24/08/2021

zeitenweise – 10

Der Tod und das Zeichen II

Die Entstehung von Zeichen im Allgemeinen basiert auf einem bewussten Verhältnis zum Tod. Die Sprache und die Schrift tragen die Zeichen des Todes als eine Ur-Schrift von Beginn an in sich. Der Schrift wird dabei in langer philosophischer Tradition als die leblose Nachahmung des gesprochenen Wortes Unrecht getan.  
       
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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

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24/08/2021

Lilly i met

©: Severin Hirsch

Zweiter Satz:
Der Tod durch die Schrift, das Horusauge und Thoth

(für Matjaž)


„Leben ist nicht so sicher wie der Tod.“

(Pierre Teilhard de Chardin,
Die Entstehung des Menschen.
München 2006. S. 125.)

„Vor einem Grab bleibt immerhin der Trost,
dass man vorbeischauen kann, auf einen halben Dialog.“

(Mathias Grilj, So geht Leben. Graz 2008. S. 20.)

Das letzte Mal sprachen wir (besser in einem halben Dialog als einem Monolog) über den Tod als das Zeichen, das in der Reflexion der eigenen Endlichkeit – als das Todesbewusstsein schlechthin – die Öffnung hin zur Möglichkeit jeder Form menschlicher Kultur schafft. In diesem Sinne wird der Tod zu etwas Zeichenhaftem, Symbolischem, der Lebenssphäre entrissen und zur Triebfeder von Kultur(en). Das Todesbewusstsein als Enträumlichung und Entzeitlichung des realen Aktes (des Sterbens) ist Kultur. Der Tod ist omnipräsent, er ist die Ur-Schrift, die den Ursprung der Menschheit beschreibt, die Spur, die auf die Anfänge der Kultur verweist – eine Spur freilich, die sich seit dem Beginn der Geschichte der Menschheit verzweigt, in der Evolution von Kultur (und der kulturellen Zeichen) differenziert. Die Bewegung dieser Ur-Schrift, die Differenzierung in eine Noosphäre (der Bereich des Denkens und der Zeichen) und eine Biosphäre (der Bereich des biologischen Lebens) wird bei Derrida durch einen orthographischen Eingriff in Form eines „a“s in den Begriff der différance (statt différence) eingeschrieben, als nicht-einfacher Ursprung menschlichen Lebens in einem Zustand zwischen Aktivität und Passivität. Das „A“ (als Majuskel) der différance in Form einer Pyramide ist das Grabmal, das den Beginn der Menschheit bezeichnet.  Die Differenz (différance) beginnt schon am/als Ursprung zu wirken. Das Ende schreibt sich in den Anfang ein.
Das Ende ist sicher. Einzig und allein die Anfänge liegen im Verborgenen. Zehntausende von Jahren basierte die Überlieferung von Geschichte(n) und Wissen auf Oralität. Der Mythos wiederholte sich in der und durch die Erzählung jedes Mal aufs Neue – Anfang und Ende, Geburt, Tod und Wiedergeburt, wie die Jahreszeiten eingebunden in die Kreisläufe des Lebens. Mit der Erfindung der (alphabetischen) Schrift veränderte sich das Weltbild grundlegend. Auf dem Weg zum Logos wurde die wandelbare Zirkularität des Mythos zugunsten einer linearen Ausrichtung der Welt durchbrochen. Das lebendige Wort, an den Körper gebunden, dem Leben, der Natur, der Mutter verbunden, verlor an Gehör und wurde linear, patriarchalisch, ideologisch. Das Leben wird durch die Linearität der Schrift einer weiteren Ökonomisierung unterworfen, einer weiteren Ökonomie des Todes, durch die Schrift wird das Zeichen konserviert und festgelegt. Das Zeichen hat so einen Weg gefunden, den Tod zu überwinden, indem es sich den Tod eingeschrieben hat. Durch die Form der Schrift, die von Beginn an auch als  ideologisches und politisches Werkzeug gehandhabt wurde (im Sinne der Vereinheitlichung der Sprache allgemein, der Vereinheitlichung verschiedener Mythen zu diversen heiligen Schriften, der Vereinheitlichung von Gesetzen, der Vereinheitlichung von Geschichten hin zu einer Geschichte usw.), bekamen nun auch die Männer ein Heilmittel in die Hand, das ihr Überleben über den Tod hinaus als semiologische Spur sichern konnte. Mit der Schrift als Auslagerung (und Sammlung, Vereinheitlichung) des Gedächtnisses, des Wissens, beginnt auch der rasante Fortschritt der Menschheit, die Ökonomisierung von Arbeitsbereichen, die Linearisierung der Zeit, die Rationierung von Lebensmitteln – die Schrift (als externer Speicher) und die Speicher- /Kornkammer gehören der gleichen Entwicklung an. Die Sprache, die Rationalisierung, die Schrift, die Kornkammer, die Pyramide, die Stadt, sie alle können nur als Antizipation des Todes gedacht werden – als dessen Aufschub und dessen Vorwegnahme zugleich.
In der philosophischen Tradition herrscht seit den antiken Griechen eine große Skepsis gegenüber der Schrift, dem geschriebenen Wort, selbst wenn nur Sokrates dies konsequenterweise umsetzte. In der logozentrischen Präsenzphilosophie gilt das Wort als rein, lebendig, beseelt, originär, gegenwärtig, immateriell, es spricht zu anderen, während die Schrift die gesprochene Sprache doubliert, persifliert, nachahmt, durch materielle, atem- und seelenlose Zeichen zu ersetzen versucht, zudem dialogunfähig ist. Sie ist Zufluchtsort vor dem Leben, virtueller Raum, Aufschub des Anderen, frei von Widerspruch. Dabei wird gerne jener Umstand maskiert, dass etwas wie die Ur-Schrift immer schon in die menschlichen Entwicklungsprozesse eingeschrieben ist, mit der ersten Geste, die sich vom eigenen Körper losgelöst hin zum Anderen bewegte, losgelöst auch von der eigenen Erfahrung, von Raum und Zeit, transportierbar, übersetzbar, interpretierbar, schafft sie einen jenseitigen gemeinsamen Raum. Die Sprache schon schafft eine eigene Erkenntnisstruktur, ein eigenes Ordnungssystem, Vereinheitlichung und Verallgemeinerung, indem sie die Außenwelt rationalisiert. Die Schrift ist nur die logische Fortsetzung dieser Entwicklung, sie verbindet Mund und Ohr (als gesprochenes Wort) mit Hand und Auge (als Geste, als Zeichnung, als Werkzeug). Sie ist Vereinfachung und Vorsorge hinsichtlich immer komplexerer Gesellschaftsstrukturen und den damit einhergehenden Anforderungen. Sprache und Schrift sind vor allem aufgrund einer Notwendigkeit entstanden, das menschliche Überleben (auch in spiritueller Hinsicht) zu gewährleisten. Die Schrift ist kein Medium, das das Wort korrumpiert (es ist der Mensch selbst), sondern vielmehr das Heilmittel, das pharmakon, das das Wort festschreibt und bezeugt (kein Wunder also, dass kaum einer der gegenwärtigen Politikschaffenden zu schreiben bereit ist, lässt sich Geschriebenes doch schwer zurücknehmen oder umdeuten).
Im Osirismythos verliert Horus im Kampf um die Thronfolge mit seinem Bruder Seth sein linkes Auge (den Mond). Bezeichnenderweise ist es Thoth, der Gott des Mondes, der Magie, der Wissenschaft, der Weisheit, der Erfinder der Schrift, der es wieder heilt. Er, der als Mond, als Schrift, als Dunkelheit nur vom Licht des Anderen (der Sonne, des gesprochenen Wortes, des göttlichen Gesetzes) zehrt, bringt die Heilung, das Heilmittel, die Vermittlung zwischen dem für das menschliche Auge zu helle Licht (dem wahren Wort Gottes) und der absoluten Dunkelheit (dem rein vegetativen Leben). Er bringt den Tod als Zeichen, als Ur-Schrift ins Bewusstsein und wird zum Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits. Er schafft Magie durch Worte, eröffnet einen Raum als Virtualität, der uns unser biologisches Leben überwinden lässt, in dem sich Unausgesprochenes sagen lässt, erschafft eine geistige Welt allein aus Zeichen, einen Ort der Poesie, an dem sich Tod und Leben begegnen und wiederholt erlebbar werden. Betrachte den Mond und schmecke die Tränen ob der Endlichkeit der einzigartigen Welten, ohne dich in deiner Trauer zu vergraben, der Unendlichkeit zu verlieren.   
„Vielleicht gibt es im Sprechen eine wesentliche Zusammengehörigkeit zwischen dem Tod, der endlosen Fortsetzung, und der Repräsentation der Sprache durch sich selbst. Die gegen die schwarze Wand des Todes gerichtete Form der unendlichen Spiegelung ist vielleicht wesentlich für jede Sprache von dem Moment an, da diese nicht länger spurlos verschwinden will. Nicht erst, seitdem man die Schrift erfunden hat […]. Es ist eher so: Etwas im Hintergrund der Schrift – den Raum eröffnend, in dem sie sich ausdehnen und festigen konnte, ist wohl etwas entstanden, […] das für uns gleichsam eines von mehreren großen ontologischen Ereignissen der Sprache darstellt: ihre Spiegelung des Todes, ihr Nachdenken über ihn, und davon ausgehend die Bildung eines virtuellen Raumes, in dem die Sprache die unbegrenzte Möglichkeit ihres eigenen Bildes findet und in dem sie sich unendlich repräsentieren kann; wo sie schon hinter sich selbst zurückgehen und über sich selbst hinausgehen kann.“ (Michel Foucault, Die Sprache, unendlich. In: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I. 1954-1969. Frankfurt am Main 2001. S. 343f.)
   

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