ aus. Und nun war sie erst recht wieder da: die Markthalle von mostlikely Architekten im Grünraum von D/D Landschaftsarchitektur. Der Diskussionsbedarf war also hoch.

Sinnvolle Alternativen

Umso mehr, als das zweitplatzierte Projekt vom Team Vlay-Streeruwitz und Carla Lo Landschaftsarchitektur im Prinzip nur fünf sehr ephemere neue Standplätze mit Schatten spendenden Flugdächern in Verlängerung des bestehenden Naschmarktes vorsieht. Diese folgen der Maßstäblichkeit des Bestandes, setzen dessen Hauptweg fort, temporäre Sonnensegel, die sich dazwischen aufspannen lassen, führen auch diese traditionelle Struktur weiter. Die angrenzende Parkfläche wird zum Grünraum, der mit Bauminseln, Wiesen und Wasserspielen sehr nutzungsoffen formuliert ist. Auch die drittplatzierten l’AUC architectes et urbanistes mit dem Studio Patrick Pregesbauer und dem Studio Mathieu Lucas formulieren ihr Entrée mit zwei langen, überdachten Pavillons, deren Formensprache sich am Bestand orientiert. Auch sie setzen die Reihen der bestehenden Marktstände fort. Dieses Team hatte den Wienfluss großräumig von Hütteldorf bis zum Nußdorfer Wehr untersucht und führte die axiale mittlere Wegachse des Naschmarkts bis hin zum dritten Planungsabschnitt befestigt fort: Was auf den ersten Blick am wenigsten grün wirkt und im Vergleich zu den anderen Projekten auch ist, erwies sich in der anschließenden Diskussion als höchst pragmatisch.

Rege Diskussion

Der Wiener Naschmarkt ist schon lange kein richtiger Markt mehr, die Stände, an denen Wiener und Wienerinnen gern einkaufen gehen, lassen sich an einer Hand abzählen. Längst haben Lokale, Restaurants, Cafés und Touristenschwärme den Markt erobert, der sich zwischen rechter und linker Wienzeile entlangzieht. Auf letzterer gibt es so gut wie ausschließlich Gastronomie, die einheimische Anrainer- und Nachbarschaft nutzt vor allem den Bauernmarkt. Für den Betrieb eines Marktes aber ist ausreichend Anlieferungsfläche überlebenswichtig. Die Covid-Pandemie hat die Zahl der Flohmarktstände ohnehin schon gravierend reduziert, einer der dortigen Standler merkte trocken an, dass er schon jetzt eine dreiviertel Stunde nach einem Parkplatz suchen müsse. Bräuchte er dafür noch länger, käme er einfach nicht. Es fehlte nämlich einfach ein Verkehrskonzept.

Verdienstvollerweise stellten sich auch Architekt Ernst Beneder und Landschaftsarchitektin Maria Auböck, die beiden von der Bundeskammer der Ziviltechniker:innen nominierten Hauptpreisrichter der Diskussion. Sehr interessant waren in diesem Zusammenhang zwei Nebenbemerkungen von Ernst Beneder: Erstens, die Innere Stadt litte schon sehr an Overtourism, Lokale am Naschmarkt könnten hier durchaus Entlastung für den ersten Bezirk bringen. Zweitens: Höherrangige Beamte der Stadt mit einem abgeschlossenen Architekturstudium oder ähnlich einschlägiger Ausbildung können als Fachpreisrichter*innen eingesetzt werden.

Insgesamt bemühten sich Beneder und Auböck um Schadensbegrenzung im Sinne der Zweifel am Verfahren. Das Gerücht, der erst- und drittplatzierte wären bei Stimmengleichheit unterschiedlich gereiht worden, konnte entkräftet werden – es gab eine Rückholung und nochmalige Abstimmung, die mit 8:3 Stimmen zugunsten des ersten ausging. Vor allem und außerdem: Das Preisgericht hätte dem Siegerprojekt so viele Auflagen und Überarbeitungswünsche bei der Umsetzung auferlegt – beispielsweise eine starke Redimensionierung der Halle – dass ohnehin noch alles offen sei und die Karten neu gemischt würden. Man hoffe auf weitere Kooperation der Bürger*inneninitiative. Kommentar aus dem Publikum: „Warum wählen Sie eigentlich ein Flugzeug, wenn Sie ein Schiff wollen?“

Dieses Beispiel kann symptomatisch für den Umgang der Stadt mit ihrer Geschichte, ihrem Erbe und ihrer Zukunft gelesen werden. Seit Otto Wagner und der Ringstraße gibt es in Wien keinen wirklich maßgeblichen Städtebau mehr. Man hantelt sich von Einzelfall zu Einzelfall, lässt sich vom Zeitgeist lenken und setzt auf leichte Vermittelbarkeit. Derzeit hoch im Kurs: Maßnahmen gegen die Überhitzung. Renderings mit dekorativer Begrünung, glücklichen Menschen mit und ohne Wasserspiele fluten die Stadt und versprechen eine rasche, effektive Lösung. Es gibt sie inzwischen am Meiselmarkt – der im Übrigen vor Jahrzehnten unter die Erde versenkt wurde - am Praterstern, demnächst auf dem Michaelerplatz und an vielen weiteren. Die Überhitzung des Naschmarkts zu verhindern, indem man eine wichtige Frischluftschneise kappt, scheint jedenfalls keine gute Idee.  Auch die Markthalle ist hochgradig fragwürdig. Beim Umbau und der Belebung dieses Bautyps bewies die Stadt bisher keine glückliche Hand: Die wunderschöne Nußdorfer Markthalle wurde im Wesentlichen zur Spar-Filiale mit ein paar Lokalen, die schlecht funktionieren, der sehr beliebte Markt bei der U-Bahn-Station-Landstraße ist heute eine Mall, viele Wiener Märkte kämpfen um ihre Existenz. Doch: zivilgesellschaftliches Engagement hat in Wien keine große Tradition. Insofern ist die Bürger*inneninitiative „Freiraum Naschmarkt“ und der Naschmarkt ein echter Lichtblick. Sie hat noch einiges zu tun.

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