25/01/2022

zeitenweise – 14

Von einem neuerdings erhobenen vorwurfsvollen Ton in der Gesellschaft: Agonie und Spaltung

Die andauernde Pandemie hält uns einen gesellschaftlichen Spiegel vor. Mittlerweile wird vermehrt vor einer Spaltung der Gesellschaft gewarnt. Dass aber eine solche Spaltung schon vor der Pandemie existierte, scheint kaum jemandem bewusst zu sein.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

25/01/2022

a new thought

©: Severin Hirsch

Von einem neuerdings erhobenen vorwurfsvollen Ton in der Gesellschaft: Agonie und Spaltung

„Was sich différance schreibt, wäre also jene Spielbewegung, welche diese Differenzen, diese Effekte der Differenz, durch das ‚produziert‘, was nicht einfach Tätigkeit ist. Die différance, die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen nicht etwa in einer einfachen und an sich unmodifizierten, indifferenten Gegenwart voraus. Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name ‚Ursprung‘ nicht mehr zu.“ (Jacques Derrida, Die différance. In: Ders., Die différance. Ausgewählte Texte. S. 110-149. S. 123.) Die Verschiedenheit, die Verschiedenartigkeit, der Unterschied, die Unterscheidung, die Andersheit, die Andersartigkeit steht am Anfang der Menschheit: sich selbst als unterschiedlich zum Anderen, als Individuum in einer Außenwelt und einer Gemeinschaft, als Subjekt der Handlung, als Protagonist/in der eigenen Geschichte, als selbständiges Denken in einem Unterschied zu den körperlichen Bedürfnissen, als präsentes Lebendiges im Verhältnis zur Präsenz des Todes/der Toten zu erkennen, markiert einen Punkt in der biologischen Entwicklung, der gleichermaßen als Spaltung wie als Öffnung betrachtet werden kann – Faltung und Entfaltung des Raumes und der Zeit, Verräumlichung und Verzeitlichung. Durch diesen Spalt, diese kleine Öffnung im biologischen Kreislauf dringt ein Lichtstrahl als Reflexion des Anderen, der Andersartigkeit, der uns in unserer endlichen Einzigartigkeit erstrahlen lässt. Das All-Eine. Mit allem eins und doch allein. „Wir werden in die Welt geworfen – nackt, unbeholfen, schutzsuchend. Omphalos, der Nabel als Zentrum unseres jeweiligen Universums, ist ein Relikt, der uns an unsere (Ver-)Bindung zur Außenwelt wie auch unsere Erblindung selbiger gegenüber, an unsere Position in der Erbfolge menschlicher Errungenschaften erinnern lässt.“ (Karen Hieblau, Zen-Buddhistische Übungen in Achtsamkeit als Einbindung ins Raum-Zeit-Kontinuum. München 1983. S. 23.)

Derzeit wird häufig über die Spaltung in der Gesellschaft gesprochen, ausschlaggebend dafür ist die Debatte um die Impfung gegen das Corona-Virus. Die Mehrheit der Verfechter/innen der Spaltungstheorie schlägt sich dem sehr differenzierten Lager der Impfgegner/innen und – skeptiker/innen zu. Dabei vergessen wir, dass wir – als Gesellschaft wie auch als Individuum – immer schon gespalten sind. Der Moment der Bewusst-Werdung, das Erlangen von Bewusstsein, vom Bewusstsein seiner selbst ist bereits der erste Moment einer unaufhaltsamen Spaltung, der in sich differenzierte und differierende Ursprung, die nicht-volle, nicht-einfache différance. Das Bewusstsein ist die Spaltung vom nackten Leben, vom reinen Werden und verantwortlich dafür, dass wir Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, überhaupt den Begriff der Freiheit und etwas wie Selbstbestimmung erlangen können. „Im Reflexionsraum wird das gesamte menschliche Dilemma choreographiert. Das Drama der Freiheit – denn nach wie vor sind wir durch unsere Körperlichkeit und deren Zwänge und physischen Grenzen determiniert – findet auf einer raum- und zeitlosen Kulisse statt, denn sobald eine Entscheidung zur Handlung wird, manifestiert sie sich in einer unaufhebbaren Sphäre des Physischen und löscht den Freiheitsbegriff aus.“ (Bernd Schwartner, Das Paradoxon der Freiheit. Ulm 2002. S. 238.) Inwiefern können wir nun davon ausgehen, dass sich ausgerechnet in diesem Hier und Jetzt unter dem Deckmantel der Pandemie eine unüberwindbare gesellschaftliche Spaltung ereignet?

Es ist unbestreitbar, dass die politischen Entscheidungen einen Teil der Bevölkerung vom öffentlichen Leben – und somit aus der Gemeinschaft und der Gemeinsamkeit – ausschließen, um damit den Gang zur Impfung zu beschleunigen bzw. zu erzwingen. Ich halte die Impfpflicht für eine zu drastische und übertriebene Maßnahme, die allenfalls die Fronten verhärten lässt und einen besonnenen, konstruktiven Dialog unmöglich macht. Wenn Argumente nicht mehr greifen, keine Überzeugungsarbeit mehr geleistet werden kann, wird der Zwang als letztes Ass im Ärmel ausgespielt – ein bewährtes Mittel totalitärer Systeme, um Gleichheit und Gleichstellung herbeizuführen. Der Grat zwischen einer vermeintlichen „Rettung“ und dem Untergang der Gesellschaft ist ein schmaler, die Aggression wächst. Mittlerweile muss man sich als Impfbefürworter/in mitunter anhören, ein verkommenes Sprachrohr rigider politischer Instanzen zu sein, mit denen man in einem Verhältnis unreflektierten Gehorsams steht, ein/e blinde/r Hörige/r des Kapitalismus. Unerhört. Wir sollten annehmen, dass beide Seiten Gründe für ihr Handeln haben, ohne dafür Vorschriften zu benötigen. Auf die Frage, was sich Claude Simon unter der Aufgabe des Schreibens vorstelle, antwortete dieser: „Sie besteht im Versuch, einen Satz zu beginnen, ihn fortzuführen und ihn zu beenden.“ (Jean-François Lyotard, Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis. Wien 2010. S. 19.) Am Beginn einer Entscheidung steht die Freiheit, sich auf bestimmte Art und Weise zu positionieren und so zu einer Handlung werden zu lassen. Sobald die Entscheidung zur Handlung (und somit auch zur Haltung) wird, fällt die Freiheit weg, die Handlung entfaltet sich in der Außenwelt, greift ein, wird begriffen, und zieht Konsequenzen nach sich. Das bedeutet, einen Satz zu Ende zu führen. Damit wird er diskutierbar und bezieht auch andere mit ein in die Sprache, was gleichzeitig heißt, dass die Konsequenzen nicht nur mich, sondern auch andere betreffen. Als handelnde Individuen sind wir in eine Welt eingebundene Singularitäten, und die Konsequenzen unserer Handlungen und Haltungen sind Fortsetzungen aus einer Geschichte, einer Tradition, einer Kultur, einer Sozialisierung in eine ungewisse Zukunft. Jede Position schafft Oppositionen, jede Handlung Spaltungen. Die Kürzung von Sozialleistungen, die Reduktion von Betten und Personal im Gesundheitswesen, die Ökonomisierung/Privatisierung sozialer und öffentlicher Institutionen hat uns in die (Not-)Situation gebracht, die uns die Pandemie vor Augen hält. Als dies geschah, waren die Proteste – wie bei vielen politischen Entscheidungen zugunsten der besitzenden Klassen – jedoch überschaubar. Warum also wird gerade jetzt von „Spaltung“ gesprochen? Haben die Flüchtlingsströme, die religiösen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte uns nicht gespalten? Hat der Balkankrieg keine tiefen gesellschaftlichen Gräben und Umstrukturierungen hinterlassen, deren Ausuferungen sich heute in Bosnien abermals abzeichnen? Für wen machen wir uns stark, für wen setzen wir uns ein? Und wer sind „wir“ als Gesellschaft, als Gemeinschaft? „Der ausufernde Glaube moderner Nationen an die Gemeinschaft, an die Gemeinsamkeiten, verliert sich in einem ideologischen Konstrukt, das uns glauben machen möchte, es handle sich um mehr als eine zeitlich bedingte Zweckbeziehung. […] Der postmodernen Theorie ist es zu verdanken, diese Form der Gnosis in die Form der Kenosis, der absoluten Sinnentleerung und Entäußerung ideologischer Wertigkeiten, zu überführen und so die Funktionsmechanismen derartiger Konstrukte zu veranschaulichen.“ (Urs Lützli, Krawalle und Hiebe. Prolegomena zu einer gewaltlosen Kriegsführung. Zürich 2014. S. 813f.)       

Glauben sie nicht alles, was sie hören oder lesen. Nicht alles, was sich als wissenschaftlich fundierter und sorgfältig recherchierter Beitrag zu einer Kulturgeschichte oder anderen Wissensgebieten ausgibt, hält auch der Beweislast stand. Die Postmoderne hat uns gelehrt, dass Grenzen da sind, um sie zu verwischen, dass Geschichte aus Geschichten erfunden und konstruiert wird und die Spaltung die notwendige und originäre Differenz ist, um das Denken im Spiel der Differenzen – als Denken der Andersheit – entstehen zu lassen.   

 

 

 

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