24/05/2019

Öffentliche Buchhaltung

Seit 25 Jahren sind offene Bücherregale – ausgehend von Mainz – Standard in europäischen Stadträumen geworden.

Emil Gruber erkundet das Phänomen in Graz schon jahrelang.

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24/05/2019

Lesbar Schillerstraße

©: Emil Gruber

Bücherbox Floßlendplatz

©: Emil Gruber

offene Bibliothek Volksgarten-Pavillon

©: Emil Gruber

Bücherzelle Hofbauerplatz

©: Emil Gruber

Bücherregal Heinrichstraße

©: Emil Gruber

Tauschbörse Muchargasse

©: Emil Gruber

Eines der Lieblingsfundstücke des Autors: 'Vorbildlich Wohnen', IV, Ende der 1970er Jahre

©: Emil Gruber

Bilden Sie mal einen Satz mit: “lesbisch”!
Und als die ersten Hörer grollten und schon den Saal verlassen wollten,
da sprach der Dichter ungerührt: ”Ich lesbisch euch der Arsch abfriert”.
(Robert Gernhardt)

Alles begann in Mainz. Die Idee war einfach aber einfach gut. Für den Kultursommer 1994 bauten die amerikanischen Künstler Michael Clegg und Martin Guttmann zwei außer Funktion gestellte Stromverteilerkästen um und befüllten sie mit Lesestoff. Die ersten offenen Bücherschränke Europas waren in Betrieb.

Jede(r) von uns kann davon ein Gedicht erzählen. Von Büchern und Zeitschriften, die seit vielen Jahren in unseren Bücherregalen, in Schachteln auf Kellern und Dachboden ein unaufgeblättertes Dasein fristen. Mit den offenen Bücherschränken wurden aber mittlerweile neue Kapitel aufgeschlagen, Licht auf Druckerschwärze geworfen. Die einzige Bedienungsanleitung für Freilandbuchhaltung, der aber auch nicht buchstabengenau zu folgen ist, lautet: Nimm eines, gib eines. Nimmst Du mehr, gib mehr. Immer gut gefüllte Tauschbörsen sind ein erklärtes Ziel.

Das Gratis-Escort Service: „Fremdleser*in sucht gut erhaltene Lektüre für gemeinsame Tage und Nächte“ wurde nicht nur in Mainz ein Soforterfolg. Bald begann sich diese Idee in andere Städte auszubreiten. Fünfundzwanzig Jahre später sind offene Bücherregale ein Standard im Stadtraum geworden. Allein für Graz werden über 80 Stellplätze angegeben. Sie sind vor Hauseingängen an den Durchzugsstraßen zu finden. Sie stehen in Parks, vor Kirchen und am Rand der Märkte. In manchen öffentlichen Gebäuden verkürzen freigelassene Bücher das Warten auf den zuständigen Beamten. Hinterhöfe und Gemeinschaftszentren von Wohnanlagen können Bücherspeicher beherbergen. Lokale haben Tauschboards installiert. Einkaufszentren nutzen ein leeres Eck. Selbst private Geschäfte bieten fallweise als Kundenlockstoff zur regulären Ware ein auszulesendes Selbstbedienungsplatzerl an.

Der Architektur der Entnahmestellen ist keine Vorgabe gesetzt. Zwar dominieren klassische Regale die Szene. Aber neben in die Jahre gekommenen Eigenbauvarianten, Ikea-Auslagerung oder rasch gezimmerten pragmatischen Einlegebatterien gibt es auch kunstvoll Entworfenes und Gewagtes. Allen Lese-Gefäßen geht eine genaue Studie des Platzes voran. Witterungsschutz hat oberste Priorität. Gute Sichtbarkeit und nahe Parkmöglichkeiten (für die immer wieder vorkommenden Großspender wie Büchereien, die ihre Lager erleichtern) sind andere Standortentscheidungskriterien. Ideal für alle Anforderungen sind die in ihrer ursprünglichen Funktion immer unwichtiger werdenden Telefonzellen. Sie zeigen sich – innen umgebaut - von einer anderen Seite: Statt Mund und Ohr dominieren Hirn und Auge.

Eine kleine Gruppe von Enthusiasten sorgen bei vielen Depots für regelmäßigen Nachschub, warten aus der Form geratene Objekte und führen online Buch über das Werden und Vergehen von Standorten. Neben den guten Geistern gibt es aber auch dunkle Mächte. Manchmal werden nicht nur Bücher sondern auch gleich ganze Regale mitbenommen. Bereits dreimal verschwanden Regale in der Heinrichstraße. Mittlerweile sind dort wie auch auf anderen Standorten besondere Sicherungen am Objekt festzustellen. Immer wieder sind auch Totalleerungen über Nacht festzustellen. Besonders wenn größere Flohmärkte sich ankündigen. So manches Gratisbuch wird dann plötzlich wieder käuflich… 

Sieht man von dieser literarischen Kleinkriminalität ab, funktioniert das System Druckwerkfreigänger hervorragend. Der Autor selbst konnte über die Jahre schon sehr viele Bananenschachteln mit ungenutztem Lesestoff neuen Leseratten (damit das Nagetier wieder einmal auch mit etwas Positivem verbunden wird) zuführen. Umgekehrt wurden Schätze gefunden, die das persönliche Leseherz erfreut schlagen ließen. Geben und Nehmen haben ihre guten Seiten.

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