23/04/2024

Die Frage nach der Lokalisierung von Engeln beschäftige im Mittelalter tatsächlich die Wissenschaft noch lange vor den Erkenntnissen der Quantentheorie und der Heisenbergschen Unschärferelation, dafür aber unter Einfluss eines (neu) aufkeimenden Aristotelismus, der in Form empirischer Naturwissenschaft die christlichen Dogmen und das Verständnis kirchlicher Autoritäten gehörig aufwühlte.  

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

23/04/2024

you were really beautiful, thank you

©: Severin Hirsch

Wieviel Engel sitzen können

auf der Spitze einer Nadel –

wolle dem dein Denken gönnen,

Leser sonder Furcht und Tadel!

„Alle!“ wird’s dein Hirn durchblitzen.

„Denn die Engel sind doch Geister!

Und ein ob auch noch so feister

Geist bedarf schier nichts zum Sitzen.“

Ich hingegen stell den Satz auf:

Keiner! – Denn die nie Erspähten

können einzig nehmen Platz auf

geistlichen Lokalitäten.

(Christian Morgenstern, Scholastikerprobleme)

 

Seit langer Zeit hält sich die Mär, oder vielleicht ist es mehr, dass Gelehrte des Mittelalters wissenschaftliche Diskurse und Debatten darüber führten, wie viele Engel wohl auf der Spitze einer Nadel (oder eines Rosendorns) Platz fänden. Belege dafür lassen sich in keinen theologisch-philosophischen – und das bedeutete damals streng wissenschaftlichen – Schriften und Abhandlungen finden, was selbstverständlich nicht ausschließt, dass darüber nicht mündlich und lebhaft debattiert wurde und auch die Überlieferung der Diskussionen auf rein oralem Weg erfolgte. Vielleicht wollte man sich aber auch mit der Arroganz moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methodik im Rücken über die Beweisführung und das Argumentationsverfahren mittelalterlicher Wissenschaften lustig machen. Denn zumindest über die Frage, ob und wie viele Engel sich zugleich an einem Ort befinden können, wurde diskutiert. Auch die Aussage, dass tausend Seelen im Himmel auf einer Nadelspitze Platz finden, ist im anonymen mystischen Traktat Schwester Katrei aus dem Jahr 1320, das mitunter fälschlicherweise (?) dem deutschen Mystiker, Theologen und Philosophen Meister Eckhart zugeschrieben wurde, belegt.

Das Mittelalter wird in der Geschichte oft als finstere, düstere Zeit dargestellt, das aus der Blüte der Antike, dem Blühen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Errungenschaften keinen Profit schlagen konnte und das geistig-kulturelle Leben unter dem drohenden Finger göttlicher Gewaltherrschaft in den Untergang riss. Das Wissen, die Wissenschaften wurden zugunsten einer allumfassenden, übergeordneten Göttlichkeit instrumentalisiert, aber hinsichtlich einer Instrumentalisierung zugunsten militärischer Vorteile in der Rüstung und Kriegsführung und einer Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche wirkte sich das gesellschafts- und geopolitisch bescheiden aus. Bereits im 9. Jahrhundert ebnete Johannes Scotus Eriugena einer wissenschaftlich-philosophisch-theologischen Epoche den Weg, die in den darauffolgenden Jahrhunderten unter dem Namen „Scholastik“ die Wissenschaften des Mittelalters prägte und dem neuzeitlichen Denken Tür und Tor öffnete. Ihm zufolge habe sich das Wissen am Glauben an die Offenbarung auszurichten und der Vernunft obliegt die Aufgabe, den Sinn der Offenbarung darzulegen. Der Autorität der Kirchenväter ist dabei Folge zu leisten, sofern sie nicht im Widerspruch zur Vernunft und demgemäß der Offenbarung selbst steht. Die Vernunft hat Vorrang vor der Autorität, auch wenn sie niemals siegen darf, ist sie durch ihre Teilhabe am Göttlichen Garant für permanente (Selbst-) Überprüfung und (Selbst-) Reflexion im Sinne der Offenbarung. Dieses Aufflackern von Rationalismus, das den Primat der Vernunft einräumte, feite auch geistliche, geistige Autoritäten nicht davor, der Häresie bezichtigt zu werden. Der intellektuelle Spielraum war minimal, überall lauerte die Überwachung des verbreiteten (göttlichen) Wortes. Das Wissen musste daher sowohl den Vernunftkriterien als auch der Offenbarungsauslegung entsprechen und einer doppelten Überprüfung standhalten. Kaum vorstellbar, dass geistige Autoritäten ihre Arbeiten heutzutage neben wissenschaftlicher Kontingenz und Beweisbarkeit auch noch einer Überprüfung nach Vernunftkriterien und hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz unterzögen. Ganz zu schweigen von geistlichen und politischen Autoritäten. Bei denen fehlt zudem noch das Kriterium wissenschaftlicher Überprüfbarkeit. Ausnahmen bestätigen die Regel. In der Regel werden wir von inkompetenten Menschen regiert, deren einzige Kompetenz im skrupellosen Machtmissbrauch liegt. Diejenigen, die es nicht tun, müssen es erst lernen. Das wird dann Kompetenzerweiterung und Lernfähigkeit genannt.

Die Blütezeit erlebte die Scholastik im 12. und 13. Jahrhundert, begünstigt durch die Gründung der ersten Universitäten im modernen Sinne in Bologna 1088, Oxford 1096 und Paris 1150, in denen ein Studium generale vermittelt wurde, bestehend aus den „Sieben Freien Künsten“ der Antike (zusammengesetzt aus dem Trivium Grammatik, Rhetorik, Dialektik/Logik und dem Quadrivium Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie), die durch Medizin, Theologie und Jurisprudenz ergänzt wurden. Die Gesamtheit (universitas) der Wissenschaften in ihrer Vermittlung als Gesamtheit wurde zur Namensgeberin der Universität. Auch wenn die Universalien als Allgemeinbegriffe etymologisch dieselben Wurzeln haben und der Universalienstreit von denselben Protagonisten geführt wurde, die die Hochscholastik und somit auch den universitären Diskurs prägten, kann hier nicht näher darauf eingegangen werden.

Wie bei der Frage nach der Anzahl der Engel auf der Nadelspitze ist es bisher jedoch noch zu keiner einvernehmlichen Lösung gekommen. Doch zurück zu den Engeln, die durch ihre Wirkungsweisen ihre Präsenz an einem Ort beweisen.

Durch die arabische und jüdische Philosophie gelangten über Spanien die verloren geglaubten Schriften Aristoteles aus der zerstörten Bibliothek von Alexandria in Übersetzungen nach über tausend Jahren zurück in den europäischen Kulturraum. Nach der langen Vorherrschaft des für den christlichen Glauben gut interpretierbaren Platonismus bekamen die Wissenschaften dadurch einen Stoß in Richtung Empirie, die Naturwissenschaften erhielten Nährstoff und einen vorerst zaghaften Aufschwung, der 1277 in der Verurteilung zahlreicher radikaler wie auch gemäßigter Aristoteliker durch den Pariser Bischof Étienne Tempier kulminierte. Darunter auch der drei Jahre zuvor verstorbene Thomas von Aquin, der sich neben Bonaventura in gemäßigtem Aristotelismus dem Ortspräsenzproblem der Engel widmete. Erst Johannes Duns Scotus schafft in einer 150-seitigen Abhandlung durch Modifikationen der aristotelischen Physik des Ortes und der Kategorien Substanz/Akzidens den geistlichen Autoritäten durch einen geistigen Spagat in Fragen Engelslokalisierung Genüge zu leisten. Der Aristotelismus und damit die empirischen Naturwissenschaften hatten jedoch dank der arabischen und jüdischen Philosophie und sehr zum Unmut der Kirchenväter längst den Einzug in die Wissenschaft gehalten.

Im engen Korsett der Theologie gelang es der Wissenschaft und scholastischen Philosophie sukzessive und subversiv – ähnlich der staatskritischen postrevolutionären russischen Literaturszene – den Himmel zu erobern und Dogmen aufzubrechen – allen voran der Meister des Rassiermessers Wilhelm von Ockham, der sich daran machte, Gott seines Bartes zu entledigen und den neuzeitlichen Wissenschaften den Weg bereitete.

In jedem noch so düsteren, dunklen Milieu liegen Samen für Verbesserungen. Es braucht viel Mut, Einfallsreichtum, kreative Methoden und das aufklärende Licht des individuellen Idealismus, um sie auch aufgehen zu lassen. Wir können Wissenschaft betreiben und uns hinter Fragen wie nach der Zahl möglicher Engel auf der Nadelspitze verbarrikadieren, oder diese Fragen nutzen, um subtil vorherrschende Macht- und Autoritätssysteme zu untergraben. Wir können die Nadel auch selbst in die Hand nehmen, ohne auf die Engel zu warten, und kleine Nadelstiche setzen, strategische Akupunkturen, Vernunft einfordern, wo die Autorität alleine schon lange nicht mehr ausreicht.

Zuerst müssen wir uns, unser Wissen, unsere Handlungen einer kritischen Überprüfung unterziehen, um sie dann auch von anderen, nicht zuletzt von Autoritäten in ihrem Wissen und ihren Handlungen einzufordern.

Die Grundvoraussetzung dafür heißt aber Vernunft, die sich uns im Wissen und nicht im Glauben offenbart, nicht durch meinungsmachende Autoritäten, sondern aus unseren eigenen Erkenntnissen und Erfahrungen, unserem angeeigneten Wissen, allesamt auf permanentem Austausch mit anderen unter ständiger Überprüfung durch die eigene Vernunft erwachsen. Ich höre schon die Engel singen. „Wenn Du mir nicht glaubst, Du kannst es mit Deinen eigenen Gedanken überprüfen.“ Das war lange vor Google und der unvergessliche Satz eines sympathischen und geistreichen kroatischen Kriegsveteranen, der neben Wahnvorstellungen, Traumata und Alkoholismus auch unter religiösem Fanatismus litt.

Rotti

Hört die Signale bevor es zu spät ist, sollte jede Maturan:tin als Abschluss der Übung gelesen haben.

Fr. 26/04/2024 9:22 Permalink
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