04/08/2022

Ohne architektonische Allgemeinbildung gibt es keinen gesellschaftsbildenden Architekturdiskurs

Dieser Text ist ausgewählt aus dem Architekturmagazin LAMA #3/9 und ist Teil der Kooperation zwischen LAMA und gat.st.

Der Kunsthistoriker Christian Nille führt aus, warum sich fehlende architektonische Ausbildung in Schulen auf den gesellschaftsbildenden Architekturdiskurs auswirkt und mit welchen Modellen Abhilfe geschaffen werden könnte. Nille verbindet die Architektur mit klassischen Schulfächern wie Sozialkunde, Geografie und Wirtschaftskunde. Zudem macht er den Vorschlag, auch die Eltern mit dem Thema Lebensraum und Architektur anzusprechen.

Christian Nille (1982*) studierte Kunstgeschichte, Kunstpädagogik und Kunst an den Universitäten Greifswald, Amiens und Mainz. In Mainz promovierte er mit einer Arbeit zur Theorie und Geschichte der Kunstwissenschaft. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Architekturgeschichte, die Raumtheorien sowie die Verbindung von Architek

04/08/2022

Abb. 1 | Grundriss der Kathedrale von Reims ohne Einbauten | Grafik © Pfeuffer 2017 vergleichend mit
Abb. 2 | Grundriss der Kathedrale von Reims mit Einbauten | Grafik © Demouy 2001

Abb. 3 | Welche Fächer sind aus Ihrer Sicht wichtig für die Zukunft Ihres Kindes? | © Statista 2018

Abb. 4 | Welche Fächer sind aus Ihrer Sicht verzichtbar? | © Statista 2018

In der folgenden LAMAlyse wird die titelgebende These vertreten, dass eine architektonische Allgemeinbildung eine notwendige, wenngleich keine hinreichende, Bedingung für einen gesellschaftsbildenden Architekturdiskurs ist, d. h. ohne architektonische Allgemeinbildung gibt es keinen gesellschaftsbildenden Architekturdiskurs. Eine solche Allgemeinbildung müsste durch die Schulen, die für die allgemeine Bildung einer Gesellschaft – in den dort als relevant betrachteten Bereichen – verantwortlich sind, etabliert werden. (1) Dies geschieht jedoch bisher nicht in ausreichendem Maße, sodass mit dem vorliegenden Text auch dazu aufgefordert werden soll, sich zu engagieren. Der Beitrag benennt das Problem allgemein und verdeutlicht es anhand von ausgewählten Beispielen, um von dort aus Lösungen zu skizzieren.

Begriffsklärungen und Zusammenhänge

Unter einem gesellschaftsbildenden Architekturdiskurs lässt sich eine bewusste, (in erster Linie) sprachliche Auseinandersetzung mit der Architektur verstehen, die die (möglichst ganze) Gesellschaft bildet, d. h. Anteil an ihrer Konstitution und Entwicklung hat, indem sie von dieser geführt wird und diese betrifft. Diese Definition verschiebt den Fokus von den Architekt*innen, deren Arbeit der Gegenstand der Architekturdiskurse ist und die gleichsam Expert*innen in ihrem Gebiet sind, auf die breite Gesellschaft, also vom Expert*innendiskurs zum allgemeinen, gesellschaftsbildenden Architekturdiskurs. Damit die breite Gesellschaft einen solche Diskurs führen kann, bedarf sie der architektonischen Allgemeinbildung, d. h. einer Bildung in Bezug auf die Architektur und deren Zusammenhang mit der Gesellschaft, die im Niveau unter jener der Architekt*innen und über jener, die durch den alltäglichen, unvermeidbaren Umgang mit der Architektur automatisch erworben wird, angesiedelt ist – wobei gilt: Je höher das architektonische Allgemeinbildungsniveau, desto niveauvoller kann der gesellschaftsbildende Architekturdiskurs sein. In unserer Gesellschaft gibt es eine Institution, die für die Etablierung von Allgemeinbildung unterschiedlicher Natur und damit auch von architektonischer Allgemeinbildung verantwortlich ist: die Schule. Da eine Schulpflicht besteht, wird die Gesellschaft in voller Breite durch das dort vermittelte Wissen und Können geprägt. Insofern es um die Ausprägung eines diskursiven Vermögens geht, das bei den Schüler*innen einen sicheren Umgang mit der Sprache und reflexive Fähigkeiten voraussetzt, interessieren v. a. die weiterführenden Schulen ab der Sekundarstufe 1.
Es gilt daher folgende Frage zu klären: Wird in der Schule die für einen gesellschaftsbildenden Architekturdiskurs notwendige architektonische Allgemeinbildung vermittelt? Einige Indizien, die darauf hindeuten, dass dem nicht so ist und somit ein Problem besteht, werden im Folgenden als offene Reihe vorgestellt. Auf die Herausstellung der Probleme folgen jeweils Lösungsvorschläge.

(a) Geringe Unterrichtszeit

Schaut man zunächst, wo Architektur in der Schule behandelt wird, so stellt man fest, dass sie kein eigenständiges Unterrichtsfach ist, sondern vor allem im Fach bildnerische Erziehung (neben den Gattungen Malerei, Zeichnung, Plastik und Film) mitbehandelt wird, das selbst nur zweistündig, mitunter sogar nur epochal unterrichtet wird. Dabei steht die künstlerische Praxis im Vordergrund, nicht so sehr die theoretische Bilderschließung, die in erster Linie für eine Diskurskompetenz im Sinne einer architektonischen Allgemeinbildung verantwortlich ist. (2) Somit besteht das Problem, dass der bildnerischen Erziehung insgesamt und für die architektonische Allgemeinbildung im Besonderen nur wenig Unterrichtszeit zur Verfügung steht.
(3) Die Lösung bestünde dementsprechend in mehr Unterrichtszeit, wobei die Realisierung dieser Forderung in weiter Ferne liegen dürfte, da dem Fach wohl eher Streichungen als Erweiterungen bevorstehen (vgl. (e)). Hier kann also in einer realistischen Perspektive wenig getan werden, außer auf einen möglichst qualitätsvollen Unterricht hinzuwirken (vgl. (d) und (f)).

(b) Architektur und Gesellschaft

Insofern nach einem gesellschaftsbildenden Architekturdiskurs gefragt wird, könnte man annehmen, dass die Architektur auch in Fächern wie der Sozialkunde auftauchen müsste. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenngleich dort zumindest stichwortartig „Lebensräume“ als Thema genannt werden. (4) In Geografie und Wirtschaftskunde werden „Raumkonstruktion und Raumkonzepte“ ausführlich besprochen, ohne dabei jedoch die Architektur zu erwähnen. (5)
Die Architektur müsste somit in diese die Gesellschaft thematisierenden Fächer integriert werden. Über das Thema Raum sind hierfür konkrete Anknüpfungsmöglichkeiten vorhanden.

(c) Vermittlungsschwierigkeiten

Eine Schwierigkeit, die bei der theoretischen Auseinandersetzung mit Architektur immer vorhanden ist, besteht darin, dass sie aus der Distanz über Reproduktionen – man denke etwa an Bilder in Publikationen – schwierig zu vermitteln ist. Viel stärker als dies etwa bei Tafelbildern der Fall ist, lebt die Erschließung der Architektur von der direkten Begegnung und Begehung vor Ort. „Architektur wird durchwandert, durchschritten“, heißt es bei Le Corbusier. (6) Dies betrifft den Schulunterricht und dabei besonders die Klausuren oder Abschlussprüfungen (Matura, Abitur), die im Klassenzimmer geschrieben werden müssen.
Bei architekturhistorischen Auseinandersetzungen trifft man auf ein ähnliches Problem. Denn oft werden Architekturen ohne Ausstattung und somit ohne genauere Nutzungsvorgaben gezeigt. Dies ist etwa in einem aktuellen Vorbereitungsbuch auf das Abitur bei der Kathedrale von Reims (ab 1211) der Fall, von der alleine ein puristischer Grundriss gezeigt wird (Abb. 1). Auch im Text wird suggeriert, dass man sich frei durch die Kirche bewegen konnte. (7) Der Vergleich mit einem historischen Grundriss zeigt, dass dem jedoch nicht so war, da der bis ins Langhaus reichende liturgische Chor einen durch einen Lettner vom Langhaus abgetrennten Bereich bildete (Abb. 2). (8) Gerade die konkrete Nutzung eines Bauwerks ist für die Gesellschaft und damit auch den gesellschaftsbildenden Architekturdiskurs relevant, da hierdurch gesellschaftliche Strukturen geschaffen werden – hier etwa: Wer darf welche Bereiche betreten und wer nicht?
Im Zuge einer Lösung ist zunächst für eine Sensibilisierung für das Problem, das heißt für Bewusstwerdung der medialen Spezifika der Architektur (und der anderen Kunstgattungen) zu sorgen. (9) Ferner sollte eine Vermehrung der Exkursionen sowie eine historisch sensible Rückversicherung in Bezug auf Einbauten und Nutzung von Bauten angestrebt werden. Schließlich sind Reproduktionsformen für den Schulunterricht fruchtbar zu machen, die der Architektur gerechter werden, wie etwa dreidimensionale Modelle. (10)

(d) Niveau des Inhalts

Das nächste Problem besteht darin, dass die Architekturanalysen in Schulbüchern teilweise von niedrigem Niveau sind, sodass in diesen Fällen weniger eine architektonische Allgemeinbildung etabliert, sondern eher Verwirrung gestiftet wird. Es wird dann z. B. zwischen gegenwärtiger und historischer Wahrnehmung unvermittelt hin und her gesprungen oder es werden nur einzelne Teile des Gebäudes beschrieben, ohne diese Auswahl zu begründen. (11) Weiterhin wird ohne Erklärung eklektisch auf Interpretamente der Forschung zurückgegriffen. (12) Solchen Darstellungen können die Schüler*innen nicht folgen und dadurch keine architektonische Allgemeinbildung erlangen. Vielmehr werden sie von der Auseinandersetzung mit der Architektur abgeschreckt.
Es muss also auf das Niveau von Schulbüchern und weiteren Unterrichtsmaterialien geachtet werden. Diese Aufgabe kommt den Expert*innen und damit auch den Architekt*innen zu.

(e) Geringe gesellschaftliche Anerkennung des Fachs

Um gesellschaftsbildend zu wirken, muss der architektonischen Allgemeinbildung ein gewisser Wert zugesprochen werden. Betrachtet man zwei Statistiken, ergibt sich diesbezüglich jedoch ein trübes Bild. Bei der Frage „Welche Fächer sind aus Ihrer Sicht wichtig für die Zukunft Ihres Kindes?“ taucht die bildnerische Erziehung und damit die Auseinandersetzung mit der Architektur überhaupt nicht auf (Abb. 3). Dies wird auch in umgekehrter Weise bestätigt, wenn nach den verzichtbaren Fächern gefragt wird (Abb. 4). Hier rangiert die bildnerische Erziehung nach der Religion auf Rang zwei. Somit besteht das Problem, dass die bildnerische Erziehung und damit die architektonische Allgemeinbildung als weitgehend verzichtbar angesehen werden.
Hier muss dringend für die Relevanz der Architektur und der Beschäftigung mit dieser geworben werden – die Gründe sind schlagend. Die Zielgruppe hierfür sind neben den Schüler*innen auch deren Eltern.

(f) Hochschule

Schließlich lohnt ein Blick auf die Hochschulen und die dortige Lehrer*innen-Ausbildung. Denn die an Schulen Lehrenden können nur das vermitteln, was sie selbst gelernt haben. Zwar unterscheiden sich die einzelnen Hochschulen stark in ihren Profilen voneinander, doch wird man insgesamt feststellen können, dass während des Lehramtsstudiums nur sehr wenige Veranstaltungen zur Architektur besucht werden müssen. (13) Zudem arbeiten die angehenden Lehrer*innen künstlerisch nicht im Bereich der Architektur, sondern in anderen Gattungen, wie Malerei, Grafik, Plastik, Film usw.
Wie schon bei der Schule (vgl. (a)) werden sich die Unterrichtsstunden auch hier nicht so einfach erhöhen lassen. Auch hier muss damit bei der Qualität angesetzt werden, um die fehlende Quantität bestmöglich auszugleichen. Weiterhin wäre ein stärkerer Kontakt der Studierenden mit der Kunstgattung Architektur herzustellen – z. B. durch gemeinsame Projekte mit Architekt*innen.

Zum Schluss

Zu vielen der soeben aufgezeigten Probleme finden sich bereits erste und qualitätvolle Lösungsvorschläge, sowohl in der Theorie als auch in Form kleinerer Projekte. (14) Nun gilt es, diese Ansätze aufzugreifen und fortzusetzen, wobei jede*r, die/der an einer architektonischen Allgemeinbildung interessiert ist, etwas beisteuern kann. So sollen die angesprochenen Punkte auch dazu dienen, dass jede*r eine Möglichkeit findet, sich zu engagieren. Nur auf diese Weise kann es zu einem gesellschaftsbildenden Architekturdiskurs kommen.

_______ Quellen ______
(1) In diesem Text werden die unterschiedlichen Schulformen in den unterschiedlichen Ländern nicht weiter differenziert, was in einer ausführlicheren Analyse zu leisten wäre. Der Fokus wird auf österreichische und deutsche Schulen gelegt.
(2) Die hier summarisch zusammengefassten Informationen ließen sich noch viel weiter differenzieren. Vgl. hierzu für Österreich z.B. die Gesamte Rechtsvorschrift für Lehrpläne – allgemeinbildende höhere Schulen, online unter: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gese…
(3) Vgl. Albrecht, Anna Elisabeth/Albrecht, Stephan: „Bildkompetenz im Klassenzimmer. Welchen Beitrag kann die Kunstgeschichte leisten?“, in: Hlukhovych, Adrianna (Hg.) u. a.: Kultur und kulturelle Bildung. Interdisziplinäre Verortungen – Lehrerinnen- und Lehrerbildung – Perspektiven für die Schule, Bamberg 2018, 313–329, hier 325.
(4) Vgl. Gesamte Rechtsvorschrift für Lehrpläne – allgemeinbildende höhere Schulen (wie Anm. 2), 438.
(5) Vgl. ebd., 159–161 und 527–529.
(6) Le Corbusier: An die Studenten. Die ‚Charte d’Athènes‘, Hamburg 1962, 29.
(7) Pfeuffer, Barbara: Abitur-Wissen Kunst. Werkerschließung, München 2017, 212.
(8) Vgl. Demouy, Patrick: Reims. Die Kathedrale, Regensburg 2001, v. a. 48–104.
(9) Vgl. etwa Kemp, Wolfgang: Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln, München 2009.
(10) Vgl. allgemein etwa Messemer, Heike: Digitale 3D-Modelle historischer Architektur. Entwicklung, Potentiale und Analyse eines neuen Bildmediums aus kunsthistorischer Perspektive, Heidelberg 2019. In Bezug auf die Schule vgl. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (Hg.): Architektur unterrichten. Themenheft mit didaktisch-methodischen Hinweisen, München 2019, 8–16.
(11) Vgl. Pfeuffer 2017 (wie Anm. 7), 210f.
(12) Vgl. ebd., 214–216.
(13) Vgl. etwa Curriculum für das Bachelorstudium Lehramt Sekundarstufe (Allgemeinbildung), online unter: https://www.uibk.ac.at/fakultaeten-servicestelle/pruefungsreferate/gesam..., 61.
(14) Vgl. neben den bereits genannten Arbeiten etwa Gaus-Hegner, Elisabeth (Hg.) u. a.: Raum erfahren – Raum gestalten. Architektur mit Kindern und Jugendlichen, Oberhausen 2009; Architektenkammer Thüringen (Hg.): Architektur – ein idealer Lernstoff. Modulkatalog. Handreichung für Pädagoginnen und Pädagogen, Erfurt 2015; https://www.architektur-macht-schule.de/

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